A. Bernou-Fieseler u.a. (Hrsg.): Das Konzentrationslager Dachau

Cover
Titel
Das Konzentrationslager Dachau. Erlebnis, Erinnerung, Geschichte. Deutsch-Französisches Kolloquium zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau


Herausgeber
Bernou-Fieseler, Anne; Théofilakis, Fabien
Erschienen
München 2006: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Koch, KZ-Gedenkstätte Dachau

Das Jahr 2005 markierte den vorerst letzten Punkt größerer öffentlicher Aufmerksamkeit für die Geschichte der Konzentrationslager – Interesse, thematische Fokussierung und Erinnerung sind im öffentlichen Gedächtnis stark mit der Wahrnehmung von runden Jahrestagen gekoppelt. Die Gedenkfeiern von 2005 an den großen und kleineren KZ-Gedenkstätten bildeten eine Art Kristallisationspunkt der Erinnerung an die Befreiung und die Geschichte der Konzentrationslager. So wählten die Veranstalter des zweitägigen Kolloquiums an der Ludwig-Maximilians-Universität München bewusst den 29. April, den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau, zur Eröffnung ihrer Tagung. Der vorliegende Band, parallel in Deutsch und Französisch erschienen1, dokumentiert die Vorträge.

Die sechs Sektionen waren als eine Art assoziative Kreisbewegung um das schwer zu fassende Thema Konzentrationslager und Gedenkstätte Dachau angelegt. Diese Schwierigkeit zeigt sich bereits in der Titelwahl. Im Deutschen besteht zwischen dem Einbandtitel und dem Innentitel ein Unterschied: Während die Reihung auf dem Cover „Erinnerung, Erlebnis, Geschichte“ lautet, wird im Innentitel die chronologische Abfolge „Erlebnis, Erinnerung, Geschichte“ gewählt. Hier handelt es sich gewiss nur um einen Satzfehler, doch bei der Anlage der Sektionen findet man eine Entsprechung zur nichtchronologischen Titelwahl: Zuerst geht es um den realen und geistigen Erinnerungsort, dann um eine historiographische Beschreibung der Gruppe der französischen Deportierten, und erst in der dritten Sektion berichten Überlebende von ihren eigenen Erinnerungen an die KZ-Haft sowie vom Umgang mit diesen Erfahrungen. Daran schließt sich eine historiographische Annäherung an das im Sektionstitel so benannte „erste Lager des nationalsozialistischen KZ-Systems“ an.2 Die fünfte Sektion setzt sich mit den Fragen des Erinnerns, Vergessens und Weitergebens auseinander; die letzte Sektion stellt künstlerische Relikte aus den Lagern in den Vordergrund. Das Resümee von François Genton ist im Wesentlichen eine Kurzzusammenfassung der vorgelegten Beiträge und schließt so an die den einzelnen Sektionen bereits vorangestellten Einführungen an.

Interessanterweise wird auch im Resümee die chronologische Abfolge durchbrochen: Die Zeitzeugenbeiträge werden aus dem Tagungsablauf herausgenommen und an den Schluss der Zusammenfassung gestellt. Dies bedeutet hier jedoch keine Hintanstellung, es ist vielmehr das Aufgreifen der Deutung und Mission, die der Überlebende André Delpech als Erfahrung seiner KZ-Haft genannt hat: „Der Respekt vor allen Menschen; vor jedem Menschen, wer auch immer er sein mag.“ (S. 327) Insgesamt zeigt sich hier aber eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit den Überlebenden, ihren Geschichten und ihrer Geschichte. Die Tagung war durch Zeitzeugenberichte gerahmt – zu Beginn trugen SchülerInnen des Lycée français München Ausschnitte aus Joseph Rovans „Geschichten aus Dachau“ vor (S. 17-20), und die Berichte der Überlebenden standen in der Mitte der Tagung (S. 101-131). Leider gibt es aber nur zwei Beiträge, die gezielt nach der Bedeutung der Erinnerung von Überlebenden fragen (Annette Becker, Dachau. Vom Gedächtnis im Lager zum Gedächtnis des Lagers, S. 199-212, und Sarah Gensburger, Der Umgang mit den Erlebnissen in den Konzentrationslagern: Über die Wichtigkeit der sozialen Rahmen des Gedächtnisses, S. 229-256).

Es wäre sinnvoll gewesen, die Zeitzeugenberichte nicht als auratische Solitäre in die Tagung und die Dokumentation zu setzen, sondern dieses Ringen um die Frage nach der Bedeutung der Überlebendenperspektive – mit Primo Levi und Giorgio Agamben gedacht, auch der Ermordeten – enger mit den vorgetragenen Lebensgeschichten zu verknüpfen. Natürlich kann es bei einer Tagung mit Zeitzeugen nicht um eine Dekonstruktion eben dieser Zeitzeugen gehen, aber es wäre durchaus lohnend gewesen, die Frage nach dem spezifischen Erkenntnis- und Gedächtniswert von Zeitzeugenaussagen und ihrem Zeugnischarakter deutlicher zu stellen. Eine stärkere Fokussierung auf die Bedeutung der Überlebendenberichte hätte auch den transnationalen Charakter der Tagung stärker hervorgehoben.

