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Titel
Die Machtprobe 1975. Wie RAF und Bewegung 2. Juni den Staat erpressten


Autor(en)
März, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Dahlke, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der 30. Jahrestag des so genannten „Deutschen Herbsts“ ist nah. Nachdem im Jahr 2006 gleich zwei umfangreiche Sammelbände zu verschiedensten Aspekten des Linksterrorismus veröffentlicht worden sind1, scheint es auf den ersten Blick, als wenn kaum noch Neues zu erschließen wäre. Das ist weit gefehlt. Michael März ist es mit seiner 2006 eingereichten und für den Druck erweiterten Magisterarbeit gelungen, wissenschaftliches Neuland zu betreten.

Als Erster hat er im Frühjahr 2007 eine sehr quellenintensive Aufarbeitung zweier terroristischer Anschläge des Jahres 1975 vorgelegt, nämlich der Entführung des Berliner CDU-Landesvorsitzenden Peter Lorenz durch die „Bewegung 2. Juni“ und der wenig später folgenden Besetzung der bundesdeutschen Botschaft in Stockholm durch die RAF. Eine wissenschaftliche – und vor allem quellennahe – Auseinandersetzung hat in beiden Fällen aufgrund der archivgesetzlichen Sperrfristen zuvor noch nicht stattgefunden. So konnte März für seine Recherchen auf Quellen einer Vielzahl deutscher Archive zurückgreifen, die er mit Zeitzeugengesprächen und Dokumenten aus der linksradikalen Szene abzurunden versteht.

Die ambitionierte Arbeit folgt dem Bemühen, die Anschläge „aus der Perspektive der Terroristen und der staatlichen Institutionen [zu] rekonstruieren“ (S. 12). Nach einem knappen Abriss über die historischen Wurzeln des Linksterrorismus in der Nach-68er-Zeit sowie der dazugehörigen Terrorismustheorie, die März als „praktische Form der Ideologie des Anarchismus“ summiert (S. 14), widmet er sich im Hauptteil der Arbeit einer sehr gründlichen und detailreichen Darstellung der beiden Anschläge. Interessant ist, dass März hier je einen Terroristen biographisch vorstellt und so Einblicke in die Dynamik der jeweiligen Gruppe gibt. Im Anschluss werden beide Anschläge vergleichend gegenübergestellt. Dabei ist bemerkenswert, dass März auch schwedischsprachige Literatur und Quellenmaterial des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) mit einbezieht. Abschließend bemüht er sich, in einem eigens entwickelten Zyklenmodell terroristischer Gewalt und staatlicher Reaktion nachzuweisen, dass die beiden Anschläge eine eigenständige „Phase“ des Linksterrorismus zwischen 1972 und 1998 darstellen.

Anhand einer biographischen Einführung zum Mittäter Ralf Reinders erläutert März ausführlich die Entwicklung und Vorgeschichte der Lorenz-Entführung. Die Schilderung der Ereignisse während der Entführung ist sehr gut lesbar. Streckenweise erscheint die Übernahme von Angaben der Zeitzeugen jedoch etwas vorbehaltlos. Ausgesprochen kurz fasst sich März im Hinblick auf die Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern sowie auf bestehende Krisenreaktionsstrukturen wie die seit der ČSSR-Krise 1968 ausgearbeiteten Einsatzpläne „Schwalbe“ und „Pinguin“ des Bundesministeriums des Innern.2 März kommt zu der erstaunlichen Erkenntnis, dass es „für die Bildung der Krisenstäbe [beim Bundeskanzler] keine gesetzlichen Grundlagen [gab], als Institutionen waren sie auch nicht im demokratischen Sinne legitimiert“ (S. 43, vgl. auch S. 119). Dabei übersieht März erstens, dass die Bildung von Stäben wie des „Ministergremiums für besondere Lagen“ durchaus in der aus dem Grundgesetz abgeleiteten Organisationskompetenz des Bundeskanzlers liegt, und zweitens, dass diese Krisenstäbe formaljuristisch nur „beratend“ tätig waren. Rechtskräftige Beschlüsse haben solche Gesprächsrunden beim Bundeskanzler nie gefasst; deshalb benötigten sie auch keine eigene gesetzliche Grundlage. Die wirklich rechtskräftigen Entscheidungen (z.B. Gefangenenbefreiung) trafen die betroffenen Landesregierungen und Fachminister, zumal in West-Berlin nach dem Viermächteabkommen ohnehin nur die Alliierten und der Senat, nicht aber Bundesbehörden politische Entscheidungen treffen konnten.

