P. Brandt u.a. (Hrsg.): Handbuch Verfassungsgeschichte

Titel
Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert - Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel. Bd. 1: Um 1800


Herausgeber
Brandt, Peter; Kirsch, Martin; Schlegelmilch, Arthur
Erschienen
Anzahl Seiten
1224 S.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke John, Historisches Institut, Philosophische Fakultät, Universität Rostock

Der erste Teil eines auf vier Bände angelegten Handbuchs zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert behandelt mit dem Zeitraum zwischen der Französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen die Ursprünge des modernen Konstitutionalismus. Das Gesamtprojekt orientiert sich an einem Ansatz, der die nationalen Grenzen überwindet und die Zusammenführung von sozialer Strukturgeschichte und politisch-staatlicher Entwicklung, von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit ermöglichen soll. Die Schwierigkeit bei der Umsetzung eines solchen Vorhabens besteht vor allem darin, wie dieser länderübergreifende und gesellschaftsgeschichtlich geöffnete Verfassungsbegriff letztlich operationalisierbar gemacht werden kann. Die Herausgeber Peter Brandt, Martin Kirsch und Arthur Schlegelmilch entschieden sich hier nicht für den direkten Weg einer direkten typologisierenden Analyse, sondern wählten den Zwischenschritt eines systematischen Ländervergleichs, der auch Russland (Michail Dmitrievič Karpačev) und das Osmanische Reich (Gülnihal Bozkurt) einschließt. Damit tragen sie nicht zuletzt der Tatsache Rechnung, dass die historische Transfer- und Komparatistikgeschichte sich bislang vor allem auf den sozial- und kulturhistorischen Bereich erstreckte und ihre Perspektiven in der Verfassungsgeschichte erst allmählich wieder Raum greifen. 1 Dieses länderspezifische Untersuchungsverfahren birgt zweifelsohne die Gefahr, die Geschichte des europäischen Konstitutionalismus im nationalen Sinne zu interpretieren und eine Analyse zu erarbeiten, die wiederum nur die Summe nationaler Fälle ergäbe. Um dies zu vermeiden, liegen daher den Länderbeiträgen zwölf abstrahierende Vergleichskategorien zugrunde. Zum Analyseraster zählen im Einzelnen die Kategorien: Territorium, Verfassungsstruktur der zentralen staatlichen Ebene, Wahlrecht und Wahlen, Grundrechte, Verwaltung, Justiz, Militär, Verfassungskultur, Kirche, Bildungswesen, Finanzen, Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung/Öffentliche Wohlfahrt. Alle zwölf Vergleichskategorien erfüllen eine Brückenfunktion. Sie berücksichtigen sowohl die spezifischen Legitimitäts-, Partizipations- und Ordnungsanforderungen der Moderne als auch die noch weit ins 19. Jahrhundert reichenden vormodernen und traditionellen Bedeutungszuschreibungen für Verfassungen. Dies entspricht zum einen in besonderer Weise dem Darstellungsraum um 1800, der als eine Periode extrem verfassungspolitischer Verdichtung und Beschleunigung sowie äußerst vielfältiger und widersprüchlicher Entwicklungen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu behandeln ist. Zum anderen ist es den Autoren auf diese Weise überhaupt erst möglich, sämtliche europäische Staaten in den Vergleich mit einzubeziehen, und zwar unabhängig davon, ob im Untersuchungszeitraum bereits eine Verfassung im modernen Sinne existierte oder nicht. Außerdem können spätere nationale Verfassungsstaaten wie beispielsweise Ungarn (Gábor Pajkossy), Italien (Werner Daum) oder Norwegen (Peter Brandt, Otfried Caika) in ihrer Genese erfasst werden, wobei nicht alle im 19. Jahrhundert gegründeten Nationalstaaten, wie beispielsweise Griechenland und Belgien, bereits im ersten Band ein eigenes Kapitel erhalten.

Ausgenommen von der länderspezifischen Analyse sind der Bereich der Staats- und Verfassungstheorie und die Bedeutung der US-amerikanischen Staatsgründung für die europäischen Entwicklungen. Um die überstaatlich geführten Theoriediskurse nicht auf die Einzelstaaten zurückführen zu müssen, steht daher am Anfang des ersten wie auch der folgenden Handbuchbände ein Kapitel über das europäische Verfassungsdenken, das nicht nur die verfassungspolitischen Klassiker würdigt.

Für die Durchsetzung des monarchischen Konstitutionalismus als üblicher europäischer Verfassungstypus im 19. Jahrhundert zeigt das Handbuch darüber hinaus eine Reihe neuer Perspektiven und Einsichten auf, wie die folgenden ausgewählten Beispiele verdeutlichen sollen. In Abgrenzung zu älteren Forschungen wird betont, dass eine Kontinuität ständischer Repräsentationen zu modernen parlamentarischen Vertretungen im Verfassungsstaat in Europa die Ausnahme blieb. Neben Großbritannien und Schweden werden Polen und Ungarn genannt.

