L. Heiligensetzer: Getreue Kirchendiener – gefährdete Pfarrherren

Cover
Titel
Getreue Kirchendiener – gefährdete Pfarrherren. Deutschschweizer Prädikanten des 17. Jahrhunderts in ihren Lebensbeschreibungen


Autor(en)
Heiligensetzer, Lorenz
Reihe
Selbstzeugnisse der Neuzeit
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
X, 331 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Bock, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Lorenz Heiligensetzers Dissertationsschrift ist aus der Mitarbeit am Basler Forschungsprojekt „Deutschschweizerische Selbstzeugnisse (1500-1800) als Quellen der Mentalitätsgeschichte“ hervorgegangen.1 Heiligensetzer knüpft an die Definition von Selbstzeugnissen im Sinne Benigna von Krusenstjerns an und versteht darunter Texte, die von einem „Ich“ verfasst wurden, die ein gewisses Maß an expliziter Selbstthematisierung enthalten und aus eigenem Antrieb entstanden sind.2 In Absetzung zur vorwiegend sozialgeschichtlich orientierten Forschung über den frühneuzeitlichen Klerus 3 stellt Heiligensetzer die Selbstzeugnisse von Geistlichen in den Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses und orientiert sich methodisch stark an Alan Macfarlanes Pionierstudie der Selbstzeugnisforschung aus dem Jahr 1970.4

Erklärtes Ziel der Arbeit ist es, den „Konstruktcharakter frühneuzeitlicher Selbstzeugnisse an den Quellen selbst nachzuweisen“ (S. 290). Deshalb interessieren den Autor im Grunde weniger die Inhalte der erzählten Lebensgeschichten an sich, „sondern auch die Art ihrer Präsentation in Gestalt von Bauprinzipien, Erzählverfahren sowie Schreibintentionen“ (S. 291f.). „Nicht erlebtes, sondern erschriebenes Pfarrerleben“ (S. 32) ist das Hauptthema des Buches. Explizit distanziert er sich dabei von theoretischen Ansätzen des linguistic turn, die Autobiographien lediglich als fiktive Texte unter Ausblendung des Autors betrachten, sondern attestiert Selbstzeugnissen trotz ihres Konstruktcharakters realen Erfahrungsgehalt. Als Quellengrundlage für die Erforschung von Arten der Selbstdarstellung hat Heiligensetzer einen relativ kleinen Korpus von 30 längeren autobiographischen Texten reformierter Pfarrer der Deutschschweiz aus dem 17. Jahrhundert ausgewählt, von denen er sieben einer intensiveren Analyse unterzieht und diese als jeweilige Leittexte unter bestimmten thematischen und methodischen Gesichtspunkten interpretiert.

Dass protestantische Geistliche in der Frühen Neuzeit zu den häufigsten Verfassern von Selbstzeugnissen zählen, die auch ansonsten gern und fleißig schrieben, sieht Heiligensetzer unter anderem in einer hochgradigen Selbstreflexivität dieser Sozialgruppe begründet, die sich auf katholischer Seite so nicht widerspiegelt: Von den 72 bekannten Selbstzeugnissen deutschschweizerischer Kleriker aus dem 17. Jahrhundert stammen nur fünf aus der Feder von katholischen Pfarrern, 47 wurden dagegen von reformierten Prädikanten verfasst (die restlichen 20 vermutlich von katholischen Ordensangehörigen). Auch wird von katholischer Seite das Fehlen einer (legitimen) Nachkommenschaft als dem klassischen Adressaten von autobiographischen Texten für das auffallende konfessionelle Ungleichgewicht in der Überlieferung geistlicher Selbstzeugnisse mitverantwortlich gemacht.

