M. Alberti: Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau

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Titel
Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939-1945.


Autor(en)
Alberti, Michael
Reihe
Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien. Bd. 17
Erschienen
Wiesbaden 2006: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
574 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Die Forschungen zur deutschen Besatzungsherrschaft in Osteuropa haben in den letzten Jahrzehnten rapide Fortschritte und qualitative Sprünge gemacht, seitdem die vor Ort erhaltenen Quellen zugänglich sind und auch deutsche Forscher die in dortigen Sprachen veröffentlichten Studien auswerten - hier also polnisch. Dem Reich angegliedert wurden 1939 die Gaue Danzig-Westpreußen und Warthegau, aber nur im letzteren und hier vornehmlich im Osten gab es zahlreiche Juden. Michael Alberti füllt so mit seiner Freiburger, bei Bernd Martin entstandenen Dissertation von 2001, die leider nachfolgende Literatur nur noch selektiv aufnahm, nicht nur diese Lücke. Soweit der Rezensent (des Polnischen nicht mächtig) feststellen kann, ist ihm auch eine bislang unübertroffene Zusammenfassung der Vorgänge in diesem Gau gelungen. Der Warthegau bildete in manchem eine Möglichkeit zum "Experimentierfeld" (S. 33) oder "Einexerzieren" (so Gauleiter Arthur Greiser, S. 85) für den Gesamtvorgang des Genozids an den dortigen Juden. Damit stellt die Arbeit wichtige Quellen und Blicke auch insgesamt für den Weg in die "Endlösung" bereit.

Alberti setzt mit einem sehr instruktiven Überblick über die Historie des erstmals als territoriale Einheit geschaffenen Warthegaus seit dem Ersten Weltkrieg ein. Insbesondere für die (neben Posen) größte Stadt Lodz mit großer polnischer, jüdischer und auch deutscher Bevölkerung gibt er einen Abriss über das problematische Zusammenleben bereits vor 1939. Mit dem Einmarsch der Deutschen wurden Juden zunächst unter der Militär-, dann unter der Zivilverwaltung umgehend entrechtet. "Antipolnische und antijüdische Ressentiments entluden sich in einer kriegerischen Auseinandersetzung geradezu explosionsartig".1 (S. 47) Mit der Besetzung Polens und damit der Einrichtung des Warthegaus wurde angestrebt, dieses Gebiet von Juden und Polen durch Abschiebung ins Generalgouvernement für Volksdeutsche frei zu machen. Immerhin wuchs die (volks-)deutsche Bevölkerung im Warthegau während des Krieges von circa 325.000 auf eine Million Menschen an. Bereits für die Anfänge dieser Umsiedlungspolitik wurden Ghettos gebildet - überall im östlichen Wartheland oft kleinere, aber auch größere in Mittelstädten wie Kutno. Über diese Vorgänge war bislang hierorts kaum etwas bekannt. Am wichtigsten wurde hier Lodz, das nach dem dort im Ersten Weltkrieg siegreichen General Karl Litzmann umbenannt wurde. In Litzmannstadt lebten circa 233.000 der insgesamt 400.000 Juden des Warthegaus.

Die Geschichte dieses Ghettos bildet einen zentralen Strang der Arbeit.2 Anfang 1940 als Übergangsform zur Austreibung eingerichtet, erwies sich das Ghetto als dauerhafte Einrichtung, da die Abschiebung in ihren wahnwitzigen Größenordnungen und ihrem Tempo ins Generalgouvernement selbst mit den unmenschlichen NS-Methoden nicht klappte und Hans Frank in Krakau sich weigerte, mehr Menschen aufzunehmen. Obwohl bis Sommer 1941 die Vertreibung von Juden und Polen als Mittel einer sich radikalisierenden Volkstumspolitik galt, schuf die allgemeine Ausplünderung von Juden in den Ghettos neue Zwänge, zumal zur Ernährung der nun von ihren bisherigen Ressourcen abgeschnittenen Menschen. Zur Auspressung und Ausplünderung trat die Zwangsarbeit. Das war das eine, aber die Produktivität im Ghetto Litzmannstadt unter dem Judenältesten Chaim Rumkowski, der vom deutschen Ghettoverwalter Hans Biebow beaufsichtigt wurde, war das andere.

In der Folge entstand eine bereits zuvor häufig an der Person Rumkowski festgemachte Debatte über die Möglichkeit des Überlebens durch für die Deutschen nützliche Arbeit. Unter den unmenschlichen Repressionsbedingungen ließen sich nicht nur die selbst geschaffenen Zwänge zur Unterhaltung des Ghettos mindern, sondern sogar Gewinne erwirtschaften. Eine Bedingung dafür war jedoch, dass die Arbeitsfähigen bessere Lebens- und Versorgungsbedingungen gegenüber den "Nichtarbeitsfähigen" erhielten, was 1941 einen Denkhorizont förderte, nach dem diese Menschen zur Tötung freigegeben wurden. Der Bau des Vernichtungslagers Chelmno/Kulmhof in 55 Kilometern Entfernung, in dem schließlich bis Mitte 1943 mindestens 150.000 Menschen umgebracht wurde, war die Folge. Während im gesamten ehemaligen Polen aber 1942 die meisten Ghettos durch Mord aufgelöst wurden und auch das Wartheland "judenfrei" gemacht wurde, entwickelte sich unter Biebow und Rumkowski allein das Ghetto Litzmannstadt zu einer außergewöhnlichen Produktionsstätte kriegswichtiger Güter - fast schon zum Albert Speerschen Rüstungsbetrieb. Erst 1944 wurde auch dieses durch Deportationen nach Auschwitz und durch massenhafte Ermordungen aufgelöst.

