O. Heilbronner: Populärer Liberalismus

Titel
"Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Dynamik". Populäre Kultur, populärer Liberalismus und Bürgertum im ländlichen Süddeutschland 1850 bis 1930


Autor(en)
Heilbronner, Oded
Reihe
Forum Deutsche Geschichte 13
Erschienen
München 2007: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 28,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Frölich, Friedrich-Naumann-Stiftung Archiv des Deutschen Liberalismus

Der an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrende Verfasser hat in den letzten 15 Jahren neben zwei Monographien eine imposante Reihe von Aufsätzen zur Regionalgeschichte vorgelegt, die sich fast alle um die Themenkomplexe Katholizismus, ländliches Bürgertum und Nationalsozialismus in Südwestdeutschland zwischen 1848 und 1933 drehen. Dieses Buch stellt offensichtlich den Versuch einer Synthese dieser Untersuchungen dar. Aus einem solchen Vorhaben kann großartige Historiographie hervorgehen, es birgt aber auch Risiken in sich, indem man sich allzu sehr auf die Zusammenführung von heterogenen Elementen fixiert.

Für Heilbronner besteht das Verbindungsstück zwischen seinen unterschiedlichen Forschungsgegenständen in einem von der Liberalismus-Forschung bislang übersehenen „populären Liberalismus“, an anderen Stellen von ihm auch als „Radikalliberalismus“ bezeichnet, den es in dieser Ausprägung nur in bestimmten Gegenden des katholischen Süddeutschland gegeben habe und der später in die regionale NSDAP eingemündet sei: „In der vorliegenden Arbeit sind wir davon ausgegangen, dass die nationalsozialistische Partei für bestimmte Gruppen in bestimmten Regionen nichts anderes als eine Neuauflage einer alten Erscheinung, nämlich des deutschen Populärliberalismus, war.“ (S. 139) So lautet etwas kryptisch am Ende eine, wenn nicht die Hauptthese des Buches. Zentrale Elemente dieser Form des Liberalismus, in der Heilbronner vornehmlich eine „subkulturelle Reaktion“ als Parallele zum britischen „Popular Liberalism“ sieht (S. 178), waren neben wirtschaftsliberalen Überzeugungen vor allem ein virulenter Anti-Ultramontanismus, später auch Anti-Sozialismus, das Eintreten für eine nationalistisch-imperialistische Außenpolitik, ein ausgeprägtes Vereinswesen und eine radikal getönte Sprache. Von dieser Subkultur profitierten Heilbronner zufolge vor allem zwischen 1870 und 1880 die Nationalliberalen, die sich aber auch danach noch lange in einer für sie eher untypischen, ländlich-katholischen Umgebung erstaunlich gut halten konnten, bis sich während der Weimarer Republik diese (national-)liberalen Hochburgen auflösten und von der NSDAP beerbt wurden, wobei sich die örtlichen Nationalsozialisten dabei der zentralen Elemente dieser Subkultur bedienten und innerhalb der Gesamtpartei eine ähnliche Außenseiter-Rolle einnahmen wie zuvor die „Populärliberalen“ unter den Nationalliberalen (vgl. S. 84, 88, 120, 144ff.). In diesem Zusammenhang spricht der Autor wiederholt von einer „radikalliberalen Fraktion“ innerhalb der NSDAP (vgl. S. 89ff. u. 135f.), die sich aber im Zuge der auf die Machtergreifung folgenden Zentralisierung und Fixierung auf Hitler aufgelöst habe (S. 150).

Das klingt in der Zusammenfassung sehr provokativ und ist vom Autor vielleicht auch so gemeint, denn des öfteren polemisiert er gegen Lücken und blinde Flecke in der sozialgeschichtlich orientierten Bürgertums- und NS-Forschung, der ein kulturgeschichtlicher Ansatz entgegengesetzt werden soll: „Nicht die offiziellen Quellen in offiziellen Archiven, sondern die verborgenen Quellen der Kultur sind wirklich interessant.“ (S. 176, vgl. S. 157f.) Jedoch relativiert der Autor selbst immer wieder seine eigenen Thesen von der politisch-kulturellen Kontinuität zwischen (National-)Liberalismus und Nationalsozialismus in der von ihm untersuchten Region. So etwa in Bezug auf die Bedeutung der Weimarer Zeit für das „populärliberale“ Vereinswesen: Begann nun mit dem Ersten Weltkrieg eine „Zeit der Fülle“ (S. 76) für dieses oder war es ab dann „zum Untergang verurteilt“ (S. 78)? Trotz aller Kontinuitäten will Heilbronner die populistischen Nationalliberalen nicht als „Vorboten des Faschismus“ verstehen (S. 139). Auf der anderen Seite weist er auf programmatische und stilistische Gemeinsamkeiten hin, zu denen er neben den Agitationsformen über Vereine, Wanderredner und Wirtshausversammlungen auch die Orientierung auf den (Partei-)Führer nennt (vgl. S. 142ff.).

