Geschichte Indiens und seiner Historiografie(n)

Conermann, Stephan (Hrsg.): Die muslimische Sicht (13. bis 18. Jahrhundert). . Frankfurt 2002 : Humanities Online, ISBN 3-934157-22-X 350 S. € 32,00

: Das Mogulreich. Geschichte und Kultur des muslimischen Indien. München 2006 : C.H. Beck Verlag, ISBN 3-406-53603-4 128 S. € 7,90

Gottlob, Michael (Hrsg.): Historisches Denken im modernen Südasien (1876 bis heute). . Frankfurt 2002 : Humanities Online, ISBN 3-934157-23-8 474 S. € 34,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Mann, FernUniversität Hagen

Ausdruck eines seit geraumer Zeit wachsenden Eindrucks der Globalisierung in den europäischen und nordamerikanischen Geschichtswissenschaften ist das zunehmende Interesse an außereuropäischen Regionen, ihren Gesellschaften und ihrer Geschichte. Global History als jüngstes Interessengebiet von HistorikerInnen dürfte sicherlich der deutlichste Niederschlag sein. Doch auch auf dem Gebiet der Historiografiegeschichte tut sich jüngst etwas. Galt Geschichte und ihre Schreibung bisher als eine Domäne des Westens, so wurde im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte zur Kenntnis genommen, dass es in vielen anderen Weltregionen eine teilweise beachtliche historiografische Tradition gegeben hat und bis heute gibt. Das gilt insbesondere für Südasien bzw. den indischen Subkontinent. Gerade an ihm hatten europäische Historiker das kulturell-zivilisatorische Andere schon im 18. Jahrhundert mit Hilfe einer angeblich fehlenden Geschichtsschreibung ausfindig gemacht. Generell – so die Auffassung bis in die jüngste Vergangenheit und bei manch einem Indologen bis in die Gegenwart – mangele es Indern an historischem Bewusstsein, weshalb sie auch nicht historisch denken können.

Dem orientalistischen Konstrukt (im Sinne Edward Saids) versucht seit den späten 1990er-Jahren ein engagierter Kreis deutscher Südasien-Historiker entgegen zu wirken, eingebunden in eine Reihe, die den ambitionierten Titel „Geschichtsdenken der Kulturen – Eine kommentierte Dokumentation“ trägt. Abgedeckt werden sollen Südasien, China und die islamischen Kernländer. Von den drei Bänden zu Südasien liegen bislang zwei vor, die hier besprochen werden. Den ersten Band der chronologischen Ordnung soll Georg Berkemer zu der hinduistischen, jainistischen und buddhistischen Historiografie noch liefern. Dem schließt sich als zweiter der Band zur „muslimischen Sicht“ an, gemeint ist die Historiografie aus der Feder muslimischer Geschichtsschreiber, gefolgt vom dritten Band zur Geschichtsschreibung im „modernen Südasien“, genau von 1786 bis in die Gegenwart. Besonderes Verdienst der Reihe ist es, dass sie zahlreiche zentrale Texte der südasiatischen Historiografie und ihre Autoren in einer umfangreichen Einleitung nicht nur historisch verortet, sondern sie in Auszügen übersetzt und damit einem breiteren, gleichwohl akademischen Lesepublikum zugänglich macht.

In seiner Einleitung zum Band „Die muslimische Sicht“ (S. 9-87) hebt Stephan Conermann auf das „normative muslimische 'Historische Denken'“ ab. Gemeint ist ein historisch-ideologischer Überbau, der durch den Islam religiös vorgegeben ist und Geschichte damit in einen heilsgeschichtlichen Interpretationskontext stellt. Dieser ist Reform orientiert im Sinne einer Rückbesinnung auf die ideale Gemeinschaft aller Muslime (umma) zu Zeiten des Propheten Muhammad. Aus diesem Grund wird Geschichte zu einer moralischen Instanz, die Sinn stiftend im Dienste von Religion und Recht steht. Geschichte, vor allem als das vorbildliche Leben historischer Helden, wird zu einer Leitlinie, an der sich Herrscher im Guten orientieren sollen. In seinem Herrschaftsgebiet hat ein guter Herrscher den Wohlstand der Gesellschaft zu mehren, Schaden von ihr zu wenden und freigiebig zu sein. Geschichte beziehungsweise der Geschichtsschreibung kommt folglich eine didaktische Funktion zu, wenn idealisierte Herrschergestalten zum moralischen Maßstab politisch korrekten Handelns werden. Und der Historiker ist der Gelehrte, der aus den Beispielen, die die Geschichte bereit hält, die beste und relevante Auswahl trifft.

