M. Dinges (Hrsg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel

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Titel
Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800 - ca. 2000. Medizin, Gesellschaft und Geschichte


Herausgeber
Dinges, Martin
Reihe
MedGG-Beihefte 27
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tilmann Walter, Institut für Geschichte der Medizin, Universität Würzburg

Wissenschaftliche Schlagwörter wie „Gender“ erleben ihren Aufstieg innerhalb kleiner (Forschungs-)Gemeinschaften, Hochphasen der Veralltäglichung und Popularisierung sowie einen absehbaren Niedergang, wenn sie für eine trennscharfe semantische und soziale Distinktion nicht mehr nützlich sind. So informierte jüngst die AOK Baden-Württemberg die Leser/innen ihrer Hauszeitschrift über die Erkenntnisse der „Gender-Medizin“, die sich in den letzten Jahren bemühe, dem psychologischen und physiologischen Unterschied zwischen Männern und Frauen besser gerecht zu werden. Beispielsweise sei das weibliche Herz kleiner und schlage schneller, weshalb Frauen von anderen Herzbeschwerden betroffen seien. Man erinnere sich: In der geschlechterpolitischen und kulturwissenschaftlichen Diskussion meinte „Gender“ das soziale Geschlecht in Abgrenzung vom biologischen (englisch „sex“), wobei die Existenz eines biologischen Geschlechts im Extremfall völlig in Abrede gestellt wurde. Im populären Diskurs um die „Gender-Medizin“ wird der Begriff, wenn auf rein physiologische Unterschiede wie die Größe innerer Organe Bezug genommen wird, in genau gegensätzlicher Bedeutung benutzt. Offenbar ist er mittlerweile weit in den Alltagssprachgebrauch vorgedrungen, hat aber dabei seine analytische Trennschärfe eingebüßt.

Der von Martin Dinges herausgegebene Sammelband „Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800- ca. 2000“ versammelt Beiträge, die aus zwei Tagungen zu diesem Thema, die im Dezember 2004 in Warwick und Oktober 2005 in Stuttgart stattfanden, hervorgegangen sind. Die Verfasser/innen sind in der Soziologie, Psychologie, Psychiatrie und, mehrheitlich, in der (Medizin-)Geschichte tätig. Innerhalb der Medizin mit ihrem naturwissenschaftlich geprägten Menschenbild wurde der männliche Körper stets als die selbstverständlich vorausgesetzte Norm betrachtet, von der der weibliche als „Abweichung“ unterscheidbar war. Während die spezifischen Probleme der weiblichen Fortpflanzungsapparats seit dem Altertum mit größter Sorge beobachtet wurden, fanden spezifisch(?) männliche Gesundheitsprobleme viel weniger Aufmerksamkeit: Noch heute sind junge gesunde Frauen aufgefordert, regelmäßig einen „Frauenarzt“ aufzusuchen, während sich Männer allenfalls ab dem mittleren Alter turnusmäßig zur Krebsvorsorge bemühen sollten, wobei üblicherweise kein eigener „Männerarzt“ die Untersuchung durchführt.

Wie in dem Sammelband die Beiträge von Michael Meuser (S. 73-86) und Torsten Wöllmann (S. 87-86) zeigen, wird aber versucht, an diesem Umstand zu drehen: In unserer entwickelten Konsum- und Marktgesellschaft fragen Männer verstärkt medizinische Angebote nach, die versprechen, Leistungsfähigkeit und Attraktivität zu erhalten oder zu steigern, während der Gesundheitsmarkt auf der Suche nach neuen Abnehmern für kostspielige Dienstleistungen ist. Meuser nimmt anhand von populären Publikationen die in der „Männergesundheitsbewegung“ verkörperte Nachfrageseite in den Blick: Hier wurden früher positiv konnotierte, „typisch männliche“ Eigenschaften wie Aggressivität, Konkurrenz- und Karrierestreben mit einem Mal zu Defiziten, Mannsein zur „Krankheit“ und Männer zu „Opfern der Verhältnisse“ erklärt (S. 79f., 82). Wöllmann thematisiert die Angebotsseite, auf der seit den 1950er-Jahren parallel zur Gynäkologie ein Fachgebiet „Andrologie“ institutionalisiert wurde.

