Th. Hidber: Herodians Darstellung der Kaisergeschichte

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Titel
Herodians Darstellung der Kaisergeschichte nach Marc Aurel.


Autor(en)
Hidber, Thomas
Reihe
Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft 29
Erschienen
Basel 2006: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
VII, 310 S.
Preis
€ 61,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kordula Schnegg, Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Das Buch „Herodians Darstellung der Kaisergeschichte nach Marc Aurel“ von Thomas Hidber stellt die überarbeitete und erweiterte Fassung seiner Dissertation dar, die 1999 an der Universität Bern angenommen wurde. Die Studie konzentriert sich auf den spätkaiserzeitlichen Autor Herodian, der im 3. Jahrhundert n.Chr. ein acht Bücher umfassendes Werk über die Kaisergeschichte vom Tod Marc Aurels (180 n.Chr.) bis zum Regierungsantritt Gordians III. (238 n.Chr.) verfasst hat. Hidbers Arbeit gliedert sich in vier Hauptkapitel: Im ersten Kapitel „Ein Autor ohne Geschichte und die Geschichte seines Geschichtswerkes“ (S. 1-71) stehen der Historiograph selbst sowie die Rezeptionsgeschichte des Werkes im Mittelpunkt der Untersuchung. Das Proömium und das in ihm dargelegte historiographische Programm sind der Forschungsgegenstand des zweiten Hauptkapitels („Das Proömium: Der historiographische Pakt“, S. 72-123). Das dritte Kapitel „Die Ordnung der Geschichte“ (S. 124-187) ist der Disposition des Stoffes gewidmet. Hier wird auch auf mögliche Quellenvorlagen und Eigenheiten von Herodians Werk näher eingegangen. Im vierten Kapitel „Der lange Schatten Marc Aurels“ (S. 188-272) behandelt Hidber die im Werk tradierten Normvorstellungen. Die literarische Figur Marc Aurel spielt dabei eine zentrale Rolle. In einem Epilog (S. 273-278) sind noch einmal die wichtigsten Ergebnisse der umfangreichen Studie prägnant zusammengefasst. Das Literaturverzeichnis (S. 279-297) bietet einen sehr guten Überblick über die besprochene Literatur. Für spezielle Forschungsberichte und -überblicke wird auf weiterführende Arbeiten verwiesen (S. 279). Das Personen- und Sachregister umfasst nur wenige Seiten (S. 298ff.). Dass im Sachregister bestimmte griechische Termini, die in der Studie besondere Berücksichtigung finden, in einer Rubrik extra aufgelistet sind (S. 300f.), erleichtert dem Rezipienten bzw. der Rezipientin die Begriffssuche. Ein umfassendes Stellenregister (S. 301-310) bildet den Abschluss des Buches.

Im Folgenden soll auf einzelne Aspekte näher eingegangen werden: Im ersten Hauptkapitel geht Hidber der sozialen Stellung und der geographischen Herkunft des Autors aus einer rezeptionsgeschichtlichen Perspektive nach. Anders als bei den zeitlich etwas früher wirkenden Historiographen Appian und Cassius Dio sind keine expliziten Hinweise auf den Verfasser im Werk selbst zu finden. Diesen Sachverhalt deutet Hidber als literarische Strategie, mit der der antike Autor seinem Werk eine gewisse Glaubwürdigkeit schenken will – gemäß der Aufforderung Lukians, ein Historiograph soll in seinem Werk ein Fremdling und ein Mann ohne Vaterland bleiben (S. 4f.).1 Ein weiterer (möglicher) Grund für die Zurückhaltung des Verfassers in Bezug auf die Selbstdarstellung im Werk könnte die bewusst inszenierte Besonnenheit sein, so Hidber (S.123), die als eine der Kardinaltugenden bei Herodian auszumachen ist (S. 191-194). Besonders spannend gestalten sich die einzelnen Abschnitte zur Wirkungsgeschichte des Werkes, die unter dem prägnanten Titel „Herodian und seine Leser: Eine Erfolgsgeschichte und ihr jähes Ende“ (S. 16-71) zusammengefasst sind. Die Rezeptionsgeschichte ist überschaubar und verständlich dargestellt. Ihre Lektüre ist eine Freude für jeden Historiker und jede Historikerin, der oder die sich speziell für die Geschichte der Quellenüberlieferung und -interpretation interessiert.

