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Titel
Musikstadt Wien. Die Konstruktion eines Images


Autor(en)
Nußbaumer, Martina
Erschienen
Anzahl Seiten
393 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Antonio Baldassarre, Zürich

Die besondere Bedeutung, welche die Musik in Österreich und zumal in Wien spielt, hat sich jüngst wieder einmal darin gezeigt, dass die Neubesetzung des Direktors der Wiener Staatsoper sich fast zu einem politischen Fiasko für den amtierenden Bundeskanzler entwickelt hätte. Medienkommentatoren rätselten darüber, ob es sich bei der Entscheidung der österreichischen Kulturministerin um einen Putschversuch gegen den Kanzler aus den eigenen Reihen gehandelt habe. Was anderswo vermutlich – wenn überhaupt – die Bedeutung eines bloßen Sommerdramas gehabt hätte, wurde im österreichischen bzw. wienerischen Kontext zu einer wahren Staatskrise hochgespielt.

Solche und ähnliche Beispiele nähren und dokumentieren zugleich die im kulturellen Gedächtnis tief verankerte Vorstellung von Wien als dem Epizentrum der musikalischen Welt. Nachdem bereits einige Untersuchungen zu diesem Themenkomplex insbesondere für die Zeit von 1900 bis etwa 1950 vorliegen, hat sich Martina Nußbaumer mit ihrer Studie jener Zeit zugewendet, in welcher sich die Vorstellung von Wien als Musikstadt herausgebildet hat und der Prozess ihrer materiellen und diskursiven Gerinnung den Ausgang nahm. Dabei untersucht sie mit Akribie die Konzepte, Strategien und Praktiken, welche maßgeblich an der Konstruktion dieses Images beteiligt waren und geht detailliert auf die sozialen und politischen Gruppen mit ihren partikulären Interessen ein, welche sich an dieser Imagekonstruktion beteiligten.

Auf der Grundlage eines reichen Quellenmaterials deutet sie die Arbeit am Topos von Wien als Musikstadt als einen primär "männlich" geprägten identifikationsstiftenden, aber keineswegs immer homogenen Diskurs, welcher sich als hochkomplexes Zusammenspiel kultur- und gesellschaftspolitischer und später auch tourismusökonomischer Aspekte mit volkserzieherischen und staatstragenden Implikationen erweist. In ihren methodischen und theoretischen Überlegungen macht Nußbaumer deutlich, dass solche identifikationsstiftenden Diskurse keineswegs "immer Resultat eines bewussten, intentionalen Vorgehens sein müssen" (S. 23). Denn "Individuen [sind] nie restlos auf ihre rational rekonstruierbaren Interessen und Wertideen reduzierbar" (ebd.). Nach Philipp Sarasin (dessen theoretische Maximen einen wichtigen Angelpunkt von Nußbaumers Studie mit entsprechenden methodischen Konsequenzen bilden) sind vielmehr die übergeordneten Diskursmuster zu untersuchen. Allerdings setzt eine solche Analyse ebenfalls die Erkundung der "Räume" voraus, in welchen die Diskurse stattfinden. Denn die Strukturierung der Räume ist maßgeblich an der Herausbildung diskursiver Muster beteiligt. Eine solche Analyse hat, wie Pierre Bourdieu mit seiner in verschiedenen Studien entwickelten Feldtheorie gezeigt hat (auf welche Nußbaumer erstaunlicherweise nie explizit zu sprechen kommt, so sehr ein Rekurs darauf durch die Themenstellung gegeben gewesen wäre), die in den "Räumen" wirkenden und diese definierenden Kräfte und Widersprüche zu analysieren sowie die jeweiligen Positionen der in diesen Räumen am Diskurs beteiligten Akteure mit ihren Kapitalformen zu klären. Damit können beispielsweise auf den ersten Blick seltsame Phänomene, wie etwa der Anspruch der Wiener Arbeiterschaft um 1900, "die eigentliche Hüterin des musikkulturellen Erbes der Stadt" (S. 188) zu sein, nicht nur als "Abrechnung der Arbeiter-Zeitung mit den von der christlichsozialen Stadtregierung" (ebd.) dominierten Mozart-Feierlichkeiten von 1906 beschrieben, sondern vielmehr als Ausdruck eines insgesamt veränderten politischen Kräfteverhältnisses und eines damit korrespondierenden neuen Führungsanspruchs der Arbeiterschaft gedeutet werden, in welchem sich diese explizit symbolische Kapitalformen der herrschenden Elite aneignete, wie zum Beispiel durch die Schaffung der so genannten Arbeiter-Sinfoniekonzerte.