Übereinstimmend wird auf Seiten von Abnehmern wie Anbietern das natürliche, altersbedingte Nachlassen der körperlichen Leistungsfähigkeit als behandlungsbedürftige Krankheit verstanden. Während dem Erhalt oberflächlicher Attraktivität bei Frauen noch immer ein viel höherer Wert beigemessen wird, stehen im Zentrum männlicher Selbstzweifel abnehmende Potenz und berufliche Leistungsfähigkeit; gerade Unfruchtbarkeit ist für Männer Anlass für schwerwiegende Verunsicherung und wirkt, wo sie diagnostiziert wird, als Stigma, wie der Beitrag von Christina Benninghaus vor Augen führt (S. 139-155): Mediziner richteten seit den 1870er-Jahren ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die Unfruchtbarkeit des Mannes, weil sich männliches Sperma im Unterschied zu den weiblichen Eizellen besser für mikroskopische Untersuchungen und die damit einhergehende Profilierung als „naturwissenschaftliche“ Experten anbot (S. 146). Andrologie lässt sich deshalb noch heute tendenziell mit „Spermatologie“ übersetzen, wie Wöllmann übereinstimmend anmerkt (S. 94). Ein Problem war früher die Gewinnung der Spermienproben, da Masturbation bei Männern unter neurologisch-sexologischen Vorzeichen als in hohem Maße gesundheitsgefährdend galt (S. 147).

Michael Stolbergs Aufsatz zur Geschichte des männlichen Klimakteriums (S. 105-121) zeigt, dass in der Diskussion um männliche Alterungskrisen alter Wein in neue Schläuche gegossen wird: Das Altertum kannte ein metaphysisches 7-Jahres-Schema der Lebensalter mit Übergangskrisen, in denen der Mensch als gesundheitlich besonders gefährdet galt. Diese „Klimakterien“ wurden bis in die frühe Neuzeit ebenso Männern wie Frauen zugesprochen (S. 108). Nachdem das Denkmodell mit der Aufklärung eher unpopulär geworden war, wurde das „Klimakterium“ der Frau dann im 19. Jahrhundert wiederentdeckt (S. 113). Der Beitrag von Hans-Georg Hofer beleuchtet die Deutungsgeschichte der „männlichen Wechseljahre“, die eine erste Konjunktur unter neurologischen Vorzeichen am Ende des 19. Jahrhunderts erlebten, eingehend für das 20. Jahrhundert (S. 123-138). Die Sexualendokrinologie der 1920er-Jahre bot ein kausales Erklärungsmodell für die midlife-Crisis bei Mann und Frau an, in dem Probleme des Alterns mit dem Umbau des Hormonhaushalts in diesen Lebensjahren in Verbindung gebracht wurden (S. 116). Schon in den 1920er- und 1930er-Jahren wurde versucht, hieraus mit „Verjüngungskuren“ auf Hormonbasis Profit zu schlagen (S. 128-131).

Demonstriert wird soweit die historische Wandelbarkeit selbst basaler medizinischer Konzepte und Begrifflichkeiten sowie andererseits die Zählebigkeit männlicher Rollenmuster unter den Vorzeichen einer „hegemonialen Männlichkeit“. Lesenswert wirkt der Sammelband vor allem wegen der weiter ausgreifenden Fragen, die neben kulturellen und sozialen auch demographische, volkswirtschaftliche, entwicklungspsychologische, hormonelle sowie – man denke an potentielle Einflüsse des Klimas, der Ernährung und der Beanspruchung durch körperliche Arbeit in einer Agrarwirtschaft – geographische Faktoren mit ins Spiel bringen. Hasso Spode spricht das nature-/nurture-Problem bei der Frage nach dem unterschiedlichen Alkoholkonsum der Geschlechter sogar ausdrücklich an (S. 191-210).

Angesichts des umfassenden und vielschichtigen Themas „Männergesundheit“ besteht in der Tat Anlass und Gelegenheit, das inzwischen recht eng gewordene Korsett kulturwissenschaftlicher Fragestellungen zugunsten einer transdisziplinären Herangehensweise abzulegen.1 Dem Herausgeber Martin Dinges ist dies in der Anlage des Bandes teilweise geglückt, wie die Beiträge zum männlicher Geburtenüberschuss, zur unterschiedlichen Sterblichkeit und Lebenserwartung der beiden Geschlechter bei der Geburt (Alois Unterkircher, S. 53-72) und in verschiedenen Lebensaltern (Andreas Weigl, S. 23-52) zeigen. Auch die zunächst unspektakulär daherkommende Frage, ob es sich bei der höheren Frauenquote unter den Besucher/inne/n von Arztpraxen um eine historische Konstante handelt (S. 295-322), lässt Dinges, ausgehend von aus historischen Quellen synthetisierten statistischen Daten über die unterschiedlichsten (körperlichen, psychologischen, kulturellen und wirtschaftlichen) Erklärungsmöglichkeiten nachdenken.

