H. Berghoff (Hrsg.): Marketinggeschichte

Cover
Titel
Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik


Herausgeber
Berghoff, Hartmut
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
409 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norbert Grube, Institut für Historische Bildungsforschung der PH Zürich

Der von Hartmut Berghoff herausgegebene Sammelband zur Marketinggeschichte enthält eine Auswahl von Referaten, die im Februar 2006 bei der Gründung des Arbeitskreises Marketinggeschichte der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte präsentiert wurden. Das Buch bietet neben einem Vorwort, Personen- und Firmenregistern und einer Einleitung des Herausgebers zwölf Beiträge, wovon sechs eher unternehmensgeschichtlich, drei wissenschaftsgeschichtlich und weitere drei politikgeschichtlich angelegt sind. Für die ertragreiche und methodisch herausfordernde Marketinggeschichte konstatiert Berghoff eine Forschungslücke, die jedoch hinsichtlich des Politikmarketing nicht zu groß sein dürfte. Das neue Forschungsfeld grenzt an die Kommunikationswissenschaft, Sozialpsychologie und Betriebswirtschaftslehre und umfasst innerhalb der Geschichtswissenschaft Teile der Unternehmens-, Medien-, Wissenschafts- sowie der neueren Politikgeschichte. Entsprechend heterogen ist die wissenschaftliche Herkunft der Autoren dieses Sammelbandes.

Wohl angesichts der multidisziplinären Ausrichtung von Marketinggeschichte definiert Berghoff in seiner informativen Überblickseinleitung Marketing recht abstrakt als Kommunikation, als universell anwendbares „Instrument für die bewusste Strukturierung sozialer Beziehungen und die Vermittlung unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilsysteme“ (S. 13). Ausgehend von dieser Definition habe es Marketing bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert gegeben, dieses habe jedoch erst um 1960/70 mit dem Wandel von der Produkt- zur Käuferorientierung einen Verwissenschaftlichungsschub und gleichsam einen take off erfahren. Trotz früher Pioniere aus der Absatzwirtschaft, Psychologie oder Sozialforschung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geriet Europa und speziell Deutschland mit seinem kooperativen Kapitalismus gegenüber den USA bei Methoden und Anwendungen des Marketing in Rückstand, der durch amerikanischen Wissenstransfer nach 1945 sukzessive eingeebnet wurde.

Im Zentrum des Bandes steht demnach die Entwicklungsgeschichte des Marketings. Viele Beiträge widmen sich der Periodisierung dieses Etablierungsprozesses, der trotz Hinweisen auf die Grenzen des Marketings und auf Selbstüberschätzungen seiner Experten auch als „Erfolgsgeschichte“ (S. 39) gekennzeichnet wird. Zwar sitzen die Autoren des Sammelbandes nicht der von Ursula Hansen und Matthias Bode konstatierten einseitigen geschichtslosen „Fortschrittsideologie“ der Marketingwissenschaft (S. 179) auf, doch gerade in dem Beitrag von Hansen und Bode gerinnt Geschichte zur Identitätsstiftung der akademischen Marketinglehre und damit zum history marketing in eigener Sache.

Die hier anklingende lineare Fortschrittsperspektive relativieren zurecht, jedoch eher implizit viele Autoren des Sammelbandes, indem sie eher Wellen oder Schübe und damit teilweise stagnierende und retardierende Phasen von Marketing betonen, das sie zudem häufig als Reaktion auf Krisensymptome der Massenproduktion wie Verteuerungen, Preisverfall, Absatzprobleme oder Verschärfung der weltweiten Konkurrenz deuten. Das galt, so eine gemeinsame Erkenntnis der Beiträge von Roman Rossfeld, Uwe Spiekermann und Tino Jacobs, sowohl für den Schweizer Schokoladenmarkt um 1900 wie für die Agrar- und Ernährungswirtschaft oder den Zigarettenmarkt in den 1920er-Jahren. Auch ein verändertes sozio-kulturelles Umfeld in den 1970er- oder 1980er-Jahren mit Wertewandel, steigendem Umwelt-, Qualitäts- und Preisbewusstsein forderte von bereits etablierten Marketingexperten innovative verbraucherorientierte Kommunikationsstrategien, wie Ingo Köhler in seinem Beitrag über die deutsche Automobilindustrie nachweist.