Einen entscheidenden Punkt in der Herausbildung des Topos von Wien als der Stadt der Musik ortet Nußbaumer in den Krisenjahren der Habsburger Monarchie in den 1860er-Jahren, welche durch den Verlust der norditalienischen Provinzen, die Niederlage bei Königgrätz und den weitum als Unglück beurteilten Ausgleich mit Ungarn geprägt waren (S. 44-46). Das reichlich angeschlagene politische Selbstbewusstsein wurde mittels Verlagerungs- und Kompensationsprozessen gleichsam wieder hergestellt, indem man sich nach dem Verlust der politischen Vormachtsstellung als Weltzentrum der Musik inszenierte. Daraus resultierte eine "musikbezogene Kulturgeographie in der Wiener Innenstadt", welche nicht nur "bis heute als Rahmen für alle prominenten Inszenierungen der ‚Musikstadt' dient" (S. 355-356), sondern auch lokal und (über)national stark identifikationsbildend wirkte und noch immer wirkt. Der universale Geltungsanspruch wurde – wie Nußbaumer überzeugend ausführt – nicht nur durch die zunehmende Verlagerung der vorerst privat organisierten und von den Liberalen getragenen Inszenierungsprozesse in die Öffentlichkeit verstärkt (wo dann vor allem die christlichsozialen und später die sozialdemokratischen Kräfte unter Rekurs auf die stark bildungsbürgerlich bestimmten liberalen Inszenierungsmuster die Führung übernahmen), sondern auch durch eine latent immer mit schwingende Überlagerung von österreichischer und deutscher Musikkultur und einem damit korrespondierenden Hegemoniedenken. Diese Denkfigur hat sich nicht nur in die urbane Topographie Wiens fest eingeschrieben, beispielsweise mit der Erbauung des Musikvereins als Ort der Pflege des österreichisch-deutschen Instrumentalmusikrepertoires, mit Straßenbenennungen und den zahlreichen Denkmälern für "österreichische" und "deutsche" Komponisten, sondern hat sich auch in den vielen Gedenkfeierlichkeiten, Reiseführern und ethnographischen Berichten sowie in der "Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen" von 1892 niedergeschlagen, welche "Wien als ,Mittelpunkt der musikalischen Welt'" (S. 355) feierte.

Dass der überzeugenden Studie von Martina Nußbaumer eine breitere, auf die Musik selbst referierende Diskussion dieser Überlagerungsmechanismen von "deutscher" und "österreichischer" Musikkultur – deren gesellschaftspolitisches und sozialpsychologisches Korrelat das für die österreichische Selbstdefinition so auffällige, bis weit ins 20. Jahrhundert fortlebende Schwanken zwischen "deutscher Kulturnation" und "Staatsnation" ist – fehlt, kann man nur bedauern, insbesondere weil es ihre insgesamt schlüssige Argumentation unterstützt hätte. Das Fehlen dieser Diskussion kann aber als ein bedauerliches Zeichen einer in der kulturwissenschaftlichen und musiksoziologischen Praxis oft zu beobachtenden Scheu gedeutet werden, sich auf die Musik selbst und die mit ihr verwobenen ästhetischen Diskurse einzulassen. Die Idee von der Vormachtsstellung der deutschen Musik, welche in dem von Nußbaumer diskutierten Kontext auf die Wiener Musikkultur appliziert wurde, hing im 19. Jahrhundert stark mit der Reflexion über die Bedeutung und den Rang der Instrumentalmusik sowie ihrem von Wien aus genommenen Aufschwung zusammen – der Topos von Wien als der musikalischen Welthauptstadt ist stark mit der Emanzipation der Instrumentalmusik Ende des 18. Jahrhunderts verwoben. War diese Reflexion zunächst regional und sozial begrenzt, entwickelte sie sich zu einem Charakteristikum im europäischen Musikdenken. Diese besonders in der deutschen Literatur und Philosophie um 1800 herausgebildete Idee von einer "begriffs-, objekt- und zwecklosen" Instrumentalmusik war von Anfang an auf Engste mit der Vorstellung verwoben, dass die Instrumentalmusik eine Ausprägung der deutschen Musikkultur sei, wozu Österreich bis zur Niederlage von Königgrätz ganz selbstverständlich gehörte (im allgemeinen Verständnis des 19. Jahrhunderts waren deshalb Schubert und Mozart "deutsche" Komponisten, nicht aufgrund politischer, sondern kultureller Parameter). Das Zusammenspiel zwischen dem zunächst musikimmanent und ästhetisch begründeten außerordentlichen Prestige der deutschen Musik im 19. Jahrhundert und einem davon dann abgeleiteten, vor allem geschichtsphilosophisch determinierten Hegemoniedenken sowie dem in der Wiener und österreichischen Mentalität stark verankerten Verständnis, nicht nur Teil der deutschen Kulturnation, sondern durch eine im Wiener und österreichischen Volkscharakter vorgegebene spezifische positive Disposition für alles Musikalische auch einzig legitimer Hüter dieses kulturellen Erbes zu sein, war eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass man sich bei den lokalen und nationalen Identifikationsprozessen im "österreichischen" Wien nach Königgrätz auf das Paradigma der "deutschen" Musikkultur berief.

Insgesamt bietet die konzise Studie von Martina Nußbaumer einen äußerst interessanten Blick von Innen und eine anregende Lektüre, an welchem die zukünftige musikhistorische und musiksoziologische Forschung über Wien nicht vorbeigehen kann. Zudem ist sie sprachlich gelungen (dankenswerterweise hat man durch Beibehaltung zahlreicher Austriazismen die Herkunft und kulturelle Verankerung der Studie nicht verdeckt). Es bleibt zu hoffen, dass Nußbaumers mit dem Victor-Adler-Preis ausgezeichnete Abhandlung bald eine, sich auf entsprechend breitem Quellenmaterial abstützende Studie folgt, welche auf vergleichbare seriöse wissenschaftliche Weise die Mechanismen der internationalen Adaptation des Topos von Wien als der musikalischen Welthauptstadt erkundet und damit auch die Interdependenzen interner und externer Strategien und Praktiken bei der Verankerung dieses Topos im allgemeinen kulturellen Gedächtnis untersucht.

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