J. Gaschke: Hellas ... in one living picture

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Titel
Hellas ... in one living picture. Britische Reisende und die visuelle Aneignung Griechenlands im frühen 19. Jahrhundert


Autor(en)
Gaschke, Jenny
Reihe
Europäische Hochschulschriften, Reihe 28: Kunstgeschichte 422
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 51,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedemann Scriba, Max-Reinhardt-Gymnasium, Berlin

Jenny Gaschkes kunsthistorische Dissertation nimmt das rezeptionsgeschichtliche Paradox in den Blick, dass Griechenland just im Augenblick seiner politischen Unabhängigkeit 1831 längst zu einer Projektionsfläche eigener Wünsche britischer Philhellenen mutiert war. Anhand von drei Fallstudien beschreibt sie die Veränderung der visuellen Aneignung Griechenlands durch britische Reisende seit der Napoleonischen Kontinentalsperre bis zur griechischen Unabhängigkeit. Sie typisiert die Wahrnehmungsveränderungen in drei Stufen zunehmender Selektion von Motiven und zunehmender Familiarisierung im Sinne des Pittoresken und Sublimen: Der topografische Blick eines William Gell (1777-1836) habe durch genaue Studien unter Nutzung technischer und literarischer Hilfsmittel das osmanisch besetzte Griechenland im westlichen Bewusstsein wieder zu etablieren versucht; der touristische Blick eines Charles Robert Cockerell (1788-1823) habe im Zusammenhang touristischer Entwicklungen schon vor dem Beginn des griechischen Unabhängigkeitskrieges 1821 unter der Kategorie des Pittoresken eine Kanonisierung eingeleitet, die für die englische philhellenische Bewegung nutzbare Bildelemente und -typen bereitgestellt habe; Hugh William Williams (1773-1829) habe die visuelle Aneignung im Sinne eines künstlerischen Blicks für die Bedürfnisse des britischen Ausstellungs- und Buchmarktes so vollendet, dass das assoziative Konstruktionsverhalten der britischen Reisenden nicht mehr durch eine griechische oder womöglich osmanische Sicht der Dinge habe gestört werden können, und somit sich die auch im heutigen Massen- und Bildungstourismus praktizierten Muster der visuellen Aneignung durchgesetzt haben. Der Prozess der Stilisierung habe es den englischen Philhellenen ermöglicht, eine ideelle Kontrolle über "ihr" Griechenland zu gewinnen unter Ausblendung politischer Konflikte mit der Hohen Pforte, zugleich ideell die Unabhängigkeitsbestrebungen der Griechen zu unterstützen, die Einwohner zu "Arkadiern" europäischer Bildtraditionen zu reduzieren und gleichzeitig Großbritannien als politischen und kulturellen Erben des antiken Griechenland erscheinen zu lassen. Methodisch fungiere dabei das Pittoreske als ein Mechanismus visueller Aneignung bei gleichzeitiger Tilgung der osmanischen Vergangenheit (und später auch des jungen 20. Jahrhunderts).

