F. Renken: Frankreich im Schatten des Algerienkrieges

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Titel
Frankreich im Schatten des Algerienkrieges. Die Fünfte Republik und die Erinnerung an den letzten großen Kolonialkonflikt


Autor(en)
Renken, Frank
Erschienen
Göttingen 2006: V&R unipress
Anzahl Seiten
569 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathilde von Bülow, School of History, University of Nottingham

Der Algerienkrieg (1954-1962) ist in der heutigen französischen Medien- und Wissenschaftslandschaft so allgegenwärtig, dass man sich kaum vorstellen kann, dass dies einst nicht der Fall gewesen ist. Tatsächlich blieb Frankreichs letzter, brutalster und traumatischster Kolonialkrieg aber jahrelang ein Tabuthema. Erst in den 1990er-Jahren, und vor allem nach der Jahrtausendwende, kam es zu einer fast überstürzten Enttabuisierung dieses Konfliktes. Im Juni 1999 erkannte die französische Nationalversammlung einstimmig die historische Existenz des „Algerienkrieges“ an. (Bezeichnend ist schon, dass ein solcher Beschluss für nötig gehalten wurde.) Gleichzeitig erschien eine Flut von Zeitzeugenberichten, Dokumentationen, Zeitungsdossiers und wissenschaftlichen Monografien zu diesem Thema. Der Konflikt wurde selbst Gegenstand neuer politischer Auseinandersetzungen, wie zum Beispiel im Streit um den Gesetzesartikel vom 23. Februar 2005, der eine positive Darstellung von Frankreichs kolonialer Vergangenheit im Schulunterricht vorschreiben wollte. Diese Entwicklungen werfen zwei wichtige Fragen auf: Warum blieb der Algerienkrieg in Frankreich so lange ein unantastbares Thema? Und wieso wurde das Tabu in jüngster Zeit schließlich durchbrochen?

Frank Renkens Dissertationsschrift, die 2004 an der Freien Universität Berlin verteidigt und 2006 in überarbeiteter Form veröffentlicht wurde, befasst sich mit diesen beiden Problemen. Um die Gründe des langjährigen Schweigens aufzudecken, setzt sich Renken mit zwei zusammenhängenden und grundsätzlichen Fragen auseinander: „Welche Funktion spielt Geschichte [d.h. in diesem Fall diejenige des Algerienkrieges] in gegenwärtigen politischen Prozessen? Und umgekehrt: Wie wirken gegenwärtige Ereignisse und Veränderungen auf die historische Wahrnehmung [des Algerienkonfliktes] ein?“ (S. 9) Das Buch befasst sich also einmal mehr mit vieldiskutierten Konzepten wie „Geschichtspolitik“ und „kollektives Gedächtnis“. Der methodische Ansatz der Arbeit unterscheidet sich allerdings grundlegend von anderen Publikationen zur Erinnerung an den Algerienkrieg, vor allem von denen des bekannten französischen Vorreiters auf diesem Gebiet, Benjamin Stora.1 Im Gegensatz zu Storas „idealistisch-moralisierende[r]“ Interpretation (S. 465), die das Schweigen um den Algerienkrieg als Resultat der Massenverdrängung einer durch die Kriegsereignisse traumatisierten Gesellschaft deutet, vertritt Renken die These, dass Amnesie und Verleugnung die Folgen von politischen Widersprüchen und Konvergenzen gewesen seien. Er geht also von der Prämisse aus, dass Erinnerung und Geschichtspolitik Produkte politischer Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Parteien und Interessenverbänden seien. Eine Untersuchung der geschichtspolitischen Debatten um den Algerienkrieg könne daher nicht in einem rein psychologischen Rahmen stattfinden, sondern müsse sich auf einen konkreten gesellschaftlichen und politischen Kontext beziehen.

