P. Birle u.a. (Hrsg.): Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas

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Titel
Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas.


Herausgeber
Birle, Peter; Braig, Marianne; Ette, Ottmar; Ingenschay, Dieter
Reihe
Bibliotheca Ibero-Americana 109
Erschienen
Anzahl Seiten
170 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Mattheis, Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig

Interdisziplinarität und Transregionalität sind Attribute, denen bei der Konzipierung von Studiengängen und Forschungsprojekten immer häufiger eine zentrale Rolle zugewiesen wird. Diese Entwicklung ist ob der Zunahme globalperspektivischer Wissenschaftsansätze sehr erfreulich. Sie macht allerdings auch eine genaue Betrachtung notwendig, um zu unterscheiden, wo lediglich unabhängige Themen eklektisch unter einen Denkmantel gezwängt werden und wo tatsächlich ein Mehrwert durch neue Perspektiven entsteht. Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer gleichnamigen Ringvorlesung des Forschungsverbundes Lateinamerika Berlin-Brandenburg im Sommersemester 2004. Er erhebt den Anspruch, in einem interdisziplinären Kontext die konstruierten Grenzen der westlichen Hemisphäre als dynamisch und vielschichtig zu begreifen. Die Autorinnen und Autoren, jeweils drei aus der Politikwissenschaft und drei aus der Philologie, versuchen so, einige der zahlreichen Prozesse von Identitätskonstruktion zu beleuchten und in einen globalen Rahmen zu stellen.

Zunächst beschäftigt sich Ottmar Ette mit der wissenschaftlichen Annäherung Alexander von Humboldts an die westliche Hemisphäre. Ette hebt anhand zahlreicher Primärquellen die transregionale Komponente der Humboldtschen Erfassung Amerikas hervor und zeigt sich beeindruckt von seinen zahlreichen Kategorisierungen, die den Doppelkontinent intern gliedern, ihn als Neue Welt in einem globalen Kontext abgrenzen. Die natur- und sozialwissenschaftlichen Aufteilungen bezeichnen eine Reihe von unterschiedlichen Räumen, die sich überschneiden und mit jeder neuen fachlichen Betrachtung vernetzt werden. Die berechtigte Euphorie Ettes für die aufeinander aufbauenden Perspektivwechsel und Verknüpfungen erzeugen jedoch einige Redundanzen und Längen, die mitunter eine kritische Auseinandersetzung mit dem „preußischen Gelehrten“ (S. 29) vermissen lassen. Ohne Ausführung bleibt leider der Hinweis auf Transfermöglichkeiten für die heutige Verbundforschung. Zwar greifen die folgenden Autoren seinen Vorschlag auf, aber dennoch hätte hier eine knappere Analyse der Werke Humboldts zugunsten von Anknüpfungspunkten für einzelne Fachgebiete einen deutlicheren Mehrwert für den Leser schaffen können.

Im folgenden Kapitel nehmen sich Marianne Braig und Christian Baur zunächst der verschiedenen Konzeptionen der Eliten zum Raumverständnis Amerikas im 19. Jahrhundert an. Hierbei wird deutlich, dass politische Entwürfe zum Selbstverständnis der Amerikaner sich über das Verhältnis zu Europa definierten. Dies galt auch dann noch, als mit dem Aufstieg der USA zum Regionalhegemon eine kontinentale Einheit unmöglich und für den Süden der Kulturkreis Lateinamerika konstruiert wurde. Erfreulich sind insbesondere die Ansätze, die abwechselnd passive und aktive Rolle Europas bei der lateinamerikanischen Identitätssuche dieser Zeit zu verknüpfen. Im zweiten Teil dieses Kapitels gehen Braig und Baur der Frage nach, welche Rolle Mexiko im Kontext aktueller Kultur- und Sicherheitsentwürfe spielt. Dieser zeitliche Sprung von fast 90 Jahren kommt etwas abrupt und setzt die Zweiteilung des Kontinents in ein völlig anderes Umfeld, in dem Europa wiederum gänzlich abwesend ist. Nichtsdestotrotz wird veranschaulicht, dass es nicht ein Mexiko, sondern eine ganze Reihe unterschiedlicher „Mexikos“ gibt, deren (soziale und/oder kulturelle) Grenzziehungen jeweils anders verlaufen und damit eine ungeheure Dynamik jenseits der des Nationalstaates entwickeln. Braig und Baur weisen hierbei auf den obsoleten Charakter allzu klarer Abgrenzungskonzepte hin, da die Entstehung von transkulturellen Netzwerken eine zunehmende Durchlässigkeit bedingt.

Inspiriert durch Ettes Vorschlag versucht sich auch Dieter Ingenschay an einer hemisphärischen Betrachtung Amerikas als Konstruktion. Gegenstand seiner Untersuchung ist der AIDS-Diskurs in der homosexuellen Literatur Lateinamerikas, die er in einen gesamtamerikanischen beziehungsweise globalen Zusammenhang stellt. Er führt die Ausgrenzung Homosexueller in Lateinamerika auf die diskursive Verknüpfung von Rassismus und Diskriminierung sodomitischer Praktiken während der Kolonisation zurück. Auch die literarische Auseinandersetzung mit AIDS in Lateinamerika wurde zunächst von außen bestimmt, insbesondere durch den dominanten US-Diskurs, der den Zusammenhang zwischen Homosexualität und AIDS festigte, an dem sich auch Ingenschay orientiert. Je deutlicher jedoch die Disparitäten zwischen Homosexuellen in den USA und in Lateinamerika hervortreten, desto mehr wächst im Süden die postkoloniale Erkenntnis, keineswegs der im Norden konstruierten „gay culture“ zuzugehören. Auf dieser Basis versucht die lateinamerikanische Literatur, eigene Perspektiven zu entwickeln. Ingenschay weist darauf hin, dass sich diese auf den US-Diskurs beziehen und sich somit erst in einer hemisphärischen Betrachtung entfalten können. Daraus lässt sich die wichtige Erkenntnis gewinnen, dass der AIDS-Diskurs in Lateinamerika auch bei seiner Emanzipation einer Auseinandersetzung mit dem US-Diskurs bedarf, um sich selbst neu zu definieren.

