Süß, Dietmar (Hrsg.): Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung. München 2006 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-58084-6 152 S. € 16,80

Lubrich, Oliver (Hrsg.): Berichte aus der Abwurfzone. Ausländer erleben den Bombenkrieg in Deutschland 1939 bis 1945. Berlin 2007 : Eichborn Verlag, ISBN 978-3-8218-4583-8 475 S. € 30,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfried Mönch, Stuttgart

Im Spätherbst 2007 jährt sich zum zehnten Mal das Datum der Vorlesungen, die Winfried G. Sebald (1944–2001) als Literat und Germanist in Zürich zum Thema „Luftkrieg und Literatur“ gehalten hat.1 Seine These, dass der Bombenkrieg des Zweiten Weltkrieges in der deutschen Literatur nicht oder nur schlecht behandelt worden sei, entfachte damals eine Diskussion, die erst die Feuilletons füllte und dann nach Jörg Friedrichs Bestseller „Der Brand“ (2002) Auflagen von Druckwerken, Einschaltquoten von Fernsehsendungen und Verkaufsziffern anderer Medien in für derartige Themen erstaunliche Höhen getrieben hat.

Die beiden Bücher „Deutschland im Luftkrieg“ als Taschenbuch und „Berichte aus der Abwurfzone“ als druck- und bindetechnisches Premiumprodukt sind vor diesem Hintergrund entstanden. Das eine Werk will aus geschichtswissenschaftlicher Sicht neue Fragen stellen. Lubrich als Herausgeber des anderen Buchs interessiert sich von literaturwissenschaftlicher Seite her dafür, ob Sebalds harsches Urteil, wenn schon nicht zu widerlegen, so doch mit einem Blick „von außen“ zu präzisieren wäre.

Bei „Deutschland im Luftkrieg“ handelt es sich um die gesammelten Beiträge eines im November 2005 vom Institut für Zeitgeschichte, Abteilung Berlin, abgehaltenen Forschungskolloquiums, an dem überwiegend „junge Historiker“ teilgenommen haben (mehrere der Vortragenden wurden in den 1970er-Jahren geboren). Die Beiträge gruppieren sich um drei große Aspekte des Luftkrieges. Während die beiden Themenbereiche „Herrschaft und Verwaltung“ bzw. „Krieg, Gewalt und das Ende der ‚Volksgemeinschaft’“ sich der Zeit bis 1945 zuwenden, widmen sich die Beiträge zu „Deutungen und Erinnerungen“ mehr der geschichtspolitischen Aufarbeitung bzw. Verwertung lokaler Luftkriegserfahrungen nach 1945 – anhand von Beispielen aus Coventry, Dresden, Hamburg und Kassel.

Jörg Echternkamp gibt einführend einen Überblick zur bisherigen Forschungsliteratur. Darin kommen auch die inzwischen fast schon gebetsmühlenartig wiederholten Selbstvergewisserungen von den Vorzügen einer „neuen Militärgeschichte“ zum Ausdruck, die sich in den 1990er-Jahren endlich von der traditionellen „Militär-/Kriegswissenschaft“ gelöst habe. Dietmar Süß als Herausgeber des Bandes meint gleichfalls, dass die „Dominanz einer allzu engen Militärgeschichte“ es bisher erschwert habe, für den Luftkrieg „die polykratischen Selbststeuerungsversuche des NS-Regimes näher zu bestimmen“ (S. 109). Was die unterschiedlichen Autoren und Beiträge eint, ist der Begriff der „Kriegsgesellschaft“. Einerseits klingt er ausreichend sozialwissenschaftlich exakt, andererseits ist er auch offen genug, um ein breites Spektrum von Themen fassen zu können. Es wirkt allerdings etwas billig, sich heute über Titel wie „Heimat unter Bomben“ zu mokieren (S. 15). Wie wäre es eigentlich um die örtliche Erschließung einschlägiger Quellen zum Luftkrieg bestellt gewesen, wenn sich nicht die – wie sie Jörg Arnold in seinem Beitrag über Kassel nennt (S. 148) – „Lokal-Historiographie der Flakhelfer“ mit ihrem Interesse für „den technischen Vorgang der Zerstörung“ darum jahrzehntelang bemüht hätte?

