J. Meyer-Aurich: Entstehung der ersten politischen Parteien in Paraguay

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Titel
Wahlen, Parlamente und Elitenkonflikte: Die Entstehung der ersten politischen Parteien in Paraguay, 1869–1904. Ein Beitrag zur Geschichte politischer Organisation in Lateinamerika


Autor(en)
Meyer-Aurich, Jens
Reihe
Studien zur modernen Geschichte 59
Erschienen
Stuttgart 2006: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Potthast, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Obwohl sich fast alle lateinamerikanischen Staaten nach Erlangung der Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Republiken und somit zumindest formale Demokratien konstituierten, galt eine Untersuchung von Wahlen und Parteien lange Zeit als überflüssig, da die Verfassungen zumeist nicht beachtet wurden, Wahlen manipuliert und von gewalttätigen Auseinandersetzungen begleitet waren. Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass Wahlen, trotz ihrer Defizite, einen wichtigen Beitrag zur Mobilisierung und Politisierung breiterer Bevölkerungsschichten geleistet haben. Für Paraguay scheint diese These nicht zuzutreffen, denn das Land wurde, trotz gelegentlicher Wahlen im 19. Jahrhundert, weitgehend autoritär regiert, durch einen verheerenden Krieg gegen seine Nachbarn (1864-1870) politisch und sozio-ökonomisch zerstört und erlebte dann eine Phase politischer Liberalisierung, die ab den 1940er-Jahren wiederum in diktatorische Regime mündete. Allerdings existieren in Paraguay seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zwei Parteien, die bis heute das politische Leben bestimmen. Es stellt sich daher die Frage nach ihren Entstehungsbedingungen und den Faktoren, die ihre Langlebigkeit und Bedeutung erklären. Diese zu beantworten, ist das zentrale Anliegen der Dissertation von Meyer-Aurich. Darüber hinaus bettet der Autor seine Untersuchung in die zumeist am europäisch-nordamerikanischen Vorbild entwickelten Theorien zur Entstehung von Parteien ein. Der Autor arbeitet vor allem mit dem klassischen Ansatz von Maurice Duverger, da sich dieser als besonders geeignet erwies, berücksichtigt aber auch andere Theorien.

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die Tatsache, dass sich die Entstehungsbedingungen der beiden paraguayischen Parteien nicht von denjenigen in Europa unterschieden, es sich mithin um ein Zusammenspiel von parlamentarischen Gruppen und Wahlkomitees oder -clubs handelte, die sich in einer bestimmten Situation zu einer dauerhaften und umfassenderen Einheit zusammenschlossen. Allerdings spielten bei den Wahlen in Paraguay, anders als in Europa, inhaltliche Fragen kaum eine Rolle. Gewählt wurde aufgrund persönlicher Loyalitäten, strategischer Allianzen oder des Charismas eines Kandidaten, ein Aspekt, der, wie der Autor zu Recht bemerkt, für die Wahlforschung zu Europa und den USA bislang zu wenig beachtet wurde. Hier könnte die lateinamerikanische Debatte für die europäische Forschung fruchtbringend einbezogen werden.

Die besonders große Bedeutung „caudillistischer“ Elemente in Paraguay liegt darin begründet, dass die Parteien hier keine unterschiedlichen sozialen Gruppen repräsentierten, da die klassischen Konfliktlinien zwischen Staat und Kirche, Kapital und Arbeit oder Agrar- und Industriewirtschaft hier nicht vorhanden waren. In diesem Punkt unterscheidet sich Paraguay von den meisten anderen lateinamerikanischen Staaten, nicht jedoch in dem Umstand, dass auch hier der Kreis der „mündigen Staatsbürger“, auf denen die liberalen Verfassungen basierten, sich auf eine kleine städtische Elite beschränkte. Allerdings war deren Anzahl aufgrund der sozio-ökonomischen und demographischen Zerstörungen des Krieges in Paraguay besonders klein. Trotz eines allgemeinen männlichen Wahlrechtes, das keinerlei Einschränkungen im Hinblick auf Besitz oder Alphabetisierung unterlag, blieb Politik eine Angelegenheit weniger gebildeter Männer, die darüber hinaus auch die Bereiche, die man heute als „Zivilgesellschaft“ bezeichnen würde, dominierten. Die Gründung der Parteien, so legt Meyer-Aurich überzeugend dar, erfolgte in Paraguay daher nicht aufgrund des Drängens einer ausgeschlossenen Gruppe von Beherrschten, die an der Macht teilhaben wollten, sondern aufgrund eines Konfliktes innerhalb der Elite selbst.