Für Renken besteht dieser Kontext aus der sozio-politischen Entwicklung Frankreichs von der Zeit des Algerienkrieges bis in die Gegenwart, die folglich den chronologischen Rahmen seiner Arbeit bildet. In sechs zeitlich parallel angelegten Abschnitten untersucht der Autor die Rolle der wichtigsten Gedächtnisträgergruppen in der historisch-ideologischen Auseinandersetzung um den Algerienkrieg. So beginnt Teil II der Arbeit mit einer gründlichen Analyse der Rolle Charles de Gaulles in der Formulierung der hegemonialen Kolonialdoktrin und Geschichtsauffassung. In den folgenden zwei Abschnitten befasst sich Renken mit der Frage, warum die von de Gaulle „verordnete Tabuisierung“ (S. 462) des Algerienkrieges sich so lange halten konnte. In Teil III wird einerseits untersucht, inwieweit die franko-algerischen Beziehungen auf die Formulierung der staatlichen Geschichtsinterpretation eingewirkt haben; andererseits wird herausgearbeitet, inwiefern die Erinnerung an den Algerienkrieg selbst ein Störfaktor im bilateralen Verhältnis war. Teil IV diskutiert die wichtige Frage, wieso sich die gaullistische Interpretation des Algerienkonflikts auch in der Linken durchsetzen konnte. In Teil V behandelt Renken die Rolle der ehemaligen französischen Soldaten und vor allem der Veteranenverbände in der andauernden Erinnerungs- und Geschichtsdebatte um den Algerienkonflikt – stand deren Existenz doch in einem „lebenden Widerspruch zur Verleugnung des Krieges durch die verschiedenen Regierungen“ der Fünften Republik (S. 32). Teil VI befasst sich wiederum mit der Frage, inwieweit die Erben des „Algérie française“ in der Armee, in den Verbänden der „rapatriés“ (französische Rücksiedler aus Algerien) und in der neofaschistischen „Front National“ ihre Version der gaullistischen Algerienpolitik als Preisgabe und Verrat propagieren konnten. Im letzten Teil behandelt Renken schließlich die Rolle verschiedener meinungsbildender Instanzen in der Vermittlung bzw. Nichtvermittlung eines historischen Bewusstseins in Bezug auf den Algerienkrieg (Fernsehen, Kino, Schulbücher, Zeitgeschichtsforschung).

Vermutlich schon aus praktischen Gründen beschränkt sich das Buch auf eine Analyse der öffentlichen Debatte zum Algerienkrieg und ihrer langjährigen Konjunktur. So stützt sich Renkens Untersuchung auf eine beeindruckende Fülle von Printmedien, Partei- und Verbandsorganen, wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Fernsehprogrammen, Kinofilmen, Schul- und Lehrplänen, parlamentarischen Debatten und sogar Internetseiten. Archivalien hingegen finden weniger Verwendung. Dies erscheint verständlich, wenn man die breite Anlage von Renkens Arbeit bedenkt, den manchmal schwierigen Zugang zu einigen Nachlässen und Beständen der staatlichen Institutionen und Parteien in Frankreich sowie die Tatsache, dass gemäß dem französischen Gesetz nur solche Archivalien zugänglich sind, die vor mehr als 30 Jahren entstanden sind. Mit Hilfe seiner dennoch breiten Quellenbasis stellt Renken fest, dass der Algerienkrieg geschichtspolitisch zu einer impliziten Interessendeckung zwischen den französischen Parteien führte. Staatlich bzw. nationalgeschichtlich gesehen war (und bleibt) der Algerienkrieg ein nicht erinnerbares Ereignis, da er die Gesellschaft polarisiert. Tabuisierung und Vergessen waren nicht Produkte eines gesellschaftlichen Traumas, sondern dienten (und dienen) dem politischen Zweck, zur Aussöhnung der Gesellschaft und zur Akzeptanz der Institutionen der Fünften Republik beizutragen. Nicht zuletzt sollte auch die Mitverantwortung der linken Parteien für die Radikalisierung des Algerienkrieges zur Zeit der Regierung Guy Mollets (1956/57) verdeckt werden.

