B. Weiler: Die Ordnung des Fortschritts

Cover
Titel
Die Ordnung des Fortschritts. Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der "jungen" Anthropologie


Autor(en)
Weiler, Bernd
Anzahl Seiten
524 S.
Preis
€ 36,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Oberhuber, Universität Wien

Kultur ist einer der „schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind“. Dieser für Niklas Luhmann ungewöhnliche Ausbruch außertheoretischen Temperaments bezieht sich auf die problematische Karriere des Kulturbegriffs als gesellschaftlicher Selbstbeschreibungsform just in jener Periode, die sich Bernd Weiler in seinem Buch „Die Ordnung des Fortschritts“ zum Thema genommen hat. Weiler folgt den Transformationen in der Semantik der Kultur durch die Geschichte der Anthropologie von ihrer frühen Formationsphase in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit. Als Leitfaden durch das Buch dient insbesondere die Frage nach dem in den untersuchten Wissensformationen angelegten Zeit- und Entwicklungsbegriff. So habe die junge Anthropologie zunächst das Fortschrittspathos der im Aufschwung begriffenen Naturwissenschaften übernommen und in universale, kulturevolutionistische Stufentheorien übersetzt. In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts sei eine allgemeine antievolutionistische Wende gefolgt, die ihrerseits durch ein ambivalentes Verhältnis von Universalismus und Relativismus gekennzeichnet gewesen sei. Dieses zeichnet Weiler in Fallstudien zur von Franz Boas begründeten US-amerikanischen Cultural Anthropology sowie zur Wiener Schule der Ethnologie nach.

Das vorliegende Buch beruht auf der Dissertation des Autors, die im Februar 2004 unter dem Titel „Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der ‚jungen‘ Anthropologie. Ein Beitrag zur Ideengeschichte und Wissenssoziologie“ an der Karl-Franzens-Universität Graz angenommen wurde. Die im Untertitel zum Ausdruck gebrachte, zweifache disziplinäre Selbstverortung charakterisiert präzise den Ansatz der Arbeit. Zum einen leistet Weiler eine strukturelle Rekonstruktion der zentralen theoretischen Grundannahmen, Fragestellungen und Probleme der untersuchten Autoren. Zum anderen betrachtet er Wissenschaft als soziale Figuration in einem bestimmten historischen Kontext und lenkt den Blick auf die polemischen Einsätze der Protagonisten, auf ihre biographischen Erfahrungen, ihre treibenden Hoffnungen sowie auf jene Ereignisse, welche als Hintergrundfolie für den Erfolg bestimmter Ideen maßgeblich waren.

Seinem Temperament und Erkenntnisinteresse nach erweist sich Weiler in dieser Arbeit primär als Historiker, der den geschichtsphilosophischen und normativen Fragen, welche seinen Gegenstand antrieben, agnostisch gegenüber steht. Wer Orientierung in den zeitgenössischen Gefechten um Aufklärung und Postmoderne, Menschenrechte und Pluralismus, Multikulturalismus und Selbstbehauptung, Globalisierung und deren Kritik sucht, wird bei Weiler nicht fündig. Hier wird aus der Beobachterposition eines kühlen historischen Bewusstseins ein Stück Archäologie der Gegenwart betrieben, das sowohl auf Ebene der Theorie als auch in der Form der Narration auf große Synthesen verzichtet. Die Darstellung bleibt nahe an den Texten und Ereignissen: eine Zeitreise durch den Scherbenhaufen vergangener Zukünfte, welche zu Meditationen und Assoziationen Anlass gibt, ohne selbst abschließend Position zu beziehen.

Im ersten Kapitel unternimmt Weiler eine Rekonstruktion jenes geistigen Milieus, aus dem sich die erste Generation der Anthropologie größtenteils rekrutierte, wobei er das Augenmerk insbesondere auf die polemische Abgrenzung der „exakten“ Naturwissenschaften von der früheren Naturphilosophie sowie von den Geisteswissenschaften legt. Begriffe wie „ideengeschichtlicher Akteur“ oder „Forschungsethos“ markieren das zentrale Interesse dieser Untersuchung an der idealtypischen Unterscheidung von Wissensformationen, wobei insbesondere auch deren „Hoffnungen und Werte“ sowie treibende „außerwissenschaftliche Erwartungen“ in den Blick genommen werden. Die Nähe am Material und an der Sprache der Zeit, wie sie durch ausführliche Zitate und deren Kommentar erreicht wird, ist eine Stärke dieses Kapitels und des gesamten Buches. Auf der anderen Seite könnte man gerade in diesem ersten Kapitel, das die größere Kontextualisierung der folgenden Fallstudien leisten soll, eine Auseinandersetzung mit den vorliegenden geistesgeschichtlichen Interpretationen etwa eines Reinhart Koselleck, Panajotis Kondylis, Hans Blumenberg oder Eric Voegelin vermissen.

