Der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-1965

: The Frankfurt Auschwitz Trial, 1963-1965. Genocide, History, and the Limits of the Law. Cambridge 2006 : Cambridge University Press, ISBN 0-521-84406-1 340 S. $ 65.00

: Beyond Justice. The Auschwitz Trial. Cambridge 2005 : Harvard University Press, ISBN 0-674-01694-7 336 S. $ 35.00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Burkhardt, Graduiertenkolleg "Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart", Justus-Liebig-Universität Gießen

Der so genannte Auschwitz-Prozess (eigentlich die „Strafsache gegen Mulka und andere“), der von Dezember 1963 bis August 1965 in Frankfurt am Main abgehalten wurde, hat – zumindest in der Bundesrepublik – ohne Zweifel dazu beigetragen, dass die Verfolgung und Ermordung der Juden stärker als eigenständiges Phänomen wahrgenommen wurde, als dies zuvor der Fall gewesen war. Das Verfahren sorgte dafür, dass „Auschwitz Eingang in die deutsche Umgangssprache“ fand, auch wenn es zu einem „zwiespältigen Meinungsbild“ in der bundesdeutschen Öffentlichkeit führte1 – erreichte doch die in Umfragen gemessene Ablehnung weiterer NS-Prozesse Mitte der 1960er-Jahre einen Höhepunkt. Angesichts der großen Bedeutung, die dem Auschwitz-Prozess von der zeithistorischen Forschung zugesprochen wird2, mutet es erstaunlich an, dass lange Zeit keine Monografie vorlag, die sich systematisch mit dem Verfahren auseinandersetzte. Diese Lücke wurde nun durch das Erscheinen zweier nordamerikanischer Dissertationen zum Auschwitz-Prozess geschlossen.

Devin O. Pendas und Rebecca Wittmann vertreten in ihren Arbeiten einen ähnlichen Standpunkt: Bereits in den juristischen Grundlagen des Verfahrens – das heißt vor allem in der Anwendung des gewöhnlichen deutschen Strafrechts – seien blinde Flecken angelegt gewesen, die letztlich zu Verzerrungen auch der öffentlichen Wahrnehmung geführt hätten. Beide gehen davon aus, dass die historisch-moralische Komponente in NS-Prozessen immer eine zentrale Rolle spiele, die nicht von der rein juristischen Ebene getrennt werden könne. Für Wittmann liegt die grundsätzliche Paradoxie des Verfahrens in dem Umstand, dass zwar einerseits das ganze „System Auschwitz“ gerichtet werden sollte, die stark auf individuelle Handlungen und Motivationen zugeschnittene Gesetzgebung aber dazu geführt habe, dass lediglich die so genannten „Exzesstäter“, die die Befehle überschritten hatten, wegen Mordes verurteilt werden konnten. Dies habe zur Folge gehabt, dass die „regulären“ NS-Vorgaben durch den Prozess legitimiert worden seien: „While indicting Auschwitz, they [das heißt die Anklagevertreter] were thus also obliged to give its camp regulations an air of validity.“ (S. 9) Pendas formuliert seine These etwas weniger provokant. Seine Grundannahme lautet: „In the Auschwitz Trial, the law came up against the limits of its capacity to deal adequately with systematic genocide.“ (S. 2) Er bezieht sich explizit auf Wittmanns Überlegungen (auch wenn er die publizierte Form ihrer Arbeit nicht mehr zur Kenntnis nehmen konnte)3 und wendet ein, die Angeklagten seien sowohl für das Übertreten der Regeln als auch für deren Befolgen verurteilt worden. Für ihn liegt das tatsächliche Paradox daher weniger in dem Versuch, NS-Verbrechen mithilfe von NS-Normen zu verurteilen, sondern darin, dass das deutsche Gesetz auf ein vollkommen anderes Verständnis von Verbrechen und Täterschaft ausgerichtet gewesen sei, als im Holocaust zum Tragen gekommen sei (S. 6).