Hier sind dann auch methodische Einwände angebracht: Wenn es Parallelen in der Art gegeben hat, wie Parteipolitik im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gestaltet und kommuniziert worden ist, muss dies nicht unbedingt auf ideologische Gemeinsamkeiten hinweisen; die verschiedenen politischen Lager und Richtungen haben durchaus voneinander gelernt. So taucht der „Führer“-Begriff der Sache nach bereits früher und außerhalb der hier in Frage stehenden Region auf.1 Dass sich Sprösslinge aus Familien, die vormals mit dem Liberalismus in Verbindung standen, der NSDAP anschlossen, muss kein Zeichen von personeller Kontinuität zwischen beiden sein, insbesondere dann, wenn diese Nachkömmlinge zuvor selbst „nicht Mitglieder liberaler Parteien gewesen waren“ (S. 135f.). Überhaupt scheint Heilbronner die Besonderheit seiner regionalen Befunde zu überschätzen: Liberale Erfolge in mehrheitlich katholischen Gegenden gab es auch anderswo, zumindest im Umfeld der Reichsgründung, und die Überschneidungen von liberaler und konservativ-nationalistischer Wählerschaft sind zumindest seit der von Karl Rohe aufgestellten “Drei-Lager-Theorie“ ein in der Geschichtswissenschaft häufig diskutierter Gegenstand.2 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass es beispielsweise im Gebiet des heutigen Nordhessen zwischen 1885 und 1914 eine Reihe von Wahlkreisen gab, die zwischen Liberalen und Antisemiten heftig umkämpft waren, was nicht gerade auf kulturpolitische Affinitäten auch dort hindeutet, wobei beide Richtungen über populären Rückhalt verfügten. Auf den häufig anzutreffenden Protestcharakter des Votums für liberale Kandidaten (S. 95) hat bereits Thomas Nipperdey aufmerksam gemacht.3

Diese Dinge sind Heilbronner natürlich nicht unbekannt (vgl. S. 14), er will sie aber “kulturalistisch“ relativieren bzw. erweitern. Dass ihm dies gelingt, erscheint aber dennoch mehr als fraglich: Dagegen sprechen nicht nur die zahlreichen inhärenten Widersprüche in diesem Buch, sondern auch zwei sehr problematische Grundannahmen des Autors, die in den Augen des Rezensenten durch den eingangs erwähnten Synthese-Charakter des Buches bedingt sind. Zum einen konstruiert Heilbronner aus seinen Untersuchungsregionen eine Einheit, die er immer wieder als „Groß-Schwaben“ bezeichnet, ohne klar zu definieren, was damit gemeint ist: An einer Stelle (S. 153f.) wird kurz hintereinander zunächst das „südwestliche Oberbayern“ so bezeichnet, dann aber insinuiert, „Groß-Schwaben“ stehe für den gesamten südwestdeutschen Grenzraum von Memmingen bis Breisach, also für Teile von Bayern, Württemberg und Baden. Ob es in dieser Groß-Region aber vor und nach 1900 ein gemeinsames, zumal „schwäbisches“ Bewusstsein gegeben hat, erscheint mehr als diskussionswürdig. Genauso problematisch ist es, zwischen der Hochzeit des Nationalliberalismus, der auch in dieser Region vor 1880 lag, und dem Aufstieg des Nationalsozialismus ab 1929 allzu viele politisch-kulturelle Parallelen zu ziehen. Denn dazwischen lagen tief greifende soziale, politische und nicht zuletzt massenkulturelle Einschnitte und Veränderungen.

In Betracht ziehen muss man schließlich noch den – vorsichtig formuliert – unorthodoxen Aufbau des Werkes, auf die zwei Hauptteile zur „populären Kultur“ und „populären Politik“ folgt ein „Nachwort: Linien der Kontinuität“ sowie ein „Appendix: Methodologische Betrachtungen“, was zu zahlreichen Redundanzen führt. Auch wenn nicht abzusehen ist, welchen Anteil die Übersetzung an den Ungereimtheiten hat, kommen doch insgesamt erhebliche Zweifel an der wissenschaftlichen Fundierung des Phänomens „Populärer Liberalismus“ auf. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass viele interessante Einzelbeobachtungen, die Heilbronner zweifelsohne zur politischen Kultur in Südbaden und angrenzenden Gebieten gemacht hat, mit aller Macht in ein interpretatorisches Schema gepresst werden sollen. Insofern haben wir hier ein Beispiel dafür, dass nicht aus jeder Zusammenfassung von einzelnen Forschungsarbeiten eine gelungene Synthese hervorgehen muss.

Anmerkungen:
1 Möller, Frank, Heinrich von Gagern. Der Führer der liberalen Revolution, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 15 (2003), S. 119-132.
2 Rohe, Karl, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1992.
3 Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie. München 1992, S. 523.