Dass schon vor der Marketingrevolution um 1970 in den Jahren 1890 und 1920 schubweise Marketing angewandt wurde, verdeutlicht Paul Erker in seinem quellennahen und wirtschaftsgeschichtlich kenntnisreichen Beitrag über die Reifenindustrie, speziell über die Firma Continental. Dieses Unternehmen reagierte ebenso wie der Logistikdienstleister Dachser auf die Segmentierung von Kundenwünschen mit Angebotsdifferenzierungen und setzte gegenüber den Konkurrenten auf Wiedererkennungswert und exklusiven Service. Erker wie auch Rossfeld betonen je branchenspezifische Bedingungsfaktoren für Entwicklungsschübe des Marketings und verweisen damit indirekt auf die Notwendigkeit weiterer unternehmensgeschichtlicher Analysen zur Erforschung von Marketingstrategien und -entwicklungen. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Alexander Engel in seinem Beitrag über das einsetzende Industriegüter-Marketing in der Farbstoffbranche im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert angesichts der Vervielfältigung des Produktangebots durch technische Innovationen. Neben Erfolgen zeigt Tino Jacobs unternehmensgeschichtliche Analyse des Marketings beim Zigarettenkonzern Reemtsma auch Grenzen und Hindernisse der auf Intuition beruhenden Markentechnik von Hans Domitzlaff auf. Dieser frühe "Marketingguru" war zwar an der Entwicklung erfolgreicher Zigarettenmarken wie R 6 oder Ernte 23 beteiligt, doch waren andere unternehmenspolitische Entscheidungen oder Rabattkampagnen effizienter als Domitzlaffs elitäre Markentechnik. Dieser Ansatz beruhte ebenso auf vorwissenschaftlichen Erfahrungen und Beobachtungen wie die Berichterstattung über Absatz und Image von Produkten im 19. Jahrhundert durch Handlungsreisende, deren Aufstieg in unternehmerische Führungspositionen Rossfeld anhand der Schokoladenfirma Suchard verdeutlicht. Selbst in den 1920er-Jahren basierte das Agrar- und Einzelhandelsmarketing trotz Verwissenschaftlichungstendenzen durch die Gründung von Konjunktur- und Marktforschungsinstituten auf Erfahrungen nach dem „try and error“-Prinzip, so der Befund Spiekermanns.

Etwas quer zu den differenzierten und anregenden Befunden der unternehmensgeschichtlichen Beiträge stehen die drei eher traditionell wissenschaftshistorisch ausgerichteten, gleichwohl informativen Aufsätze zur Verwissenschaftlichung der deutschen Marketinglehre, der Käufer- und Werbewirkungsforschung. Sie beschränken sich vorrangig auf Phaseneinteilungen der akademischen Forschungsentwicklung, die mit der unternehmerischen Marketingpraxis nicht immer korrelierte, und vergleichen sie mit voraus laufenden Entwicklungen in den USA. Dominierten in der Marketingwissenschaft der 1950er- und 1960er-Jahre noch eher produktionstheoretische Fragestellungen, kam nach der Erkenntnis von Hansen und Bode vor allem seit den 1970er-Jahren – teilweise im Zusammenhang mit der in den USA entstandenen Konsum- und Gesellschaftskritik – der Verbraucher in den Analyseblick, bevor seit den 1980er-Jahren die Marketingwissenschaft expandierte, auf soziale und ökologische Themen übergriff und sich zugleich spezialisierte. Ähnliches trifft für die 1980er-Jahre auf die akademische Käuferforschung zu, wie Günter Silberer und Oliver Büttner anhand quantitativer Auswertungen von Fachzeitschriftenartikeln belegen. Sie beruhte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf einem Mix von wirtschaftlich-praktischen und akademischen Impulsen wie etwa im Institut für Wirtschaftsbeobachtung der Fertigware der Handelshochschule Nürnberg. Später als in den USA erhielt die Käuferforschung in den 1970er-Jahren methodische und theoretische Anregungen aus der Psychologie und danach auch aus den Kultur- und Geisteswissenschaften, ohne auf diese Disziplinen zurückzuwirken. Noch schwächer fällt nach Ansicht von Silberer und Gunnar Mau, trotz des Wirkens von akademischen Pionieren bis zur Zäsur von 1933, die Etablierung einer scientific community der deutschen Werbewirkungsforschung aus. Sie ist bislang zu sehr auf die Werbetreibenden ausgerichtet und kaum auf Interessen der Verbraucher und Mediennutzer.