Pendas und Wittmann wählen jeweils einen chronologischen Aufbau, um den Einfluss der rechtlichen Beschränkungen auf Verlauf und Rezeption des Prozesses nachzuzeichnen. Beide beziehen die langen Vorbereitungen ein, betrachten die unterschiedlichen Phasen des Verfahrens und schließen einen Überblick zu den öffentlichen Reaktionen an. Pendas fügt als Einstieg zwei Kapitel zu den deutschen Rechtsgrundlagen und den Prozessbeteiligten hinzu, während Wittmann diese Aspekte in den chronologischen Abriss integriert. Sie zieht in ihrem Kapitel über das Hauptverfahren bereits einige Pressemeinungen heran und geht am Schluss stärker auf die Einschätzungen des Urteils und der längerfristigen Folgen ein; Pendas fasst die mediale Wirkung insgesamt im letzten Kapitel zusammen. Aufgrund der ähnlichen Konzeption beider Studien und der starken inhaltlichen Überschneidungen sollen hier keine vollständigen Zusammenfassungen geliefert werden; vielmehr werden die Arbeiten anhand einzelner Aspekte vergleichend dargestellt.

Wittmanns Ziel ist es, die von ihr festgestellten Verzerrungen in den einzelnen Stadien des Prozesses nachzuweisen. In ihrem ersten Kapitel zur Vorgeschichte des Verfahrens geht sie besonders der Frage nach, warum in Frankfurt das deutsche Strafrecht und nicht internationales Recht angewandt wurde, und erklärt dies mit den massiven Widerständen, auf die die Nürnberger Rechtsprechung gestoßen sei. Außerdem hätten die deutschen Juristen rückwirkenden Gesetzen ablehnend gegenübergestanden. Ähnlich argumentiert auch Pendas in seiner Einleitung (S. 11ff.). Der Wunsch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, erklärt laut Wittmann die Anwendung des „gewöhnlichen“ deutschen Rechts (S. 28), was sie jedoch nicht weiter erläutert. Wollten die deutschen Akteure keine neuerlichen Sondergesetze wie in der NS-Zeit? Hoffte man, so am wenigsten Aufsehen zu erregen? Außerdem beschäftigt sich Wittmann mit der Unterscheidung zwischen Täterschaft und Beihilfe (S. 38ff.) sowie der Definition von Mord (S. 44ff.) im deutschen Rechtssystem, die dazu geführt haben, dass nur wenige Angeklagte wegen Mordes verurteilt werden konnten. Daher habe sich bereits die Anklagebehörde auf die „Exzesstaten“ konzentriert, die leichter nachweisbar gewesen seien als die Beteiligung am organisierten Massenmord. Ihre Ausführungen sind jedoch nicht in allen Punkten schlüssig. Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu Pendas’ Vorgehensweise, dessen Darstellung der rechtlichen Grundlagen und Grenzen in seinem zweiten Kapitel „The Antinomies of German Law“ (S. 53-79) wesentlich systematischer und nachvollziehbarer geraten ist – wohl aufgrund der Tatsache, dass er einen breiteren, weniger zugespitzten Ansatz verfolgt. Bei beiden Autoren dient die Analyse der juristischen Voraussetzungen dazu, die Beschränkungen aufzuzeigen, die bereits in der betont subjektiven Interpretation von Täterschaft angelegt gewesen seien.

Insgesamt konzentriert sich Wittmann so stark auf den Nachweis des für sie zentralen Widerspruchs, dass andere Aspekte aus dem Blick geraten. Zugleich wären viele Details für die Bestätigung ihrer These allein nicht notwendig. So liefert sie im zweiten Kapitel über das Ermittlungsverfahren eher eine Überblicksdarstellung, in der sowohl die Geschichte des Prozesses als auch die Vorgänge in Auschwitz aus den Dokumenten referiert werden. Der explizit kritische Anspruch bleibt dabei etwas hinter der Umsetzung zurück. Auch bei der Analyse der Anklageschrift und des Hauptverfahrens stellt Wittmann die Konzentration auf die „Exzesstaten“ und die angebliche Anwendung von NS-Maßstäben in den Mittelpunkt, was zu gewissen Redundanzen führt. Als Quelle für die Verhandlungen dienten ihr hauptsächlich die erhalten gebliebenen Tonbänder aus dem Gerichtssaal, die inzwischen vom Fritz Bauer Institut transkribiert und auf DVD herausgegeben wurden.4