Alberti berichtet diese Vorgänge in der nüchternen Sprache politischer Geschichte. Er rekonstruiert auf allen Ebenen die Verantwortlichkeiten, Rivalitäten und Machtkämpfe. Aus den selektiven Überlieferungen aller Seiten ermittelt er Denk- und Handlungshorizonte der Deutschen. Er vermag zu zeigen, dass selbst geschaffene Notlagen vor Ort - zumal bei den Deportationen von Juden bzw. Polen innerhalb des Gaus, aber auch nach Osten, ebenso wie bei der Einsiedlung von Volksdeutschen von Bessarabien bis zu Schwarzmeerdeutschen - geschaffen wurden, welche letztlich durch Massenmord "behoben" wurden. Er macht innerhalb der deutschen Hierarchien vor allem Gauleiter Greiser kenntlich, der aus einem Horizont der allgemeinen Ermächtigung Ende 1941 in Chelmno das erste Vernichtungslager betriebsbereit einrichten ließ. Insbesondere die Radikalisierung der Politik Hitlers, aufgrund der seit September 1941 auch Reichsdeutsche in den Osten deportiert wurden, ließ auch im Ghetto Litzmannstadt, wohin 20.000 von ihnen gelangten, gleichsam das Fass zum Überlaufen bringen - sprich: nationalsozialistische "Sachzwänge" in Richtung Massenmord erzeugen. Diese Rekonstruktion des regionalen Horizonts auf dem Weg zum Genozid ist vielleicht der spannendste (und natürlich bedrückendste) Beitrag der Untersuchung.

Alberti kann für viele Vorgänge um Ausplünderung, Massenerschießungen und Massenmorde die Vielzahl von unterschiedlichen Motivationen und Handlungsrationalitäten der Akteure rekonstruieren. Freilich stößt auch er hier an die Grenzen der Quellenüberlieferung, die er mit einer jeweils klugen und nachvollziehbaren Interpolation der "wirklichen" Motivationen und Gründe nachvollziehbar macht: "Vermutlich", so heißt es bei ihm oft, sei es so gewesen, habe diese oder jene Besprechung mit dieser oder jener Entscheidung stattgefunden. Es stört, dass er sich auf frühere eigene Deduktionen zumeist mit dem Attribut "bekanntlich" zurückzieht; es gefällt aber, weil er den einheitlichen Handlungshorizont aller Institutionen - vom Gauleiter über die SS und die Volksdeutschen, von einzelnen Akteuren in und um die Ghettos oder in Lodz selbst deutlich macht. Die Rivalitäten auf Reichsebene und die regionalen bzw. örtlichen Vorgänge werden in einer Vielzahl von Facetten klar erfasst und dargelegt. Anders als in anderen Gebieten, bekam Heinrich Himmler im Warthegau bis kurz vor Kriegsende nicht die entscheidenden Hebel der Macht in die Hand. Die "zivilen" Instanzen und zumal Gauleiter Greiser rücken somit in ein neues Licht eigener - und nach ihrer jeweiligen Rationalität nachvollziehbarer - Handlungen auf dem Weg zum Genozid. "Die entscheidenden Schritte zum Judenmord ergaben sich aus einem ständigen Wechselspiel zwischen strategischen Planungen in Berlin und Initiativen an der Peripherie. [...] Zur Verwirklichung des Judenmords bedurfte es nicht unbedingt höherer Befehle. [...] Ein Führerbefehl war daher für die Entwicklung im Warthegau letztendlich entbehrlich."(S. 535f.). Schnell wechselnde Konstellationen, aufgehobene Entscheidungen, neue Anläufe und Initiativen führten bei radikal inhumaner Grundgesinnung zum Ergebnis des Genozids. Wie wichtig die Vorreiterrolle des Warthegaus in diesem europaweiten Vorgang war, erfahren wir in nie gekanntem Detail und in großer Plausibilität von Michael Alberti.

Anmerkungen:
1 Gleichzeitig erschien: Böhler, Jochen, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt am Main 2006.
2 Löw, Andrea, Juden im Ghetto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006. Diese Studie konnte auf Albertis Manuskript zurückgreifen, geht jedoch eher von der Ghettobevölkerung aus und ist auf dieser Ebene gleichfalls sehr innovativ.

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