Gaschke bettet ihre Untersuchungen ein in die expandierende Reiseforschung in den Geschichts- und Kulturwissenschaften und die im Zuge sich ausbreitender konstruktivistischer Ansätze etablierte Wahrnehmungsforschung, besonders unter dem Einfluss von Edward Saids "Orientalism". Mit dem Konzept "Familiarisierung" gibt sie der Said'schen Perspektive eine dialektisch-differenzierende Wendung: "[…] die Familiarisierung des Gesehenen im Bild und in der kategorisierenden Beschreibung anhand bestimmter (Bild-)themen kann in der akademischen Deutung nicht nur als Ausdruck einer Unterwerfung, Überwindung oder Neuinterpretation des Angeeigneten durch den Westen zu eigenen – und möglicherweise wiederum kolonialen – Zwecken verstanden werden. Stattdessen geht diese Interpretation einer Überwindung von Fremdheit in Text und Bild teilweise so weit, die von Said proklamierte Polarisierung und die fixierte Perspektive zwischen westlich und nicht-westlich in der wissenschaftlichen Diskussion wieder aufzuheben oder zumindest die Untersuchung umzukehren. […] Eine weltvereinheitlichende aneignende europäische Sicht auf Griechenland in der Zeit nach 1800, die sich in der bewundernden Stilisierung 'exotischer' Helden einerseits und der Gründung von Greek Committees andererseits äußert, bekäme als Ausdruck umgeleiteter westlicher liberaler Strömungen und gleichzeitig als ernstgemeinte, wenn auch zunächst wenig effektive physische Unterstützung der griechischen Unabhängigkeitsbewegung dabei zusätzliche Relevanz. Wenn Griechenland über die Antike zu Europa gehörte, mussten seine Bewohner in den Augen der Reisenden und des literarisch- und kunstinteressierten Publikums auch in der Gegenwart des 19. Jahrhunderts als Europäer angesehen werden und die orientalischen Aspekte seiner Lebenswelt überwunden werden können. […] Abstoßung und Angleichung scheinen vom Befund her die zwei Seiten einer Medaille zu sein, mit welcher in den Zeichnungen und Berichten der Reisenden der Kontakt zwischen Westen und Nicht-Westen, Briten und Griechen sowie Türken symbolisiert werden kann. Beide dienen – über die Strategie der visuellen Aneignung, die Griechenland auf bestimmte Weise thematisch und stilistisch darstellt – einem Akt westlicher Selbstdefinition." (S. 21f.)

Im Einzelnen stellt Gaschke die Stufen der Griechenland-Rezeption folgendermaßen dar:

Den in Teil II (ab S. 25) dargestellten "topografischen Blick" habe der damals als wichtiger Topograf geltende Gell vor dem Hintergrund einer Entwicklung seit Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt, wobei die Wiederentdeckung der architektonischen Antike und die imaginäre Antike der traditionellen Landschaftsveduten nun mit der exakten topografischen Erfassung aus der Tradition britischer Militärtopografie kombiniert worden seien. Dabei habe sich Gell auch auf die antiken Überlieferungen bei Strabo und Pausanias gestützt und zum Teil vor dem Problem gestanden, deren Überlieferung und die konkret sichtbare Landschaft zur Deckung zu bringen. Hier greife die von einer unkritischen Homer-Rezeption geprägte Schwäche gegenüber der Faszination mythologischer Relikte, was zu ent-temporalisierenden malerischen Techniken geführt und in der Konsequenz auch die räumliche Distanz zur Antike eliminiert habe. So habe die Landschaftstopografie schon in dieser Phase, wie auch beim Topgrafen Bitton 1801 formuliert, eine Doppelrolle gespielt: "Bei Gell wird diese Überzeugung auf das Landschaftsstudium übertragen und nicht mehr allein auf das architektonische Studium der überkommenen Tempel und Monumente beschränkt, die ein materielles Zeugnis antiken Kulturschaffens sind. Die Landschaft rückt für und über die Topografien an eine zentrale Stelle der gesamten britischen Griechenlandrezeption. / Im Prozess der Identifizierung der Antike in der Landschaft und ihrer Öffnung für den Reisenden als Quelle des Studiums findet dabei eine Transformation statt, in der die Textquelle über die angeschaute Landschaft in die Bildform übertragen wird. Auf diese Weise wird das rein literarische Antikenstudium ersetzt bzw. geschluckt. / Bei der topografischen Betrachtung Griechenlands in den dokumentarischen Zeichnungen findet weniger eine Form assoziativen Erinnerns statt, sondern es zeigt sich den Reisenden scheinbar die Kontinuität und Realität der Antike in der griechischen Landschaft." (S. 65) Gell habe selbst die griechische Landschaft als "pittoresk" beschrieben und damit eine über engere Wirkungskategorien menschlicher Wahrnehmung hinausführende Kategorie für die Beschreibung ästhetischer Emotionen platziert. Das Pittoreske sei die Kategorie gewesen, mit der Engländer sich Griechenland – entgegen dessen Selbstdefinition über Byzanz und Orthodoxie – visuell angeeignet hätten. In der reflektierenden Zwischenbilanz "Visuelle Aneignung I: Spielarten" leuchtet Gaschke ihre These mit Blick auf die Zyklopenmauern von Mykene, die Landschaftsaquarelle Edward Lears und das britische Protektorat über die Ionischen Inseln nach 1815 aus.