Sowohl Pendas als auch Wittmann weisen auf die Gliederung der Anklageschrift in einen historiografischen und einen juristischen Teil hin. Die Staatsanwaltschaft habe auf diesem Wege versucht, den historischen Hintergrund der Verbrechen in das Verfahren einzubringen, weil abzusehen gewesen sei, dass er in der Hauptverhandlung einen geringen Stellenwert haben würde. Wittmann ist der Ansicht, dieser Überblick habe „an authoritative summary of the criminal structure of Nazi society“ geboten (S. 106); sie bemängelt vor allem die geringe Berücksichtigung während der Verhandlung. Pendas hingegen betont, auch der historische Abriss sei auf die Umstände des Verfahrens zugeschnitten gewesen und habe nur diejenigen Aspekte thematisiert, die im Zusammenhang mit den Taten gestanden hätten – wie die Entwicklung der SS und des Lagersystems. Die Geschichte des Nationalsozialismus an sich und besonders dessen enge Verknüpfung mit der deutschen Gesellschaft seien dabei nicht angesprochen worden (S. 106f.).

Pendas geht ausführlich auf die Vernehmung der Angeklagten vor Gericht und ihre Verteidigungsstrategie ein: Sie seien keineswegs überzeugte Nazis gewesen und nur durch einen unglücklichen Zufall in Auschwitz eingesetzt worden (S. 131). Bereits bei der Schilderung der Vorermittlungen stellt er fest, der ehemalige SS-Oberscharführer Wilhelm Boger habe in den ersten Verhören die zentrale Linie der Verteidigung etabliert, nämlich die Berufung auf den so genannten Befehlsnotstand (S. 42f.). Pendas resümiert: „Clearly, the defense’s primary goal was to win an acquittal on objective grounds – the defendants did not in fact commit any crimes – but, failing that, to secure a lenient sentence on subjective grounds – the defendants were merely accomplices.“ (S. 139) Wittmann thematisiert die Frage nach dem Befehlsnotstand ebenfalls im Rahmen des Ermittlungsverfahrens (S. 78ff.) und zielt vor allem darauf ab, die Behauptung zu widerlegen, Widerstand gegen Befehle sei unmöglich gewesen. Hinsichtlich der Phase der Beweisaufnahme stellt Pendas drei zentrale Konfliktlinien fest (S. 141f.): erstens die unterschiedlichen Versionen der NS-Geschichte in den Gutachten ost- und westdeutscher Historiker, zweitens die Spannung zwischen dem Mitteilungsbedürfnis der Überlebenden, die als Zeugen auftraten, und dem Erkenntnisinteresse des Gerichts und drittens die politischen Implikationen des Kalten Krieges, die besonders in den Auseinandersetzungen zwischen dem DDR-Nebenklagevertreter Friedrich Karl Kaul und der Verteidigung sowie während des Ortstermins in Oświęcim zum Ausdruck gekommen seien.

Bezogen auf die Plädoyers, die sowohl Wittmann als auch Pendas nach Anklage, Nebenklage und Verteidigung analysieren, spricht Letzterer von vier unterschiedlichen interpretativen und argumentativen Positionen (S. 192f.): Die Anklagevertreter seien von einer bewussten Vernichtungsstrategie ausgegangen, die zwar von den NS-Führern angeordnet, aber von den Angeklagten billigend ausgeführt worden sei. Bei den Nebenklägern unterscheidet er zwischen ost- und westdeutschen Anwälten. Beide Gruppen hätten zwar die Perspektive der Opfer herausgestellt, Kaul habe jedoch außerdem die unmittelbare Verantwortung des „Monopolkapitals“ betont. Die Verteidigung habe die Schuld allein auf die Führungsebene geschoben und behauptet, ihre Mandanten hätten die Verbrechen nicht als solche erkannt. Pendas und Wittmann betonen den Versuch der Verteidigung, die Zeugenaussagen der Überlebenden als unglaubwürdig hinzustellen (S. 216f. bzw. S. 205f.). Angesichts des Urteils sind beide darüber einig, dass es den außergewöhnlichen Taten der Beschuldigten nicht gerecht geworden sei. Während Wittmann die Strafen für verschiedene Gruppen von Angeklagten untersucht, geht Pendas stärker auf die allgemeinen Überlegungen und Entscheidungen des Gerichts ein, beispielsweise zur Glaubwürdigkeit der Zeugen.