Über viele Dinge schrieben die geistlichen Autobiographen: ihre Familien, Krankheiten, das Wetter, die Weinlese, Erdbeben, Hochwasser, Himmelserscheinungen, Seuchenzüge, Brandfälle und andere zeitgeschichtliche Ereignisse, wobei autobiographische und chronikalische Angaben meist durchmischt auftreten. Den größten Raum in den Selbstzeugnissen nehmen allerdings die Schilderungen über den Pfarrberuf ein, welcher nach der zwinglianischen Reformation erheblichen „Professionalisierungsbemühungen“ (S. 22) unterlag. Die deutschschweizerische Pfarrerschaft rekrutierte sich vor allem aus sich selbst und wies eine geringe regionale Mobilität auf. Als obrigkeitliche Funktionsträger und überwiegend den städtischen Bürgerschaften entstammend übten die Prädikanten eine wichtige Scharnierfunktion zwischen Stadt und Land aus.

In fünf thematischen Großkapiteln ordnet Heiligensetzer seine Analysen und Interpretationen der geistlichen Selbstzeugnisse an und diskutiert darunter auch weitere, in den jeweiligen thematischen Kontext gehörende Aspekte: die Jugend- und Ausbildungsgeschichten (S. 33-76); die Konstruktion der Autobiographien nach normativen Mustern (S. 77-127); die Aussagen zu Karriere und Kollegen (S. 128-178); die leidvollen Beziehungen zur Gemeinde (S. 179-237) sowie die Darstellungen konfessionellen Zusammenlebens am Bodensee (S. 238-288).

In der Darstellung ihrer Jugend- und Ausbildungszeiten griffen die protestantischen Geistlichen auf die typischen Erzählbausteine humanistischer Gelehrtenviten zurück: Die einzelnen Ausbildungsschritte wurden genau dokumentiert, ausgiebiges name dropping im Zusammenhang mit den eigenen Studien betrieben und die Ausbildung als solche im Lebensganzen sehr hoch gewichtet. Darüber hinaus schlug sich der Hang zu akribischem Auflisten und Verzeichnen auch in den Berichten über Familienereignisse und Bewegungen in den Haushaltsbudgets nieder. Die mit dem Pietismus vollzogene Hinwendung zu verinnerlichtem Schreiben lässt sich bei den an äußeren Ereignissen orientierten protestantischen Autobiographien vor dem 18. Jahrhundert noch nicht feststellen.

Das ambivalente Verhältnis protestantischer Pfarrer zum Selbstlob bedingte eine gehemmt positive Selbstdarstellung ihrer Lebensläufe, die sich vor allem wie Abbilder normativer Anforderungsprofile an vorbildliche Prädikanten lesen. Dass die Selbstdarstellungen überwiegend typisiert und wenig persönlich formuliert sind sowie selbstkritischer Passagen zumeist entbehren, mag den mit frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen vertrauten Leser wenig überraschen. Doch zeigt Heiligensetzer auf, dass die Fassade kirchlicher Korrektheit auch gewisse Brüche aufweisen konnte. Einen „Spielraum für alternatives Selbstverständnis“ (S. 126) markieren beispielsweise die Berichte über nichtoffizielle Tätigkeitsbereiche wie Jagen, Schießen, Jugendlieben und Probleme mit der Rolle des Hausvaters.

Wem der Mut zum Selbstlob fehlt, der versucht es mit der Denunziation von Widersachern – auch diese Strategie der Selbstdarstellung war den reformierten Pfarrern bekannt. Mehrfach stellten die Prädikanten sich als Opfer von Anfeindungen ihrer Kollegen dar, denen sie im Gegenzug unlauteres Verhalten, schimpfliche Motive und charakterliche Defizite zuschrieben. Die von Heiligensetzer archivalisch begründete Bestätigung, „dass zwischen Pfarrern der Frühen Neuzeit tatsächlich des öfteren Streit bestand und manche Angehörige des Klerus sich aus kirchlicher Sicht nicht korrekt verhalten haben“ (S. 153f.), mutet etwas banal an: Sind Streit zwischen Kollegen und nonkonformes Verhalten typisch klerikale, darüber hinaus noch typisch frühneuzeitliche Phänomene? Doch auch ihre Beziehungen zu den Gemeindeangehörigen stellten die Pfarrer oft als problematisch und belastend dar. Das Einnehmen einer generellen Opfer- und Leidensperspektive, die sich narrativ auch im häufigen Gebrauch der Schlüsselbegriffe „Kreuz“ und „Trübsal“ manifestiert, identifiziert Heiligensetzer als einen wichtigen Bestandteil der geistlichen Selbstdarstellungen, der mit einer protestantischen Wertschätzung menschlichen Leids korrelierte und die „Diener des Herren“ wiederum in positivem Licht erstrahlen lassen sollte.