Überzeugend kann Hidber den in der Forschung erhobenen Vorwurf, Herodians Werk sei kein Geschichtswerk, sondern ein historischer Roman, entkräften (speziell S. 58-71). Es zeigt sich hier ein besonderes Interesse Hidbers: Mit der Gattungszugehörigkeit der Komposition Herodians beschäftigt sich der Wissenschaftler schon seit geraumer Zeit.2 Die Bedeutung des Werkes sieht Hidber zusammenfassend folgendermaßen: „Während also aus historischer Sicht, d.h. im Hinblick auf die Rekonstruktion geschichtlicher Abläufe und Ereignisse, mit diesem Text kaum etwas anzufangen ist, stellt sich umso deutlicher die Frage nach seiner literarischen Qualität und Funktionsweise sowie nach dem von ihm vermittelten Epochenbild.“ (S. 65) Aber genau diese zuletzt genannten Aspekte, die Funktionsweise eines Textes und das vermittelte Epochenbild, sind für die historische Forschung, sofern sie sich nicht ausschließlich mit Personen- und Ereignisgeschichte beschäftigt, immens wichtig. Werden doch dadurch Normen und Traditionen greifbar, die uns über eine bestimmte Zeit, eine bestimmte soziale Gruppe Auskunft geben. Unter dieser Perspektive kann man Herodian durchaus eine noch größere historische Bedeutung beimessen, als dies Hidber in diesem Zusammenhang tut.

Im zweiten Kapitel wird das Augenmerk auf das Proömium im engeren Sinn (Herodian. 1,1,1-6) und den Einleitungsteil (Herodian. 1,2,1-5) gelegt. Unter Einbeziehung aktueller literaturwissenschaftlicher, vornehmlich narratologischer Ansätze macht Hidber den „historiographischen Pakt“ Herodians sichtbar, mit dem der Autor das Lesepublikum über „Gattungszugehörigkeit, Form, Anspruch und Inhalt des Textes und den damit verbundenen idealen Rezeptionsmodus“ (S.72) informiert. Mittels eines breit angelegten Quellenvergleichs zeigt Hidber zum einen die Traditionen auf, in denen Herodian mit seinem historiographischen Programm steht (vor allem Herodot und Thukydides), zum anderen betrachtet er aber auch die Spezifika, die sein Geschichtskonzept anderen Modellen gegenüber auszeichnet und einzigartig macht. Hidber kann durch seine detaillierte Analyse aufzeigen, dass der in der Forschung lange Zeit erhobene Vorwurf, Herodian biete durch seine Reminiszenzen an Herodot und Thukydides einerseits und durch seine Entlehnungen aus der hellenistischen Historiographie andererseits lediglich ein oberflächlich gestaltetes Vorwort, nicht gerechtfertigt ist (S. 72-123). Herodian hat – wie Hidber eindrucksvoll nachweisen kann – sehr wohl ein eigenständiges historiographisches Programm entwickelt, aufbauend auf den ihm zur Verfügung stehenden Formen und Mitteln der Geschichtsschreibung seiner Zeit. Herodian kündigt seinem Lesepublikum an, was es bei der Lektüre seiner Schrift zu erwarten hat. Er macht darauf aufmerksam, dass er eine Zeitgeschichte verfasst (S. 121). Damit will er nicht nur ein zeitgenössisches Publikum, sondern auch künftige Generationen erreichen (Herodian. 1,1,3; S. 75). Dass in seinem historiographischen Programm zwar das Vergnügen für das Lesepublikum, nicht aber ein Nutzen erwähnt wird, ist etwas Besonderes für die antike Historiographie (S.121).

Im dritten Kapitel geht Hidber den Fragen nach, inwiefern Herodian seinem im Vorwort angekündigten Programm im Gesamtwerk gerecht wird und wie sich biographische und chronologische Gliederungsprinzipien auf die Geschichtsdarstellung auswirken. Im Hinblick auf die Ordnung der Geschichte sind die von Hidber als „Machtwechselgeschichten“ bezeichneten Textpassagen besonders auffallend: Herodian selbst misst dem Machtwechsel in seinem Geschichtswerk eine große Bedeutung bei und beschreibt Szenen in diesem Rahmen sehr ausführlich (S. 186). So wird etwa der durch eine Verschwörung hervorgerufene Untergang von Commodus, welchem eine erzählte Zeit von nur 24 Stunden zugeschrieben wird, in insgesamt fünf Kapiteln dargestellt (S. 139). Hidber bietet in diesem Zusammenhang eine detaillierte und umfassende Textanalyse aus narratologischer Perspektive. Einzelne Auflistungen, wie der prozentuale Anteil der einzelnen Bücher an der insgesamt erzählten Zeit (S. 137) bzw. am Zeilenumfang des Gesamtwerkes (S. 138) in den tabellarischen Übersichten, visualisieren dabei bestimmte Aspekte der literarischen Komposition sehr deutlich; ihre Verwendung für eine historische Analyse scheint jedoch begrenzt.