Jörn Brinkhus will mit Hilfe der Begriffe „charismatische Herrschaft“ und „NS-Polykratie“ nachweisen, wie chaotisch, ineffizient und bar aller inhaltlichen Kohärenz die Organisation des zivilen Luftschutzes während des Krieges gewesen sei. Während Brinkhus die organisatorische Spitze des Luftschutzes betrachtet, untersucht Bernhard Gotto die kommunale Basis vor allem anhand von Beispielen aus Augsburg. Gotto konstatiert gleichfalls das vollkommene Versagen des zivilen Luftschutzes im Allgemeinen, gesteht aber verschiedenen Kommunen zu, in der Extremsituation des Luftkrieges ein flexibles und situationsangepasstes Verhalten gezeigt zu haben. Weiterhin wird auf die Lernbereitschaft kommunaler Vertreter hingewiesen, die aus Erfahrungen anderer Städte die richtigen Konsequenzen gezogen hätten – so Augsburger Fachleute, die aus der Hamburger Katastrophe von 1943 lernten und die Entstehung eines Feuersturms in Augsburg verhindern konnten.

Armin Nolzen untersucht Rolle und Funktion der nationalsozialistischen Parteigliederungen bei der Bewältigung von Auswirkungen des Luftkrieges. Insbesondere die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ habe im Verlauf des Krieges eine immer größere Bedeutung als politischer Träger der Soforthilfe nach Luftangriffen gewonnen. Inwieweit solche Reaktionen „der Partei“ tatsächlich die These stützen, dass eine Trennung zwischen „dem“ Nationalsozialismus und der Bevölkerung „heuristisch nicht zulässig“ sei, weil die NSDAP „die deutsche Gesellschaft repräsentiert“ habe wie „keine zweite Organisation“ (S. 69), bleibt sicher noch zu diskutieren.

Ausgangspunkte historischer Forschung zu nationalsozialistischen Verbrechen sind häufig die allliierten Kriegsverbrecherprozesse. Das gilt auch für Barbara Grimms Beitrag über die „Lynchmorde“ an alliierten Fliegern, die schon bald nach Kriegsende geahndet wurden. Während in Rüsselsheim tatsächlich ein aufgebrachter Mob gefangene amerikanische Flieger umgebracht habe, seien beim Großteil der bisher bekannten Fälle lokale Funktionsträger der NSDAP bzw. Vertreter „staatsnaher“ Organisationen wie der Gestapo die Täter gewesen. Insofern werde auch der Begriff der „Lynchjustiz“ fragwürdig.

Nicole Kramer vertritt eine „geschlechtergeschichtliche Perspektive“ auf „kämpfende Mütter“ und „gefallene Heldinnen“. Sie thematisiert den Einsatz von Frauen im Rahmen des zivilen Luftschutzes, insbesondere beim Reichsluftschutzbund. Das nationalsozialistische Frauenbild habe in diesem Zusammenhang einen maskulinen Einschlag erhalten. Man habe Attribute wie „soldatische Tapferkeit“ in der Propaganda nun auch für Frauen gebraucht. Kramer stellt bei Propagandaplakaten des Luftschutzes „eine Betonung der körperlichen Weiblichkeit“ fest (S. 92). Der Zweite Weltkrieg und besonders die Luftangriffe hätten „die nationale Integration von Frauen“ befördert (S. 98). Die Wirkungen von Propaganda sind allerdings nicht mit Hilfe der Plakate zu ermitteln, so dass dies eine Vermutung bleibt.

Stefan Goebel verdeutlicht in seinem Beitrag über die erinnerungspolitischen Verflechtungen der beiden Luftkriegsopferstädte Coventry und Dresden, dass „kollektives Erinnern“ nur dort stattfindet, wo es aktive Träger und Organisationen gibt. Im Falle der beiden Städte mündete dies in eine für die Zeit des Kalten Krieges ziemlich spezielle Städtepartnerschaft, deren Träger auf der einen Seite hauptsächlich britische Christen waren, während auf der anderen Seite mit Funktionären des Staats- und Parteiapparates der DDR Vertreter standen, die zwar ideologisch abweisend waren, aber die praktische Chance dankbar ergriffen, ein wenig aus ihrer diplomatischen Isolation der 1950er- und 1960er-Jahre herauszukommen.