Conermann macht in der muslimischen Perspektive fünf verschiedene historiografische Diskurse aus (S. 26-31): 1. die imperiale Sicht des Delhi-Sultanats (1206-1526), gefolgt vom Mogul-Reich (1526-1858), 2. den britischen Kolonialismus (1858-1947), 3. den indologischen Orientalismus, der eigentlich ein Bestandteil des Kolonialismus ist, freilich in Europa seine Blüten triebt, 4. indische Erneuerungsbewegungen und beginnende nationale Geschichtsschreibung sowie 5. den Kommunalismus. In der Tat scheint sich dieses Raster für die Geschichte der Historiografie in Südasien zu etablieren, auch wenn mancherlei Kritik daran zu üben ist. Anfangen kann man beim „Kommunalismus“, der unglücklichen Übersetzung von „communalism“. Der Begriff bezieht sich auf die Gemeinschaften von Hindus und Muslimen (gelegentlich werden auch die Sikhs bedacht) und die Konflikt(potenzial)e, die zwischen den einzelnen Religionsgemeinschaften auftreten können. Historiografisch vielleicht ungewollt, wird hiermit indes ein Erbe der kolonialen Vergangenheit fortgeführt, nämlich die Gesellschaften Südasiens primär nach religiösen Kategorien zu ordnen und sie allein als religiöse Gemeinschaften definiert zu sehen. „Communalism“ scheint jedoch eher ein (instrumentalisierbares) Politikum zu sein, als dass er den Alltag im gegenwärtigen Südasien bestimmt.

Im nächsten Abschnitt der Einleitung nimmt Conermann eine sinnvolle historische Kontextualisierung vor. Ein wichtiger Aspekt ist hierbei die gegenseitige Beeinflussung sanskritisch-brahmanischer Historiografie und der indo-persischen Geschichtsschreibung. Keinesfalls hat die Historiografie zwei parallele Entwicklungen genommen, wie Conermann anhand des aktuellen Stands der Forschung aufzeigen kann. Freilich steckt diese noch in den Anfängen, und vor allem gälte es eine stärkere Vernetzung und Verzahnung indologischer und islamwissenschaftlicher Kompetenz zu erwirken, mit entsprechend neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Probleme der Islamisierung der Randzonen Südasiens (Panjab und Bengalen) stellt Conermann anhand Bengalens dar und betont die inklusivistischen wie interaktiven Momente bei den Konversionen zum Islam. Ab dem 15. Jahrhundert entstanden neue Formen unterschiedlicher lokaler Traditionen, die sich zunehmend von der großen Tradition des arabischen und von der Scharia geprägten Islam entfernten, so Conermann. Reformen im Islam des 17. Jahrhundert sowie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert waren in Südasien daher stets auf die Reinigung von synkretistischen Elementen und neuer Einheitlichkeit ausgerichtet, die sich freilich an dem alten Konzept von der ehemaligen Einheit der Muslime orientierte.

Bevor die südasiatisch-muslimische Historiografie behandelt wird, erörtert Conermann ausführlich die arabische sowie die persische Historiografietradition (S. 45-67). War die erste als sprachliche Trägerin des offenbarten Wortes auf ein religiöses Prokrustes-Bett gefesselt, war die zweite, bald komplementär zum Arabischen, von dieser „Bürde“ befreit und konnte daher auch andere, säkulare Formen der Historiografie entwickeln. Auf den verbleibenden 16 Seiten werden schließlich die Zeugnisse der südasiatisch-muslimischen Historiografie vorgestellt. Abgesehen davon, dass der Umfang angesichts des Themas sicherlich sehr knapp bemessen ist, fällt auf, dass es sich vielfach um eine literaturgeschichtliche und weniger um eine historiografiegeschichtliche Analyse handelt. Bisweilen ist beides nicht recht auseinander zu halten. Zudem wird die Darstellung in das Korsett des „normativen muslimischen 'historischen Denkens'“ geschnürt, das sämtliche Geschichtsschreibung und ihre literarischen Genres als statisch erscheinen lässt – vom 13. bis zum 19. Jahrhundert stets die selben Produkte, die kaum Neuerungen aufweisen. Vielleicht wäre es dem Thema angemessen gewesen, hier stärker die Abweichungen und Brüche zu betonen, als vielleicht unbeabsichtigt die Unveränderlichkeit hervorzustreichen.

Ähnliche Kritik ist auch an dem kleinen Bändchen zum Mogul-Reich zu äußern. Zum einen ist es ein unmittelbares Derivat des eben besprochenen Bandes, was sich unter anderem an bisweilen identischen Formulierungen zeigt, aber auch an der stark literaturgeschichtlichen Darstellung erkennbar ist. Von der Geschichte des Mogul-Reiches erfährt das Lesepublikum relativ wenig. Die wirtschaftliche Entwicklung von dreihundert Jahren wird auf gerade einmal acht Seiten abgehandelt und dabei nehmen die sicherlich bis Mitte des 18. Jahrhunderts peripheren europäischen Handelsgesellschaften eine prominente Stellung ein. Überhaupt verwundert, dass die Geschichte des Mogul-Reiches mit der britischen Kolonialherrschaft fortgesetzt wird, beginnend mit Robert Clive und der Schlacht bei Plassey 1757 und endend mit dem 1877 ausgerufenen „Kaiserreich Indien“, als ob die Geschichte des imperialen Indien als Einheitsstaat erst unter der britischen Krone seine Vollendung gefunden hätte und, polemisch zugespitzt, das gegenwärtige Indien nur eine weitere degenerative Erscheinung partikularistischer Interessen ist. Sicherlich unbeabsichtigt setzt Conermann damit die Tradition kolonialer Historiografie fort, die eben genau dieses Legitimationskonstrukt historisch herleitete und zur allein gültigen Geschichtsschreibung Südasiens erklärte.