Ebenfalls mit dem hemisphärischen Blick auf einen Literaturprozess beschäftigt sich Monika Walter. Sie behandelt die testimoniale Erzählpraxis in Lateinamerika und Europa. Der europäische postmoderne „témoignage“ entstand mit den narrativen Zeugnissen der zunächst französischen Holocaust-Literatur. Er hebt die Singularität des Holocausts hervor und verweist auf die ethische Verantwortung des Individuums. Aufgrund der Erfahrungen aus den kolonialen Genoziden ist das lateinamerikanische „testimonio“ weiter gefasst und wird in der Auseinandersetzung zwischen kreolischer Elite und marginalisierten Indios eingesetzt. Daraus entsteht auch ein konkretes Streben nach Solidarität und sozialer Neuordnung. Walter verdeutlicht die unterschiedlichen Entwicklungen der beiden Erzählformen, aber auch deren Berührungspunkte. Ein solcher Vergleich wird erst durch eine hemisphärische Perspektive möglich, welche die gegensätzliche Betrachtung von Zentrum und Peripherie hinter sich lässt und Gemeinsamkeiten freilegt.

Im letzten Abschnitt widmet sich Peter Birle den Zyklen der brasilianischen Außenpolitik seit seiner Unabhängigkeit. Das bis in die 1970er-Jahre dominante Paradigma einer Allianz mit den USA führt Birle auf die Entscheidung Brasiliens zurück, mit der aufstrebenden Hegemonialmacht zu kooperieren, um wirtschaftliche und politische Vorteile zu erlangen. Zum Paradigmenwechsel kam es erst mit der Demokratisierung in den 1980er-Jahren. Das Scheitern des interamerikanischen Systems und die komplementären wirtschaftlichen Beziehungen zu Lateinamerika ermöglichten eine lateinamerikanische Kooperation, die in den 1990er-Jahren im MERCOSUR institutionalisiert wurde. Birle macht allerdings deutlich, dass eine endgültige Überwindung des lateinamerikanischen Partikularismus noch in weiter Ferne liegt. Brasilien tut sich schwer damit, Entscheidungskompetenzen abzutreten, während im restlichen Lateinamerika weiterhin die Angst vor einem Subimperialismus besteht. Die Grenzen, die Brasilien in der Hemisphäre zieht, bleiben verschwommen, insbesondere in Bezug auf Mittel- und Nordamerika. Insgesamt zeichnet Birle die Geschichte der außenpolitischen Beziehungen Brasiliens als Nullsummenspiel, in dem sich eine Kooperation mit den USA oder Lateinamerika stets diametral gegenüberstanden. Die neuerliche Zuwendung Brasiliens zu seinen Nachbarn birgt demnach ein hemisphärisches Dilemma, für das auch Birle keine Lösung sieht. Für eine hemisphärische Betrachtung lesen sich seine Ausführungen allerdings mitunter zu Brasilien-zentrisch. Speziell die Fremdbilder Brasiliens, die eingangs als ein Grundpfeiler der Außenpolitik erwähnt werden, finden für die Gegenwart wenig Beachtung. Dennoch bietet Birle eine hervorragende Skizze eines Landes, das noch immer seinen Platz in der Hemisphäre sucht.

Alles in allem wird der Anspruch des Sammelbandes, die Facetten hemisphärischer Konstruktionen zu beleuchten, erfüllt. Der Leser muss zwar besonders bei Birles Abschnitt mit der Lupe nach dem Begriff hemisphärisch suchen, aber die Belege, dass die Literatur- und Politikwissenschaften von den Betrachtungen der Dynamik dieser Konstruktionen profitieren, bieten einen roten Faden. Darüber hinaus ist der Band aber auch als ein Appell an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anderer Fachrichtungen zu verstehen, die sich mit einigen der zahlreichen Konstruktionen Amerikas befassen. Nur durch Wissensaustausch und Kooperation kann die angestrebte Verbundforschung ihre multidisziplinäre Perspektive erreichen. Gerade Wissenschaftler aus Lateinamerika könnten hier beitragen und auch profitieren. Das Bewusstsein, dass die westliche Hemisphäre ein vielschichtiges Gebilde mit zahlreichen Grenzziehungen ist, dürfte auch ein Beitrag zur Globalisierungsforschung sein, da statische Kategorisierungen abgelegt und Pluralitäten in den Vordergrund gestellt werden. Die im Band vorgestellte Herangehensweise erinnert daher zu Recht an den multi-fokalen und integrativen Ansatz der Globalgeschichte und in der Tat bleibt der Leser am Ende unsicher, ob der hemisphärische Ansatz nicht doch vor allem Teil einer global-lokalen Perspektive ist.

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