In den beiden Aufsätzen über die Erinnerungskulturen von Hamburg und Kassel werden verschiedenartige allgemeine und lokalspezifische „Narrative“ vorgestellt. Malte Thießen betont, dass der Bombenkrieg „mit unterschiedlichen Aufladungen auf unterschiedliche Gegenwartsinteressen“ bezogen werden könne (S. 129), während Jörg Arnold konstatiert, die „Erinnerungskultur des Bombenkrieges“ weise „sowohl eine diachrone als auch eine synchrone Struktur auf“ (S. 148). So mag es wohl sein. Als Leistungsschau des wissenschaftlichen Nachwuchses kommen die Beiträge des Tagungsbandes – vielleicht mit Ausnahme von Gottos Aufsatz über Augsburg – allesamt recht theoriebeladen daher.

Oliver Lubrich nimmt für seine Edition der „Berichte aus der Abwurfzone“ Sebalds These als Ausgangspunkt, dass die deutschen Literaten bei der Aufarbeitung des Luftkrieges versagt hätten – sei es in Form von „Unwilligkeit“, sich des Themas zu stellen; sei es als Ergebnis von „Unfähigkeit“ infolge erlittener Traumata (S. 35). Lubrich interessiert sich nun für „fremde Blicke“ auf den Luftkrieg, um literarisches Vergleichsmaterial zu erschließen. Er hat Texte von Ausländern gesammelt, die den Bombenkrieg in Deutschland erlebt hatten. Die Palette reicht von Diplomaten über Journalisten und Kriegsberichterstatter bis hin zu Reise- und anderen Schriftstellern. Es kommen 30 Autoren und Autorinnen zu Wort – unter anderem aus Britannien, Dänemark, Finnland, Frankreich, den Niederlanden, Italien, Lettland, Schweden und den USA. Den chronologisch gegliederten Texten sind Einführungen mit biographischen und literaturgeschichtlichen Hinweisen vorangestellt. Die einzelnen Jahre kommen in etwa gleichrangig vor. Berichte aus der ersten Kriegshälfte vermitteln die scheinbare Normalität eines eskalierenden Bombenkrieges, der 1944/45 schließlich in ein allgemeines Weltuntergangsszenario in Deutschland mündete.

Das Buch ist als literarische Anthologie konzipiert. Was an den höchst unterschiedlichen Texten spezifisch „literarisch“ sein soll, mag man der Bewertung von Literatur- bzw. Kulturwissenschaftlern überlassen. Der Herausgeber liefert in seiner Einleitung gleich verschiedene Interpretationen mit. Besonders angetan haben es ihm surreale Konstellationen (Dame kauft Hut im Brand, Bombensplitter in Goethes Garten etc.). Über die Auswahl der Autoren lässt sich trefflich streiten – wie stets bei solchen Sammlungen. Lubrich billigt besonders dem Werk der aus Russland stammenden und während der Kriegsjahre in Berlin lebenden Prinzessin Marie Wassiltschikow (1917–1978) literarische Qualitäten zu. Ihr Text sei „nüchtern und realistisch“ (S. 26). Er stellt sie bewusst gegen Ernst Jüngers ästhetisierend zynische Sicht eines Bombenangriffs, den dieser am 27. Mai 1944 in seinem Pariser Tagebuch festgehalten hat. Neben zeitgenössischen Texten hat Lubrich in die Sammlung auch Beispiele aufgenommen, die Jahre nach den Ereignissen niedergeschrieben wurden. In Kurt Vonneguts (1922–2007) „Schlachthof 5“ verbalisiert sich in besonderer Weise das Thema der Erinnerung. Ein Textauszug daraus beschließt das Buch.

Die Sammelbände „Deutschland im Luftkrieg“ und „Berichte aus der Abwurfzone“ treten beide mit einem internationalen Anspruch an – sei es, dass sie nicht-deutsche Autoren zu Worte kommen lassen; sei es, dass sie eine stärker internationale Perspektive auf den Luftkrieg einfordern. Beide Werke nehmen für sich in Anspruch, erste Grundlagen für eine solche Sicht bereitzustellen. Dietmar Süß sieht die Tagungsbeiträge gar als „Bausteine“ für eine noch zu schreibende „globale Geschichte des Luftkrieges“ (S. 10). Die Agenda ist damit umschrieben. Man darf auf die Ergebnisse gespannt sein.

Anmerkung:
1 Sebald, Winfried G., Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay von Alfred Andersch, München 1999, Tb.-Ausg. Frankfurt am Main 2001; siehe dazu u.a. Hage, Volker, Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche, Frankfurt am Main 2003.