Anhand von Selbstzeugnissen reformierter Pfarrer aus gemischtkonfessionellen Territorien kann Heiligensetzer ein nicht „durchgängig konfessionalisiertes Selbstverständnis der Autoren“ (S. 285) nachweisen. Dieses ließ offenbar auch positive oder zumindest neutrale Einstellungen gegenüber Katholiken zu, welches bisweilen von einem „überkonfessionellen Miteinander“ (S. 269) im bikonfessionellen Alltagsleben zeugt.

Durch seine systematischen Vergleiche vermag Heiligensetzer aufzuzeigen, dass die geistlichen Autobiographen sich an einem gemeinsamen Erzählmuster orientierten, das aus einem bestimmten Repertoire an Textbausteinen bestand, welches sie in unterschiedlichen Kombinationen immer wieder anwandten. Da sich trotz verschiedenartiger Karriereprofile der einzelnen Geistlichen eine „weitestgehend gleiche Art der Selbstdarstellung“ (S. 292) identifizieren lässt, stellt Heiligensetzer die plausible These auf, dass sich seine Befunde hinsichtlich eines für die reformierte Geistlichkeit der Deutschschweiz repräsentativen gruppenbezogenen Rollenverständnisses generalisieren lassen. Die Beobachtung, dass einerseits besonders Außenseiter und Sonderlinge, andererseits gerade erfolgreiche Aufsteiger unter den reformierten Pfarrern zur Feder griffen, führt Heiligensetzer zu einer weiteren zentralen These: Die Erfahrung sozialer Mobilität stellte ein Hauptmotiv für die Verschriftlichung der Lebensgeschichten dar.

Lorenz Heiligensetzer selbst möchte mit seiner Studie einen Vorschlag zum methodisch angemessenen Umgang mit Selbstzeugnissen unterbreiten. Dies ist ihm aufgrund seines reflektierten Vorgehens, seiner sorgfältigen Kontextualisierungen der vorgefundenen Inhalte sowie der mustergültigen Analyse der narrativen Strategien und Praktiken geistlicher Selbstdarstellungen sehr überzeugend gelungen. Gleichsam als Nebenprodukt erhält der Leser dabei anschauliche und aufschlussreiche Einblicke in die Lebens-, Denk- und Arbeitswelten eidgenössischer Prädikanten im 17. Jahrhundert.

Anmerkungen:
1 Vgl. die sehr hilfreiche Datenbank unter http://selbstzeugnisse.histsem.unibas.ch.
Aus demselben Projekt ist jüngst erschienen: Piller, Gudrun, Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts, Köln 2006.
2 Krusenstjern, Benigna von, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462-471.
3 Einschlägig: Schorn-Schütte, Luise, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit, Göttingen 1996. Für den Schweizer Kontext bisher einzig die Monographie von: Gugerli, David, Zwischen Pfrund und Predigt. Die protestantische Pfarrfamilie auf der Zürcher Landschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, Zürich 1988.
4 Macfarlane, Alan, The Family Life of Ralph Josselin, a Seventeenth-Century Clergyman. An Essay in Historical Anthropology, Cambridge 1970.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension