U. Brunnbauer u.a. (Hrsg.): „Ethnische Säuberungen“ im östlichen Europa

Titel
Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung. „Ethnische Säuberungen“ im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Brunnbauer, Ulf; Esch, Michael G.; Sundhaussen, Holm
Reihe
Geschichte: Forschung und Wissenschaft 9
Erschienen
Berlin 2006: LIT Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elisabeth Kübler, Universität Wien / Lauder Business School, Wien

Bereits im Vorwort dieses Sammelbandes, der Beiträge der 2004 am Osteuropa-Institut der FU Berlin abgehaltenen Ringvorlesung „Ethnische Säuberungen in Ost- und Südosteuropa im 20. Jahrhunderts“ und der im Februar desselben Jahres vom Centre Marc Bloch in Berlin veranstalteten Tagung „Gedächtnis – Erfahrung – Historiografie. Aspekte der Diskussion um den „Komplex Vertreibung“ in europäischer Perspektive“ vereint, wird der kritisch-emanzipatorische Zugang der Herausgeber deutlich. So setzen sie sich sowohl mit dem Begriff der „ethnischen Säuberung“ als auch mit dem Konzept des „ethnisch homogenen Nationalstaates“ auseinander: „Vertreibungen von Menschen aufgrund der ihnen zugeschriebenen ethnischen Merkmale sind nicht einfach archaische Gewaltakte und Ausdruck blinden Hasses, sondern inhärent mit der Idee des ethnisch homogenen Nationalstaates.“ (S. 13) Gerade weil Ulf Brunnbauer, Michael G. Esch und Holm Sundhaussen „ethnische Säuberungen“ als eine Form des „social engineering“ entlarven, können sie folgerichtig auch Ursachen, Handlungslinien und AkteurInnen von Vertreibungen und Zwangsmigrationen im Zuge oder in Folge von Kriegen klar benennen. „Es ist sicherlich kein Zufall, dass es zu ,ethnischen Säuberungen’ im engeren Sinne vor allem im Zusammenhang mit Kriegen kommt, wenn sich den ethnonationalen Ingenieuren die Gelegenheit bietet, ihre Träume von einer ,reinen’, homogenen Ethno-Nation umzusetzen.“ (S. 18)

Das Buch gliedert sich in vier Themenblöcke. Eingangs und zur Einführung formuliert Holm Sundhaussen ein Plädoyer gegen „Vertreibung als nationalen Erinnerungsort“(S. 21). Er bietet einen kurzen Abriss über den bundesdeutschen Umgang mit der Vertreibung von Deutschen aus Ost- und Südosteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, geprägt durch starke Thematisierung unter der Kanzlerschaft Konrad Adenauers, inhaltliche Verschiebung vor allem bei „linken“ HistorikerInnen in Richtung Holocaust und Opfer des Nationalsozialismus zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren bei gleichzeitiger Marginalisierung landsmannschaftlicher Aktivitäten als ,rechts’ und eine seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Wiedervereinigung abermals stärker Platz greifende Selbstwahrnehmung der Deutschen als Opfergruppe. Seine allgemeine Schlussfolgerung lautet: „Wer künftigen Vertreibungen entgegenwirken will, sollte nicht auf nationale Erinnerungen, sondern auf Ursachenanalyse und die daraus abgeleitete Prophylaxe setzen. Die jeweilige kollektive Erinnerung an Vertreibung ist (im Unterschied zu manchen persönlichen Erinnerungen) immer national oder völkisch aufgeladen und reproduziert damit gerade das, was zur Vertreibung geführt hat. Vertreibung als nationaler Erinnerungsort ist daher kontraproduktiv (selbst wenn er mit Verweisen auf die Vertreibung anderer nationaler Gruppen umrahmt wird). Dagegen könnte Vertreibung als ‚europäischer Erinnerungsort’ einen Ausweg aus der nationalen Falle weisen.“ (S. 31)

Wie transnationales Erinnern aussehen könnte, besprechen Piotr Madajczyk anhand der deutsch-polnischen Debatten und Peter Haslinger an den Beispielen der „Aussiedlung“ der Deutschen aus Ungarn und der Slowakei, des ungarisch-slowakischen „Bevölkerungstausches“, der Diskussionen um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ und der österreichisch-tschechischen Auseinandersetzungen um die „Beneš -Dekrete“ im Jahr 2002. Beide Autoren beschäftigen sich dabei ausführlich mit der Transformation nationaler Erinnerungen nach dem Ende des Realsozialismus und geben besonders für deutschsprachige LeserInnen interessante Einblicke in die polnischen und tschechischen vergangenheitspolitischen Auseinandersetzungen. Haslingers Fazit fällt im Hinblick auf eine europäische Gedenk- und Erinnerungsperspektive auch nach der vollzogenen EU-Osterweiterung ernüchternd aus. Es stellt sich heraus, „dass in allen untersuchten Ländern auch nach der Wende von 1989 die Debatten über die Vertreibungen und Deportationen während und nach dem Zweiten Weltkrieg überwiegend national strukturiert sind. Das bedeutet, dass die ,eigene’ sprachnationale Gruppe im Zentrum aller Bezüge steht und aus dieser Perspektive sowohl eine Chronologie der Ereignisse als auch Opfer-Täter-Zuschreibungen festgelegt werden“ (S. 300).

Einen breiteren Analyserahmen wählt Rainer Ohliger, der sich mit der Frage auseinandersetzt, wie „Flucht und Vertreibung als [Teil der europäischen] Migrationsgeschichte dokumentiert, erzählt, analysiert und ausgestellt werden können“ (S. 238). Er warnt dennoch vor einer Einebnung sämtlicher Unterschiede und Grenzen der Vergleichbarkeit. So sei der Gegensatz von Zwang und Freiwilligkeit zur Migration mitzudenken. Ohliger macht zudem darauf aufmerksam, dass im Fall der Bundesrepublik Deutschland Vertriebene und AussiedlerInnen die deutsche Staatsangehörigkeit entweder schon besaßen oder sofort erhielten, wohingegen von der Mehrheitsgesellschaft als fremd konstruierte MigrantInnen später mit erheblichen Integrationshürden zu kämpfen hatten und haben.

Gleichsam die historischen Grundlagen für die oben skizzierten vergangenheitspolitischen Debatten werden in den nächsten beiden Themenblöcken behandelt. Hans Lemberg stellt heraus, dass die Auflösung der dynastischen Staaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa nach dem Ende des Ersten Weltkrieges politische Überlegungen bezüglich des Umgangs der neu entstandenen Nationalstaaten mit den zahlreichen dort lebenden Minderheiten veranlasste. Der auf den Pariser Konferenzen implementierte und zur Überwachung beim Völkerbund angesiedelte Minderheitenschutz stellte sich als gleichzeitig fortschrittlich und undurchführbar heraus, da der Völkerbund aufgrund der Beschwerden von Minderheiten permanent in die Souveränitätsrechte der einzelnen Staaten eingreifen hätte müssen. Während das Pariser Modell also aus realpolitischen Gründen zum Scheitern verurteilt war, wurde mit dem im Vertrag von Lausanne 1923 beschlossenen griechisch-türkischen Bevölkerungstausch der Weg für ethno-nationalistisch motivierte – vielfach unter den Auspizien der westlichen Kriegsgewinnerstaaten – Zwangsumsiedlungen geebnet.

Mit der Verarbeitung des griechisch-türkischen Bevölkerungstausches in der griechischen Historiografie befasst sich Onur Yildirim. „Indem sie diese Ereignisse mit dem griechischen Nationalismus verbanden, schufen griechische Mainstream-Historiker von Anbeginn an eine Forschungsliteratur, die eng an den dominanten politischen Diskurs gebunden war.“ Insofern wenig verwunderlich wurde der Fokus weg von den „realen Folgen des Bevölkerungstausches auf die sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen im Land“ gelenkt hin zu scheinbar unerklärbaren Metaphern wie die „kleinasiatische Katastrophe“ oder den „Fall von Konstantinopel im Jahr 1453“ (S. 49f.). Yildirim erwähnt allerdings auch Gegenstimmen und alternative Ansätze, wie beispielsweise die vor allem im Exil entstandenen Arbeiten griechischer MarxistInnen oder die Erfahrungen von Flüchtlingen selbst, die sowohl in Form von biografischem Material als auch im Ergebnis jüngerer sozialanthropologischer und Oral-History-Projekte vorliegen.