Abschließend wird der Blick auf das politische Marketing ausgeweitet. Anders als Silberer/Mau oder Spiekermann betont Alexander Schug die Nutzung werbewissenschaftlicher Erkenntnisse durch die Nationalsozialisten. Demnach, so Schugs vielleicht provozierender Ansatz, seien die Deutschen nicht durch eine charismatische Führerfigur und durch hierarchisch angeordnete Propaganda verführt worden, sondern hätten gleichsam als eigenständige Rezipienten das Werbeangebot der Nazis angenommen. Schugs These findet durch die von Jacobs erwähnte Werbekooperation der Nazis mit Reemtsmas Cigarettenbilderdienst eine Bestätigung. Hier können wirtschafts- und politikgeschichtliche Ansätze und Erkenntnisse zur Marketinggeschichte noch intensiver zusammengeführt werden. Hierzu leistet auch Anja Krukes Aufsatz über die Umfrageforschung als Beobachtungsinstrument des Marktes wie der Öffentlichkeit einen Beitrag. Trotz Nutzung von Methoden der Marktforschung durch die demoskopische Politikforschung wandele sich, so Kruke, Politik durch Nutzung von wirtschaftserprobten Marketingmethoden nicht per se zu einem Konsumgut. Vielmehr hätten sich trotz moralischer Vorbehalte nach 1945 Umfragen in der Politik eher durchgesetzt als die Marktforschung in der Wirtschaft, was mit Blick auf Marktforschungsaufträge etwa von Reemtsma oder Schwarzkopf schon 1949/50 allerdings zu überprüfen ist. Die Eigendynamik des politischen Marketings gegenüber der Wirtschaft betont abschließend Thomas Mergel, der damit eine etwas andere Akzentuierung als Schug setzt. Vorbehalte gegen politische Werbung im 19. Jahrhundert verstärkten sich nach 1945 vor allem bei der SPD. Zwar waren die CDU und die Regierung Adenauer gegenüber Marketingmethoden aufgeschlossener, doch beanspruchten, zumal während der Politisierung und Polarisierung in den 1970er-Jahren, die Politiker das Deutungs- und Kommunikationsprimat. Erst zehn Jahre später wuchs die Bedeutung von Marketing Consultants und von Sympathie- und Imagewerbung im Kontext von Aufmerksamkeitsdefiziten gegenüber institutionalisierter Politik und Vervielfältigung der medialen Strukturen. Mergel tritt auf diese Weise einer gar zu kurzatmigen Medialisierungsthese und Fortschrittsperspektive der Marketinggeschichte entgegen.

Insgesamt erschließen die vielfältigen Perspektiven und Fallstudien der spannenden und gut lesbaren Beiträge wichtige Aspekte der Marketinggeschichte, die jedoch noch weiter konzeptionalisiert werden muss, unter anderem durch einen stärkeren wechselseitigen, verzahnenden Bezug von Unternehmens-, Medien-, Wissenschafts- und Politikgeschichte. Auch die Rezeption des Marketings kommt bislang zu kurz. Eine quellenkritische, konstruktivistische Analyse von Umfrageberichten und Marktforschungsstudien könnte hier ergänzende Impulse schaffen, zumal hierbei neben der Rezeption auch die Generierung von Wissen, die Interaktion zwischen Unternehmern, Politikern, Journalisten, Wissenschaftlern und Experten bei der Gestaltung von Marketing in den Blick rücken.

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