Ebenso ist Dinges mit seinem Appell (S. 10) beizupflichten, dass komplementär dazu Mediziner/innen und andere im Gesundheitsbetrieb Tätige die Einflüsse des historischen Wandels auf individuelle Gesundheit und diagnostisch festgelegte Krankheitsbilder entschiedener zur Kenntnis nehmen müssten.2 Der Beitrag von Reinhard Lindner über männliche Suizidneigung (S. 377-394) liefert am Ende des Bandes noch ein Negativbeispiel für die im klinischen Alltag üblichen schulmäßigen (hier: psychoanalytischen) Deutungen: Dem stets selbstbewusst vorgetragenen ärztlichen Anspruch nach sind sie universalistisch, in Wahrheit jedoch historisch bedingt. Schon vom Ansatz her macht beispielsweise das Freudsche Denken blind für das zeithistorisch variierende subjektive Erleben verschiedener Alterskohorten: Anders als Freud um 1900 gemäß seinem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis hypothetisiert hat, haben Historiker/innen längst nachgewiesen, dass Rollenkonflikte und Reifungskrisen, wie sie Männer als Söhne und Väter durchleben, keine seit den menschlichen Anfängen invarianten Größen waren.

Auch andere Beiträge sind im Rahmen des Vorhersehbaren geblieben, seien indes der Vollständigkeit halber genannt: Toni Falter stellt vom psychologischen Standpunkt den salutogenetischen Ansatz vor (S. 277-294). Christiane Winkler beschäftigt sich mit den fachlichen Diskussionen um die als „Dysthrophie“ diagnostizierten Gesundheitsprobleme von Kriegsheimkehrern nach dem Zweiten Weltkrieg (S. 157-173) und Sonja Levsen behandelt den Umschwung von der Bierbauchmännlichkeit zum athletischen Männerideal unter Tübinger Corpsstudenten nach dem Ersten Weltkrieg (S. 175-190). Nicole Schweig (S. 211-226), Susanne Hoffmann (S. 243-258) und Jürgen Schmidt (S. 343-358) beleuchten die Gesundheitsaspekte, die in Briefen und Autobiographien zur Sprache kommen. Andreas Weigl diskutiert in einem weiteren Beitrag gesundheitliche Verhältnisse unter älteren Wiener/innen aus der Arbeiterschicht um 1900 (S. 227-241) und Simone Moses betrachtet geschlechterbedingte Unterschiede bei älteren Patient/inn/en der Tübinger Universitätsklinik in der gleichen Zeit (S. 323-341). Martin Lengwiler untersucht Daten der Schweizer Unfallversicherungen im Hinblick auf männliches Risikoverhalten und staatliche Sozialpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg (S. 259-276). Ebenfalls anhand der Schweizer Verhältnisse zeigt Gabriela Imboden die paradoxen Wirkungen der Kastration von Sexualverbrechern hinsichtlich der Zerstörung ihrer körperlichen und Wiederherstellung ihrer psychischen, „willensmäßigen“ Männlichkeit auf (S. 359-376).

Anmerkungen:
1 Die von Dieter Groh geleitete Forschergruppe im Konstanzer SFB „Literatur und Anthropologie“ hat sich vor einigen Jahren ebenfalls um einen solchen Dialog bemüht. Die Ergebnisse sind in zwei Sammelbänden dokumentiert: Kleeberg, Bernhard u.a. (Hrsg.), Die List der Gene. Strategeme eines neuen Menschen (Literatur und Anthropologie, Bd. 11), Tübingen 2001; Kleeberg, Bernhard; Walter, Tilmann; Crivellari, Fabio (Hrsg.), Urmensch und Wissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Darmstadt 2005.
2 Die Bemühungen um eine angemessene Berücksichtigung der historischen Fragestellung in der Psychologie und psychosomatischen Medizin reichen schon Jahre zurück, sind von Seiten der Geschichtswissenschaft aber weitgehend unbeachtet geblieben. Als Einstieg in die Lektüre sei lediglich angeführt: Klotter, Christoph, Adipositas als wissenschaftliches und politisches Problem. Zur Geschichtlichkeit des Übergewichts (Historische Psychologie), Heidelberg 1990.

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