Teil III (ab S. 97) widmet Gaschke den 1810-1814 entstandenen Reisezeichnungen des Architekten Cockerell, der hier neben zunehmender antiquarischer Exaktheit die griechische Gegenwart zunehmend antikisiere, z.B. Staffagefiguren in der Körperhaltung antiker Statuen zeichne. Vor dem Hintergrund des Exportes der Elgin-Marbles und der kriegerischen Sammlungspolitik Napoleons habe auch schon eine Kanonisierung bestimmter Motive stattgefunden – gleichzeitig mit der Entstehung eines auf Netzwerkbeziehungen beruhenden Tourismus, der im Standquartier Athen von einer andersartigen Infrastruktur habe ausgehen müssen als der Rom-Tourismus mit der dort etablierten Künstlerszene und Infrastruktur. Im Zwischenkapitel "Visuelle Aneignung II: Kanonisierung der Bildelemente" verweist Gaschke auf die Mutation von Ruinen zu Denkmälern mittels Stilisierung, auf die politischen Widersprüchlichkeiten auch im formal legalen Kunstexport, auf den Exotismus in der Wahrnehmung des de facto von Konstantinopel unabhängigen Ali Pascha und auf die Kodierung der Landschaft mit einem an den antiken Perserkriegen entwickelten Begriff griechischer Freiheit. Sie formuliert als Zwischenergebnis für die Griechenlandperzeption auch nach 1831: "Die so zur Sehenswürdigkeit gewordene Landschaft stand bei der Präsentation der Griechenlandrezeption in Ausstellungen in der Heimat der Reisenden langfristig im Mittelpunkt. Unabhängig von der Philhellenenbewegung, deren einflussreiche Historiengemälde und Reportagebilder zeitlich begrenzt jedoch einen großen Einfluss auf die westeuropäische Öffentlichkeit ausübten, bildete sich ein Griechenlandbild heraus, das vor allem der Bestätigung des britischen kulturellen Selbstverständnisses diente, gleichzeitig jedoch die Wahrnehmung Griechenlands als arkadischer Wiege der europäischen Kultur festlegte." (S. 186)

In Teil IV (ab S. 187) untersucht Gaschke die zwischen 1818 und 1829 entstandenen Athen-Aquarelle H. Williams', die in ihrer Poesie dem britischen Publikumsgeschmack entsprochen und den seit 1821 tobenden Unabhängigkeitskrieg ausgeblendet hätten. Sie hätten sich wieder stärker an akademische Bildschemata angelehnt, die Landschaft re-idealisiert und – parallel zur Aufnahme Byrons in den Kanon antiker Dichter – orientalische Bezüge weiter zurückgedrängt. Lichtregie im Sinne Turners und die Übernahme der Geschmackstheorie Archibald Alisons von 1790 (Geschmack als Emotion, ausgelöst unter anderem durch Geschichte und Studium von Altertümern) hätten zu einer wirkungssteigernden Malweise bei Farb- und Lichteffekten sowie Tiefenstaffelung geführt. Die Bilanz "Visuelle Aneignung III: Griechenland wird zum Bild" charakterisiert das Griechenlandbild nun als "Ausdrucksmittel eigener Wünsche" (S. 233), wobei die Methode der "Familiarisierung" durch formale Annäherung an Landschaftsbilder Schottlands angewandt, die mythischen Assoziationen in den Theben-, Marathon- und Sunionbildern Williams' evoziert, Melancholie über den Verlust der Antike geweckt und so schließlich der Denkspielraum für eine Translation des kulturellen Erbes nach England geschaffen worden sei. Der Prozess der visuellen Aneignung sei nun abgeschlossen gewesen. 1827 hat sich die britische Regierung gemeinsam mit Frankreich und Russland auf Seiten der Griechen im Krieg engagiert. Gaschke weist abschließend darauf hin, dass die griechische Sicht der Dinge nie eine Rolle gespielt habe.

Ein ausführlicher Apparat, leider mit qualitativ schlechten Bildreproduktionen, schließt den stringent und differenziert argumentierenden Band ab.

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