Renkens Analyse ist profund und durchdacht, wenn auch manchmal etwas schwerfällig und redundant. Dies liegt vor allem an der Struktur der Arbeit, die zu Überschneidungen und Wiederholungen von wichtigen Themen führt, wie etwa der Folterdebatte. Renkens geschichtspolitische Begründungen für die langjährige Tabuisierung des Algerienkrieges wirken überzeugend und bilden einen nützlichen Gegenpol zur führenden psychologisch-moralischen Interpretation der Gedächtnisgeschichte des Algerienkrieges. Wie er die Enttabuisierung dieses Konflikts erläutert, ist allerdings nicht ganz so einleuchtend. Der Wandel der staatlichen und parteipolitischen Geschichtspolitik seit den 1990er-Jahren wird zum Beispiel weniger detailliert untersucht als die vorangehenden Jahrzehnte, was an der Quellensituation für diese Zeit und an der schieren Breite der Arbeit liegen mag. Man hätte vielleicht auch die internationalen Trends noch stärker berücksichtigen können, die in den 1990er-Jahren in Frankreich und in anderen Ländern zu einer selbstkritischeren „negativen“ Erinnerung an die Verbrechen der eigenen Nation geführt haben (vor allem, natürlich, an die Verbrechen der NS-Zeit).2 Bedauerlich ist außerdem, dass Renken die Rolle algerischer Migranten bei der Umwälzung staatlicher Geschichtspolitik und öffentlicher Erinnerungsdebatten seit den 1990er- Jahren nicht näher betrachtet, vor allem die Rolle der Nachfolger der „harkis“ (muslimische Hilfstruppen der französischen Armee).

Darüber hinaus lässt sich fragen, ob und inwieweit man das „Trauma“ und die psychologische „Verdrängung“ wirklich ganz aus der Geschichtspolitik und Erinnerungsdebatte um den Algerienkrieg herauslassen kann. Folter, Terror, Zwangsumsiedlungen und Massenflucht waren schließlich kaum mit den republikanischen Idealen der französischen Nation zu vereinbaren; sie hinterließen sowohl sichtbare als auch unsichtbare Spuren. Wäre es daher nicht an der Zeit, den psychologischen Ansatz Storas und die geschichtspolitische Interpretation Renkens miteinander zu verknüpfen, um ein ausgewogeneres und vollständigeres Bild des Umgangs mit dem Algerienkrieg zu gewinnen?3 Eine Synthese der diversen Interpretationsweisen des Algerienkonflikts steht noch aus. In der Zwischenzeit bildet Renkens Arbeit einen wichtigen und originellen Beitrag zum Verständnis des Umgangs bzw. Nicht-Umgangs mit dem Algerienkrieg. Für Studenten und Zeitgeschichtsforscher gleichermaßen stellt das Buch eine höchst empfehlenswerte Lektüre dar.

Anmerkungen:
1 Stora, Benjamin, La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie, Paris 1992; ders., Imaginaires de guerre. Algérie – Viêt-nam, en France et aux Etats-Unis, Paris 1997; ders., Le transfert d’une mémoire. De l’ ’Algérie française’ au racisme anti-arabe, Paris 1999; Harbi, Mohammed; Stora, Benjamin (Hrsg.), La Guerre d’Algérie. 1954–2004, la fin de l’amnésie, Paris 2004 (rezensiert von Inès Tobis und Philipp Zessin: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-223>).
2 Siehe z.B.: Frei, Norbert; Knigge, Volkhard (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002 (rezensiert von Jan-Holger Kirsch: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1310>).
3 Einen ersten Schritt in diese Richtung hat Renken schon mit einem Sammelband unternommen: Kohser-Spohn, Christiane; Renken, Frank (Hrsg.), Trauma Algerienkrieg. Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts, Frankfurt am Main 2005 (rezensiert von Marcel Streng: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-011>). Allerdings ist dieser Reader eher als eine Einführung in die verschiedenen Ansätze des Umgangs mit dem Algerienkrieg zu werten.

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