Das zweite Kapitel wendet sich den Anthropologen und ihrer heroischen Gründerzeit selbst zu, wobei Weiler seine detaillierte Fallstudie der wissenschaftlichen Entdeckungen und Theorien mit einer Geschichte der technischen Erfindungen und Innovationen der Zeit parallelisiert. Als Darstellungsstrategie der Periode zwischen der Entdeckung der Pfahlbauten in der Schweiz im Jahr 1854 und dem Erscheinen von Darwins „Die Abstammung des Menschen“ im Jahr 1871 wählt Weiler den ungewöhnlichen Weg einer Chronologie. In den einzelnen Abschnitten wird der Leser jeweils in die geistige Welt eines Jahres versetzt und erfährt von den wesentlichen wissenschaftlichen Ereignissen und Texten ebenso wie von technischen Errungenschaften, politischen Entwicklungen und zeitgenössischen literarischen Reflexionen. Auf diesen knapp 200 Seiten lässt Weiler seiner historischen Passion freien Lauf und zeigt sich als talentierter Erzähler und Meister seines Stoffes. Vom systematischen Gesichtspunkt werden dabei zwei Fragen ins Zentrum gestellt: zum einen die große Anziehungskraft der Fortschrittsidee sowie ihre Rezeption und Transformation in einem wissenschaftlichen Feld, das durch die Spannung zwischen dem Faktensammeln im naturwissenschaftlichen Sinn und der Sehnsucht nach abschließenden Lösungen der großen Fragen gekennzeichnet ist; zum anderen das „Janusgesicht des Entwicklungsgedankens“ zwischen Exklusion oder Verachtung des Anderen auf der einen, Inklusion und Vereinnahmung auf der anderen Seite, eine Ambivalenz, welche gerade die Semantik der Kultur notwendig hervorzutreiben scheint.

Im dritten Kapitel wendet sich Weiler in zwei auch selbständig lesbaren Fallstudien der Fortschrittskritik in der US-amerikanischen Kulturanthropologie sowie der Wiener Schule der Ethnologie zu. In deren Ablehnung der Vorstellung einer „Kulturarmut“ oder „Kulturlosigkeit“ außereuropäischer Völker und der Auffassung vom Fremden als Vorstufe des Eigenen erweisen sie sich als unmittelbare Vorläufer einer modernen Theoriegesinnung in der Anthropologie. Weiler rekonstruiert diese Kritik am Evolutionismus sowie die alternativen Konzepte von Kultur, Diffusion und einer primär historisch orientierten Ethnologie. Breiter Raum wird dann aber vor allem der biographisch-wissenssoziologischen Methode gegeben, mit der Weiler etwa die Spannung zwischen Universalismus und Relativismus in der Cultural Anthropology auf die Erfahrungen des deutsch-jüdischen und deutsch-amerikanischen Forschers Franz Boas zwischen Antisemitismus, Emigration, Weltkrieg und Deutschenfeindlichkeit bezieht. Anhand dieses Falles werden die rhetorischen Möglichkeiten einer Semantik der Kultur in politischen Auseinandersetzungen idealtypisch rekonstruiert. Diese interessieren Weiler schließlich auch in seiner Studie zur Wiener Schule, deren Vertreter als katholische Geistliche und Missionare die ethnologische Forschung immer auch im Kontext religiöser Überzeugungen und Hoffnungen betrieben, und die in der Zwischenkriegszeit klar Position gegen Konzepte sozialdemokratischer Politik und Gesellschaftsreform bezogen.

Bernd Weiler ist es durch die Kombination von überzeugend ausgewählten wissenssoziologischen Fallstudien mit einer systematischen ideengeschichtlichen Rekonstruktion zeitlicher Ordnungsvorstellungen gelungen, einen Zeitraum von knapp 100 Jahren Wissenschaftsgeschichte in fruchtbarer Weise darzustellen. Aufgrund seines unerwarteten, zu frühen Todes am 31. März 2006 konnte der Autor die Arbeit nicht mehr wie geplant für die Publikation kürzen. Rückblickend mag dies ein Vorzug sein, denn in der Materialfülle inklusive Erschließung entlegener Quellen und eigener Archivarbeit liegt eine zentrale Stärke des Buches, zumal da durch einleitende Überblicke zu Inhalt und wesentlichen Thesen der Kapitel die Benutzerfreundlichkeit erhalten bleibt. Hingegen wäre eine breitere theoretische Reflexion der Ergebnisse und ebenso des Ansatzes und der zentralen theoretischen Begriffe wünschenswert gewesen. Diese Arbeit der Interpretation dem Leser zu überlassen mag jedoch für Bernd Weiler eine bewusste Entscheidung gewesen sein.

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