Die für die bundesdeutsche und auch österreichische vergangenheitspolitische Diskussion brisantesten Beiträge stammen von Detlef Brandes. Selbstverständlich geht er auf die Vorgeschichte, bestehend aus gewaltsamer Eroberung, NS-Besatzung und „Anschlussbegeisterung“ der Sudetendeutschen Partei, ein. Seine Schilderungen der sogenannten „wilden Vertreibungen“ und „organisierten Aussiedlungen“ geraten im Gegensatz zu der den Sammelband bestimmenden sehr nüchternen Sprache teilweise ziemlich plastisch und die Einführung des im Originaltext nicht kursiv gesetzten Begriffes des „antideutschen Radikalismus“ birgt eine gewisse Kontroversialität. „Die Hauptmotive der Vertreibung der Deutschen waren jedoch der Wunsch nach Vergeltung und das Streben nach einem national homogenen Staat. In und nach dem Krieg hatte ein antideutscher Radikalismus praktisch alle Schichten der tschechischen und polnischen Bevölkerung erfasst.“ (S. 91)

Dem Problembereich bevölkerungspolitischer Überlegungen in den Entwicklungen in Deutschland und Polen zwischen 1939 und 1950 beziehungsweise der „Parallelisierung von ethnischer und sozioökonomischer Bereinigung“ (S. 112) nähert sich Michael G. Esch. Anknüpfend an die heftig kritisierten Arbeiten von Götz Aly und Susanne Heim zur NS-Bevölkerungspolitik setzt Esch zu einer vergleichenden Untersuchung „nationalsozialistische[r] und [der] ihr unmittelbar folgende[n] polnische[n] Bevölkerungs- oder spezieller ethnische[n] Säuberungspolitik“ an. „Ziel dieses Vergleiches war und ist, durch die kontrastive Gegenüberstellung zweier aufeinander folgender, sich auf den teilweise gleichen geografischen Raum beziehender ethnischer Säuberungsprogramme Akteure, Programme und Maßnahmen besser verstehen und einordnen zu können“ (S. 98), wobei im Mittelpunkt der Betrachtungen die sogenannte ,mittlere[...] Planungsebene“ steht.

Der Begriff der „ethnischen Säuberungen“ gelangte insbesondere während der Balkankriege in den 1990er-Jahren zu unrühmlicher Präsenz, weshalb die Beschäftigung mit dieser Region den logischen vierten inhaltlichen Block bildet. Marie-Janine Calic gibt einen fundierten historischen Überblick von den Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen nationalistischen Unabhängigkeitsbestrebungen über die nationalsozialistische Besatzung- und Vernichtungspolitik bis hin zu den Sukzessionskriegen in den 1990er-Jahren. Außerdem geht sie anhand völkerrechtlicher Definitionen der Frage nach, inwieweit im Falle der Jugoslawien-Kriege von Völkermord gesprochen werden kann. „Den Ergebnissen der UNO-Expertenkommission sowie der Anklagebehörde des Jugoslawientribunals folgend, müsste man schließen, dass nicht die Absicht bestand, die Bosniaken als Gruppe vollständig und flächendeckend auszulöschen. Jedoch artete die Verfolgung in bestimmten regionalen Kontexten auch in Genozid aus. [...] So sind unter anderem die Deportationen und Massenexekutionen im Umfeld der Eroberung Srebrenicas im Juli 1995 eindeutig in genozidaler Absicht geplant, angeordnet und durchgeführt worden.“ (S. 140) An dieser Stelle hätte Calic jüngeren und differenzierteren Forschungen sowohl zu den Ereignissen von Srebrenica als auch zu verzerrten westeuropäischen Wahrnehmungen derselben, stärkere Beachtung schenken können.

Mit den Folgen der Balkan-Kriege setzen sich anhand Kroatiens auch Andrea Friemann (’Brennpunkt Krajina’. Ethnische Säuberungen im Kroatien der neunziger Jahre) und Carolin Leutloff-Grandits (Die schwierige Rückkehr serbischer Kriegsflüchtlinge nach Kroatien (1995-2005)) auseinander. Beide Aufsätze deuten an, welche gesellschaftlichen und politischen Spannungsfelder nach wie vor in den Bereichen Besitzrückgabe, Reintegration am Arbeitsmarkt und im gesellschaftlichen Leben sowie bei pluralistischen Geschichtsbetrachtungen existieren.

Der Titel von Natalija Basics Beitrag: „Die Akteursperspektive. Soldaten und ‚ethnische Säuberungen’ in Kroatien und Bosnien-Herzegowina (1991-1995)“ löst den von den Herausgebern des Sammelbandes formulierten Anspruch der Auseinandersetzung mit den an Vertreibungen Beteiligten besonders dramatisch und gelungen ein. Basic bringt Ausschnitte aus einem Interviewprojekt mit zur Zeit des Bosnienkrieges jungen serbischen, kroatischen und bosnischen Männern, die an Kriegs-, Vertreibungs- und Säuberungshandlungen beteiligt waren und ruft somit aus der individuellen Akteursperspektive nicht nur die vielfältigen Motivationen, sondern auch die zahlreichen Erklärungs- und Rechtfertigungsmuster für Vertreibungen und gewaltsame Bevölkerungsverschiebungen in Erinnerung.

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