Schließlich beschäftigen sich beide Untersuchungen mit der Repräsentation des Verfahrens in den Medien. Wittmann gibt in ihrem Kapitel über das Hauptverfahren bereits einige eher oberflächliche Eindrücke der westlichen Presseberichte wieder; dabei kommt sie zu drastischen Aussagen wie dieser: „It [das heißt die Berichterstattung] was almost a pornography of the Holocaust, that both sold papers and distanced the general public from the monsters on the stand whose actions were reported in graphic detail.“ (S. 176) Im letzten Kapitel wiederholt sie den Befund, die Fixierung auf die „Exzesstaten“ habe sich in den Berichten gespiegelt, bietet anschließend jedoch eine differenziertere Analyse der ambivalenten Einschätzungen. Pendas hebt ebenfalls hervor, der Auschwitz-Prozess sei darin gescheitert, der Öffentlichkeit ein kohärentes Bild des Holocaust zu präsentieren, und habe zu einer Abwehrreaktion geführt, die unter anderem in der Entfremdung zwischen Journalisten und „normaler Bevölkerung“ begründet gewesen sei (S. 256ff.). Die juristischen Verzerrungen seien in den Medien reproduziert worden und hätten einer komplexeren Sichtweise auf Auschwitz im Wege gestanden (S. 262f.).

Trotz der engeren Fokussierung bei Wittmann und der teilweise differenzierteren Darstellung bei Pendas kommen sie letztlich zu ähnlichen Interpretationen und Schlussfolgerungen. Beide plädieren für eine Kontextualisierung des Prozesses, die sowohl die juristischen Voraussetzungen als auch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse (insbesondere den Kalten Krieg) berücksichtigen müsse. Beide heben hervor, dass das deutsche Strafrecht mit seiner Betonung der subjektiven Motivation einer Tat nicht in der Lage gewesen sei, ein kollektives Verbrechen wie den Holocaust angemessen zu richten. Pendas bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Max Webers Feststellung, dass bürokratische Systeme sich gerade dadurch auszeichneten, dass sie für ihr Funktionieren nicht auf den individuellen Willen ihrer Mitglieder angewiesen seien (S. 78, S. 298).

Die Begrenzungen und Auslassungen auf juristischer Ebene seien durch die Medienberichte fortgeschrieben und in die Öffentlichkeit transportiert worden. Die gesellschaftliche Wirkung des Verfahrens in der Bundesrepublik sei daher widersprüchlich gewesen und habe langfristige Verzerrungen in der Wahrnehmung des Nationalsozialismus und des Holocaust zur Folge gehabt. Auch wenn viele dieser Aussagen nicht völlig neu sind, werden sie in den beiden Studien doch ausführlicher als bisher entwickelt. Besonders die Arbeit von Pendas stellt außerdem eine fundierte und übersichtliche Einstiegslektüre zur Beschäftigung mit dem bekanntesten deutschen NS-Verfahren dar.

Anmerkungen:
1 Reichel, Peter, Auschwitz, in: François, Etienne; Schulze, Hagen (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte I, 4. Aufl. München 2002, S. 600-621, hier S. 601, S. 614.
2 Vgl. besonders: Wojak, Irmtrud (Hrsg.), Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main, Köln 2004, mit weiterführenden Literaturangaben (S. 839-844).
3 Vor der Buchveröffentlichung erschien bereits: Wittmann, Rebecca, Indicting Auschwitz? The Paradox of the Frankfurt Auschwitz Trial, in: German History 21 (2003), S. 505-532.
4 Fritz Bauer Institut; Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Hrsg.), Der Auschwitz-Prozeß. Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente, Berlin 2004. Siehe dazu: Weinke, Annette, Überreste eines „unerwünschten Prozesses“. Die Edition der Tonbandmitschnitte zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2 (2005), S. 314-320, online unter URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Weinke-2-2005>; und die Rezension von Sabine Horn: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-060>.

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