Dieser Charakter zeigt sich bereits im Titel der französischen Ausgabe („Dachau: Mémoires et histoire de la déportation. Regards franco-allemands“). Im Gegensatz zur deutschen Ausgabe wird die Spezifik des französischen Blicks auf die Geschichte der Verfolgung mit dem Begriff der Deportation dort klar formuliert. Bereits in der Einleitung auch der deutschen Ausgabe wird dieses Wort verwandt – der ersten Häftlingsgruppe, den „deutsche[n] Oppositionellen“, wird schon im zweiten Satz eine andere Häftlingsgruppe gegenübergestellt: „Mehr als 200.000 Deportierte aus ganz Europa“ (S. 11). Zahlenmäßig ist dies kein Gegensatz; die deutschen KZ-Häftlinge waren Teil der etwas über 206.000 Häftlinge in den 12 Jahren des Bestehens des KZ Dachau und seiner Außenlager. Aber sprachlich werden sie geschieden. Verbunden sind damit unterschiedliche Vorstellungen über die Gründe und die Bedeutung der Verfolgung. In der Eröffnung (S. 31-34) zeichnen die beiden Organisatoren der Tagung, Anne Bernou-Fieseler und Fabien Théofilakis, die Begriffsgeschichte der Kategorie „Deportierte“ und „Deportation“ nach. Die Universalisierung der NS-Verbrechen im Hinblick auf die jüdischen Verfolgten und die Shoah habe die anderen Opfergruppen, gerade die politisch Verfolgten, an den Rand gedrängt.

Innerhalb Frankreichs habe es ab 1945 eine Trennung der Deportierten in die durch den Widerstand geadelten und die bloß „politisch Deportierten“ gegeben. Diese Grenze sei durch das Legitimationsbedürfnis der Gaullisten und auch der Kommunisten in der Fokussierung auf die Résistance zwar verwischt worden. Im Beitrag von Jean-Marc Dreyfus (Die Aufnahme der deportierten Widerstandskämpfer nach 1945 und ihre Wiedereingliederung in die französische Gesellschaft, S. 83-93) wird aber auch gezeigt, wie durch die Benennung der Vereinigungen der aus den Lagern Befreiten und der Umbenennungen der Opferverbände jeweils eine Neudefinition der einbezogenen und ausgegrenzten Gruppen erfolgte. Dies beschränkte sich nicht nur auf die Eigendefinitionen der Opferverbände, sondern wurde auch von staatlicher Seite bei der Regelung von Entschädigungen und Rentenansprüchen gesetzlich festgeschrieben. So wurde seit 1948 festgelegt, dass es vier unterschiedlich abgestufte Kategorisierungen für Verfolgte gab, die sich eben auch in der Anerkennung durch den Staat in Form von abgestuften sozialen Leistungen auswirkten (vgl. S. 91f.). Diesem Aspekt der französischen Erinnerungskultur hätte im Verlauf der Tagung mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollen. Die Konzepte und Vorstellungen, die sich mit bewusst gewählten Begriffen und Ein- oder Ausgrenzungen von Verfolgtengruppen verknüpfen, würden eine interessante Folie des französischen Eigenbilds der NS-Geschichte liefern. Hinsichtlich der Kategorisierungen von anerkannten und vergessenen Opfergruppen ließe sich auch ein fruchtbarer Vergleich zu den beiden deutschen Staaten ziehen sowie natürlich auch zu anderen Nationen und ihren Mythen zur NS-Geschichte und deren Aufarbeitung.

Insgesamt bietet der Tagungsband Einblicke in grundlegende Themen und Fragestellungen zur Geschichte des KZ und der Gedenkstätte Dachau. Die Vielzahl der Vorträge an nur zwei Tagen hat leider keine Vertiefung ermöglicht; jede Sektion hätte in einer eigenen Tagung behandelt werden können. Der vergleichende Ansatz des deutschen und französischen Blicks auf diesen Ort wird an einigen exemplarischen Punkten gewagt, bleibt aber etwas an der Oberfläche. Dies ist einerseits dem um das Thema mäandernden Aufbau der einzelnen Sektionen geschuldet, andererseits der Breite der verhandelten Themen. Der Band eignet sich weniger als Kondensat der gegenwärtigen Forschung zum Blick auf das KZ Dachau aus deutscher und französischer Sicht; es ist mehr ein Abstecken lohnender Felder. In seiner Zusammenstellung zielt das Buch weniger auf Fachwissenschaftler als vielmehr auf Multiplikatoren und Vermittler. Ausgehend von den in der Tagung benannten offenen Feldern würde man sich weitere, spezifischere Tagungen wünschen, um die Aspekte der Geschichtskultur unter einer durchweg transnationalen Fragestellung weiter auszuloten. Die Tagung von 2005 hat auf jeden Fall gezeigt, dass mit dem 60. Jahrestag der Befreiung gerade nicht schon alles erforscht und gesagt ist.

Anmerkungen:
1 Frz. Ausg.: Bernou-Fieseler, Anne; Théofilakis, Fabien (Hrsg.), Dachau: Mémoires et histoire de la déportation. Regards franco-allemands, Paris 2006.
2 Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Dachau häufig als erstes Konzentrationslager apostrophiert. Es gab in der Phase der so genannten „wilden“ Lager jedoch bereits eine Vielzahl früher eröffnete Konzentrationslager. Die besondere Qualität des am 22. März 1933 eröffneten Konzentrationslagers Dachau liegt dann in seiner Funktion als Dauereinrichtung. Vgl. Zámečník, Stanislav, Dachau-Stammlager, in: Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager, München 2005, S. 233-274, hier S. 234f.

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