Das letzte Hauptkapitel setzt sich mit dem idealen Herrscher auseinander, der in der literarischen Figur Marc Aurel symbolisiert wird. Mittels seiner Figur vermittelt Herodian einen „moralischen Pakt“ (S. 190). Marc Aurel wird von Herodian als ein erfolgreicher und moralisch standhafter Kaiser dargestellt, der selbst am Sterbebett mit Sorge um seinen Sohn beschrieben wird (S. 190). An der idealen Kaiserfigur Marc Aurel werden dann alle Nachfolger bis Gordian III. gemessen; fehlende Qualitätskriterien für einen idealen Herrscher (Herrschertugenden, Lebenserfahrung, Paideia) gibt Herodian als Erklärung für das Fehlverhalten bzw. den Untergang der Nachfolger Marc Aurels an. Sehr spannend gestaltet sich auch in diesem Kapitel die Textanalyse aus narratologischer Perspektive. Hidber untersucht dabei etwa die Funktion des „Focalizers“ in Herodians Werk. Als solche werden jene literarischen Figuren bezeichnet, die eine besondere Erzählfunktion erhalten (S. 252). Bei Herodian lassen sich insgesamt drei davon ausmachen: Marc Aurel, Septimius Severus und Iulia Maesa (S. 252). Die Tatsache, dass auch eine weibliche Figur diese besondere Erzählfunktion zugeschrieben bekommt, lässt neue wissenschaftliche Erkenntnisse in Bezug auf die Geschlechtervorstellungen bei Herodian erwarten, zu denen die auf Handlungen und Handlungsmotivationen konzentrierte Textanalyse von Barbara Kuhn-Chen nur sehr begrenzte Aussagen erlaubt.3

Mit dieser umfassenden Textanalyse von Hidber liegt für die altertumswissenschaftliche Forschung eine weitere Studie vor, die die Besonderheiten von Herodians Werk aufzeigt.4 Der Verfasser bietet sehr viele Quellenvergleiche, die der Rezipientin oder dem Rezipienten das Werk Herodians näher bringen. Diese Quellenvergleiche, die von der Belesenheit und breiten Quellenkenntnis Hidbers zeugen, erschweren jedoch mitunter die Lektüre. Die Besonderheit dieses Buches liegt in der Verwendung aktueller literaturwissenschaftlicher Methoden, vor allem aus der Narratologie. Der spezielle Zugang zur antiken Quelle erweist sich als überaus Erkenntnis gewinnend. Die Studie von Hidber sollte daher in keiner altertumswissenschaftlichen Bibliothek fehlen.

Anmerkungen:
1 Lukian. Hist. Conscr. 41.
2 Vgl. Hidber, Thomas, Zeit und Erzählperspektive in Herodians Geschichtswerk, in: Zimmermann, Martin (Hrsg.), Geschichtsschreibung und politischer Wandel im 3. Jh. n.Chr., Stuttgart 1999, S. 145-167.
3 Kuhn-Chen, Barbara, Geschichtskonzeptionen griechischer Historiker im 2. und 3. Jahrhundert n.Chr. Untersuchungen zu den Werken von Appian, Cassius Dio und Herodian, Frankfurt a. Main u.a. 2002, S. 249-327. Vor allem fehlen in Herodians Werk umfangreichere Informationen über Handlungen und Handlungsmotivationen weiblicher Figuren.
4 Für die deutschsprachige Forschung sei in diesem Zusammenhang auf zwei zuletzt erschienene Publikationen verwiesen: Barbara Kuhn-Chen (wie Anm. 3); Zimmermann, Martin, Kaiser und Ereignis. Studien zum Geschichtswerk Herodians, München 1999.

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