In die gleiche Richtung geht auch die Kritik, die an Gottlobs Band und seiner Periodisierung geübt werden muss. Warum das „moderne Südasien“ ausgerechnet mit den historiografischen Aktivitäten der Briten einsetzt, ist nicht nachzuvollziehen, ebenso wenig, warum die „Moderne“ überhaupt mit der britischen Kolonialherrschaft synchron gesetzt wird. Gottlob wird ebenfalls zum unfreiwilligen Opfer britischer Kolonialgeschichtsschreibung, die die Periodisierung von der „klassischen“ (hinduistischen) Geschichte, der „mittelalterlichen“ (muslimischen) Geschichte und der „modernen“ (britischen) Geschichte überhaupt erst postuliert hat. Zu fragen wäre hier, wann und wie wirkungsmächtig die britisch-europäischen Geschichtswissenschaften auf die indische Geschichtsschreibung war und ob dies an allen Orten des Subkontinents respektive Britisch-Indiens spürbar war, kurz: ob in Zeit und Raum eine omnipräsente Historiografie britisch-akademischer Provenienz anzutreffen war bzw. ob die Erzeugnisse indischer Geschichtsschreibung stets einen „nationalen“ Charakter besaßen. Wenn dem nicht so ist, dann schließt sich die Frage nach anderen historiografischen Traditionen an und nicht nur einzelnen Zeugnissen (vgl. S. 98-107), die parallel existierten, abgedrängt und überdeckt waren. In diesem wie auch im Band von Conermann macht sich das Fehlen des ersten Bandes von Berkemer schmerzlich bemerkbar, hätte er doch solch offene Fragen zumindest teilweise klären helfen können.

Abgesehen von dieser Kritik legt Gottlob eine überaus kenntnisreiche und wohl recherchierte Einleitung vor (S. 19-145), die alle wichtigen Stationen, Texte und Autoren der südasiatischen Historiografie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mit sprachlicher und stilistischer Eleganz vorstellt. Die Mehrheit der Autoren waren indes keine Historiker im Sinne von Geschichtswissenschaftlern. Viele religiöse Reformer und politische Agitatoren, Schriftsteller und Zeitungsreporter, Nationalisten und Politiker stellten, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend, eine Agenda für eine indische Geschichtsschreibung auf. Britisch-kolonialer Historiografie, die das Geschichtsbild vom Verfall und Zerfall konstruiert hatte, setzten hindu-nationalistische Autoren bald das Konstrukt einer glanzvollen alten Kultur und ihrer Wiederbelebung entgegen, während muslimische Literaten und Philosophen nach den 1920er-Jahren Geschichte als Ressource für einen islamisch begründeten Nationalstaat entdeckten. Der Geschichtsschreibung in den Nachfolgestaaten Britisch-Indiens ist ein eigener großer Abschnitt gewidmet (S. 110-145), in dem aktuelle Fragen und Probleme wie Geschichte als Nationalgeschichtsschreibung, das geerbte und internalisierte koloniale Geschichtsparadigma und die Fragmentierung der südasiatischen Geschichte thematisiert werden.

Beide Bände besitzen die gemeinsame Schwäche, dass sie, in bester Absicht, einen Beitrag zum besseren Verständnis außereuropäischer Länder und Kulturen leisten wollen, doch mit der Periodisierung einerseits und der Aufteilung in eine religiös definierte „indische“ Gesellschaft andererseits eher stereotype Bilder weiter transportieren, als sie zu dekonstruieren. Daran ändert wenig, dass Conermann auf das Problem hinweist und die gegenseitige historiografische Beeinflussung gelegentlich betont. Nach Foucault und Said sind die Autoren freilich nur Opfer des „orientalistischen Diskurses“, aus dem auszubrechen, wie zu lesen, fast unmöglich erscheint. Andererseits muss freimütig zugestanden werden, dass beide Werke nicht nur eine Menge Literatur verarbeiten und aufbereiten und das Lesepublikum in ein unbekanntes und höchst schwieriges Feld einführen, sondern auch mit einer ganz wesentlichen Stereotype aufräumen, nämlich der, Südasien habe kein historisches Bewusstsein, was an seinen entweder fehlenden (auf Seiten der Hindus) oder kaum vorhandenen (auf Seiten der Muslime) historiografischen Zeugnissen ablesbar sei. Unbestreitbar liegt in dieser Dekonstruktion das größte Verdienst der beiden voluminösen Bücher. Ein Anfang ist folglich gemacht, bleibt abzuwarten, was die künftige Forschung zur Historiografiegeschichte zum indischen Subkontinent leisten wird.

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