Dem immer noch starken Anklang findende und einzige typologische Erklärungsmodell zur Grundrechtsgeschichte, das vom britischen Soziologen Thomas Humphrey Marshall Ende der 1940er-Jahre entwickelt worden ist, wird die konkrete Grundrechtssituation in den europäischen Staaten um 1800 entgegengesetzt. Die Entwicklung des westlichen Wohlfahrtsstaates erscheint genau betrachtet demnach nicht mehr als eine Abfolge von bürgerlichen (persönlichen) Grundrechten des 18. Jahrhunderts, politischen Rechten des 19. Jahrhunderts und der Verwirklichung der sozialen Grundrechte in der demokratischen Industriegesellschaft, sondern widerspiegelt eher ein Überlappen aller drei Bereiche. Ob sich eine Revision der bisherigen stufenförmigen Grundrechtstypologie auch für andere Epochen empfiehlt, sollen die noch folgenden Bänden zeigen.

Im Bereich der Verfassungskultur kann das zweigeteilte Schema von revolutionierten Teilen Europas und den von Revolution und Krieg weniger oder gar nicht betroffenen Ländern mit Blick auf Mentalitäten, Symboliken und öffentlichen Debatten einer Korrektur unterzogen werden. Gegenüber einer ökonomistischen bildungspolitischen Typisierung in Bezug auf die Industrielle Revolution werden die sozialintegrativen Entwicklungslinien des europäischen Bildungswesens im Zuge der zahlreichen Staatsgründungen dieser Zeit hervorgehoben. Die Argumente dafür stützen sich wiederum auf die Länderbeiträge, unter anderem auf die Beispiele Großbritannien (Gottfried Niedhardt), das in dieser Zeit seine Führungsposition im Elementarschulbereich einbüßte oder die deutsche Bildungsexpansion, die auf staatliche Initiative noch vor der wirtschaftlichen und politischen Expansion einsetzte. Angefochten werden auch kurze Analogieschlüsse von der Staatsform eines Landes auf seine Rechtsordnung. So wies die polnische Verfassung von 1791 (Berit Pleitner, Eva Tenzner) zwar einen hohen Modernitätsgrad in Bezug auf parlamentarische Strukturen aus, fällt jedoch in der Entwicklung der Justizstrukturen hinter die absolutistisch regierte Habsburgermonarchie (Arthur Schlegelmilch) zurück. Dieses Urteil wird durch vier wesentliche Reformkriterien nachvollziehbar: die Fixierung älteren Rechts und Kodifizierung eines neuen einheitlichen und gleichen bürgerlichen Rechts, die Schaffung einer einheitlichen Justizorganisation, die Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive und den Aufbau von Kontrollstrukturen in Bezug auf exekutives und legislatives Handeln. Bezüglich des Militärwesens gelten die konstitutionellen (Militärhoheit) sowie die emanzipatorisch-bürgerrechtlichen Dimensionen (levée en masse und Wehrpflicht) als Gradmesser des modernen Verfassungsstaates.

Deutlich werden auch die verfassungsgeschichtlichen Transferprozesse zwischen den einzelnen Ländern, beispielsweise in Wahlrechtsfragen oder in Bezug auf eine starke, wenn auch graduell unterschiedliche Rezeption des französischen Verwaltungsmodells als Orientierungsmaßstab wie als Kontrastfolie. Mit seinem von oben nach unten durchstrukturierten Präfektursystem, das die Selbstverwaltungsbefugnisse der Gemeinden marginalisierte und die Professionalisierung des Personals forcierte, wird seine Durchsetzungsfähigkeit im Kontext moderner Staatsbildung begründet, aber auch den militärischen Auseinandersetzungen und hegemonial- und bündnispolitischen Kontakten des expandierenden Frankreichs zugeschrieben. Gegenüber den kontinentaleuropäischen Ländern stellte das britische Self-government, das wiederum den preußischen Staatsreformen (Peter Brandt, Kurt Münger) als Vorbild diente, seine Beharrungskraft eindrucksvoll unter Beweis. Als stabil und traditionsverhaftet erwiesen sich demgegenüber auch die Administrationssysteme der skandinavischen Staaten.

Neben interpretatorischen Ansätzen wird so auf dem Weg einer Sammlung und systematischen Zusammenführung von Material, die durch Schaubilder, Tabellen, Karten und Diagramme sowie eine Quellenedition auf CD-ROM 2 unterstützt werden, ein beachtliches Wissen verfügbar. Nützlich ist auch eine Auswahlbibliographie im Anhang, nicht so das Sachregister mit seinen überbordenden Seitenzahlangaben. Insgesamt lösen Herausgeber und Autoren ihr Versprechen ein, dass mit Hilfe des Handbuchs komparative und transfergeschichtliche Forschungen von einem bequemeren Niveau begonnen werden können, als wenn sich der Einzelne erst in die jeweilige nationale und europäische Verfassungshistoriographie einarbeiten müsste.

Anmerkungen:
1 Fenske, Hans, Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn u.a. 2001; Reinhard, Wolfgang, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999; Dippel, Horst (Hrsg.): Constitiutions of the world from the late 18th century to the middle of the 19th century. Sources on the rise of modern constitutionalism, München 2005ff.; Wolloweit, Dietmar; Seif, Ulrike (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, München 2003.
2 Brandt, Peter; Kirsch, Martin; Schlegelmilch, Arthur (Hrsg.), Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Teil 1: Um 1800, Bonn 2004. Vgl. auch http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-066.