Worin bestand nun dieser Konflikt? Die paraguayischen Parteien sehen immer wieder die Haltung ihrer Mitglieder zu dem umstrittenen Präsidenten Francisco Solano López und ihre Rolle im Krieg als einen entscheidenden Faktor an. Dieser These zufolge hätten sich die „Nationalisten“, die an der Seite des Diktators kämpften, vor allem in der Asociación Nacional Republicana (ANR, besser bekannt als Colorados, das heißt die „Roten“) gesammelt, wohingegen diejenigen, die auf Seiten der Alliierten kämpften und zumeist im argentinischen Exil gelebt hatten, sich in dem Centro Democrático (CD oder Azules, die „Blauen“) zusammengeschlossen hätten. Diese These, die allerdings schon 1993 von Paul H. Lewis eindeutig widerlegt worden ist, hält sich in den politischen Auseinandersetzungen bis heute hartnäckig. Dieses Ergebnis von Meyer-Aurich ist also nicht so neu, wie er den Leser glauben macht, allerdings widerlegt er Lewis Erklärung der Spaltung der Elite durch einen Generationenkonflikt. Und Meyer-Aurich erläutert, warum sich die Vorstellung von den „nationalistischen“ Colorados und den „unpatriotischen“ Liberalen bis heute so hartnäckig hält.

Der Konflikt innerhalb der insgesamt liberal gesinnten Oberschicht trat auf, als der Kreis derjenigen, der zu der Elite zählen konnte, aufgrund der allmählichen Erholung von den Kriegsfolgen anwuchs, die zur Verfügung stehenden Ämter jedoch nicht, und diese zudem von einer gut vernetzten Gruppe um Präsident Bernardino Caballero immer stärker monopolisiert wurden. Die ausgeschlossene Gruppe sah sich somit gezwungen, zur Erlangung von Ämtern – und damit Macht und Pfründen – ebenfalls ein stabiles und landesweit operierendes Netzwerk aufzubauen. In einer ausführlichen Analyse legt der Autor dar, dass sich die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Partei weder auf einen ideologischen Konflikt, eine bestimmte Haltung zur nationalen Geschichte, eine Generation oder einen Klassenkonflikt zurückführen lässt, wohl aber eine Korrelation zwischen der Nähe zur Regierungspartei und der Ausübung eines staatlichen Amtes festzustellen ist. Wer schon über ein wichtiges politisches Amt verfügte, organisierte sich vorwiegend in der Regierungspartei, wer sich vom Zugang zu solchen Ämtern ausgeschlossen fühlte, im Centro Democrático. Die ideologischen Unterschiede beschränkten sich daher im Wesentlichen auf eine stärkere Betonung von staatlicher Autorität und innenpolitischer Ruhe als unerlässliche Basis für den Fortschritt auf Seiten der Colorados und stärkerer Betonung von Freiheit und Demokratie auf der anderen Seite.

Die Langlebigkeit und die starke Bedeutung der Parteien auch für breitere Kreise der Bevölkerung entwickelte sich daher in den folgenden Jahren nicht aufgrund sich verschärfender ideologischer Konflikte, sondern aufgrund der Tatsache, dass die Parteien patriarchalische Schutz- und Hilfsfunktionen für ihre Mitglieder übernahmen und es schafften, die Loyalität durch emotionale Bindungen zu erhalten. Diese wurde durch eine gemeinsame Geschichte von Siegen und Niederlagen, Märtyrern und Symbolen geschaffen, die bis zum Krieg und den Diktatoren des 19. Jahrhunderts vorverlegt wurden. „Das Fundament der beiden traditionellen paraguayischen Parteien ist demnach in Wahrheit kein politisches, es ist ein überwiegend pseudohistorisches. Abgesehen von den zahlreichen sozialen Funktionen, die sie mit den Jahren übernehmen, haben die beiden 1887 gegründeten Parteien wohl nur aus einem Grund so lange überlebt und sind so stark geblieben: weil sie sich über all die Jahre von ihren eigenen Legenden ernährten.“ (S. 310f.)

Die Arbeit von Jens Meyer-Aurich, die auf einer umfassenden Bearbeitung bislang nicht systematisch ausgewerteter Quellen basiert und deren prosopografische Ergebnisse im Anhang umfassend dokumentiert sind, stellt nicht nur einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der politischen Geschichte eines Landes dar, das auch von der Historiographie zu Lateinamerika zumeist kaum beachtet wird, sie ist auch geeignet, unser Verständnis zur Entstehung und Stabilisierung von Parteien zu erweitern, indem strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede gerade am Beispiel eines „außergewöhnlichen“ Falles klarer erfasst werden.

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