Auch die fast minutiöse Schilderung der Ereignisse in Stockholm ist sehr ereignisnah und lässt den Leser förmlich „mit dabei sein“. Anhand der Biographie des RAF-Terroristen Karl-Heinz Dellwo und einiger anderer Akteure zeigt März die Strukturen und Vorüberlegungen zum Anschlag in Stockholm auf. Auch für die staatliche Seite hat März einige bemerkenswerte Details herausgefunden. So mussten nach der Entscheidung des deutschen Krisenstabs unter Bundeskanzler Schmidt, nicht in das Geschehen einzugreifen und mit den Terroristen nicht direkt zu verhandeln, die eigens eingeflogenen GSG9-Beamten wieder abreisen (S. 99). Die seit langem diskutierte Frage, ob die durch das Nichthandeln der Bundesregierung überraschten RAF-Terroristen sich letztlich selbst in die Luft sprengten oder der Sprengsatz durch den Polizeieinsatz der schwedischen Sicherheitskräfte gezündet wurde, vermag auch März nicht abschließend zu klären.

Der Vergleich der Anschläge ist insofern besonders reizvoll, als in beiden Fällen die Freilassung von Gefangenen erreicht werden sollte. März gelingt es, das Profil der hinter der RAF historisch fast verschwindenden „Bewegung 2. Juni“ herauszustellen. Er versteht es auch, Abhängigkeiten, Kontakte und Abgrenzungsbemühungen zwischen den beiden Gruppen aufzuzeigen. Insgesamt fördert dieses Buch neben einer grundlegenden Erschließung von Ereignisgeschichte viele Erkenntnisse über linksterroristische Strategien zutage, aber auch über Grenzen ihres Handelns in den mittleren 1970er-Jahren. Zudem ist anzuerkennen, dass März durch ausführliche Einbeziehung der Entwicklungen im MfS für sein Thema die häufige Forderung nach einer gesamtdeutschen Geschichtsschreibung einlöst.

Während die Darstellung der terroristischen Seite, die weitgehend auf Autobiographien und Befragungen der damaligen Täter gestützt ist, ein überzeugendes, wenn auch kaum überprüfbares Bild ergibt, fällt die Untersuchung der staatlichen Seite etwas schwächer aus. März räumt selbst ein, dass das Vorhaben, die Arbeitsweise der Krisenstäbe zu rekonstruieren, aus Quellenmangel aufgegeben werden musste (S. 13). Diese wenigen und nur schwer zugänglichen Dokumente zu beschaffen hätte wohl auch den Zeitrahmen der ohnehin reiseintensiven Magisterarbeit gesprengt. Angesichts der besonderen Sprachkenntnisse des Autors ist es zudem bedauerlich, dass März keine schwedischen Archivquellen heranzieht und auch nur wenig auf die Entscheidungsprozesse der letztlich auf sich allein gestellten schwedischen Regierung unter Olof Palme eingeht. Dies wäre vielleicht für eine Folgearbeit interessant, weil es eine transnationale Sicht auf ein damals länderübergreifendes Phänomen ermöglichen würde. Diskussionswürdig ist, dass sich März in seinem abschließenden Analysekapitel sehr weit vom eigentlichen Untersuchungsgegenstand des Jahres 1975 entfernt. Seinem Ziel der größeren Abstraktion ist das zweifelsohne zuträglich. Umgekehrt wirken die Darstellungskapitel streckenweise sehr detaillastig. Dies erfordert etwa bei der konsequenten Namensnennung fast aller „Nebendarsteller“ ein sehr konzentriertes Lesen.

Leider machen die vom Verlag vorgegebenen Endnoten das Buch für den wissenschaftlichen Gebrauch eher unhandlich. Offenbar wurde hier der Versuch unternommen, wissenschaftlicher Literatur ein größeres Publikum zu verschaffen. Dies drückt sich auch in der zuweilen stark dramatisierenden Sprache aus („Menschenjagd“, „es peitschten Schüsse“, S. 84f.; „unvorstellbarer Kugelhagel“, S. 131) sowie in einer teils unscharfen Wortwahl („allgemeiner Terrorismus-Begriff“, S. 14; „der Staatsapparat“, S. 40). Die Internetwerbung des Verlags verspricht zudem „ein brutal klares Bild von politischem Fanatismus“.3 Dies mag den akademischen Leser eher irritieren, tut der wissenschaftlichen Leistung des Autors aber Unrecht. Denn Michael März ist es gelungen, eine in die Tiefe gehende Darstellung zweier bisher unbeleuchteter terroristischer Anschläge zu erarbeiten. Die Vielzahl an Funden in unterschiedlichsten Archiven ist ein Wegweiser für künftige Arbeiten zur historischen Terrorismusforschung. Diese Monographie zeigt einmal mehr, dass herausragende Magisterarbeiten angesichts stetig steigender Ansprüche an Quellenintensität und analytische Durchdringung ihre Berechtigung auf dem wissenschaftlichen Buchmarkt haben können.

Anmerkungen:
1 Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006; Weinhauer, Klaus; Requate, Jörg; Haupt, Heinz-Gerhard (Hrsg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt am Main 2006 (rezensiert von Sonja Glaab: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-136>).
2 Vgl. hierzu vor allem: Scheiper, Stephan, Der Wandel staatlicher Herrschaft in den 1960er/70er Jahren, in: Weinhauer; Requate; Haupt, Terrorismus in der Bundesrepublik, S. 188-216.
3 <http://www.forumverlagleipzig.de/frame-inhalt/buecher/politik/p-machtprobe.htm> (25.7.2007).

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