R. Bendel u.a. (Hrsg.): Kirchen- und Kulturgeschichtsschreibung

Cover
Titel
Kirchen- und Kulturgeschichtsschreibung in Nordost- und Ostmitteleuropa. Initiativen, Methoden, Theorien


Herausgeber
Bendel, Rainer; Karp, Hans-Jürgen; Köhler, Joachim
Reihe
Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 2
Erschienen
Hamburg 2006: LIT Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Laura Hölzlwimmer, Collegium Carolinum, München

Das große Verdienst des Bandes von Rainer Bendel, der auf eine Tübinger Tagung (2002) zurückgeht, ist die beeindruckend umfassende Bestandsaufnahme der Forschungslage zur Kirchengeschichte Nordost- und Ostmitteleuropas. In acht der 14 Beiträge steht die Frage nach den Leistungen, Defiziten und Perspektiven der deutschsprachigen und jeweiligen nationalen Historiographien im Vordergrund. Bendels Anspruch geht jedoch weiter. Zur Einführung formuliert er die Zielsetzung, Religion und Kultur „in ihren integrativen Leistungen und teils auch Versagen“ zu untersuchen (S. 2). Dazu sollen in regionalen Vergleichen Spezifika und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden, die Erklärungskraft von Theorien überprüft sowie Vergleichsmöglichkeiten zwischen Ost und West auf europäischer Ebene sondiert werden. Nordost- und Ostmitteleuropa erscheinen Bendel dabei als lohnenswerte Untersuchungseinheit, weil diese „multiethnische, multireligiöse und multikulturelle Region“ ein „Begegnungs- und Brückenraum“ (S. 2) sei, in dem sich (des-)integrierende Prozesse innerhalb der unterschiedlichen Staaten und Gesellschaften besonders gut beobachten und vergleichen ließen.

Die Kombination kultur- und religionsgeschichtlicher Fragestellungen spiegelt das Interesse an der historiographischen Erforschung von Prozessen der Sinn- und Bedeutungskonstituierung wider, innerhalb derer Religion als wesentliche Dimension des Menschen in seiner Eigenschaft als symbol- und sinnbildender Akteur begriffen wird. Die Absicht, diese Fragestellungen auf die Länder des östlichen Europas anzuwenden, ist äußerst verdienstvoll – drehen sich doch in den nationalen Historiographien viele Studien eher um Fragestellungen der traditionellen Kirchengeschichte und die Erforschung der Staat-Kirche-Beziehungen. Angesichts dessen ist der Titel „Kirchengeschichte“ zu bescheiden gewählt. Denn die meisten Beiträge nehmen Bendels Postulat, Religion „als ein System kollektiver Sinnkonstruktionen“ (S. 10) zu verstehen, durchaus ernst, weshalb der erweiterte Begriff „Religionsgeschichte“ durchaus angemessen gewesen wäre. Möglicherweise hat die Scheu vor diesem Prädikat den Herausgeber auch davon abgehalten, den Band in der religionsgeschichtlichen Forschungslandschaft zu verorten. Einzig in dem Beitrag von Olgierd Kiec zur Provinz Posen tauchen die relevanten Debatten – wie beispielsweise um Olaf Blaschkes These des Zweiten Konfessionellen Zeitalters (S. 101) – auf. Vom Herausgeber unerwähnt bleiben auch die Forschungsleistungen der Osteuropahistoriographie, die im Kontext der Frageinteressen des Bandes durchaus von Bedeutung wären. Zu denken ist hier beispielsweise an die beiden Publikationen über das Verhältnis von Nation und Religion im östlichen Europa von Hans-Christian Maner und Martin Schulze Wessel, die unter anderem nach den Versuchen der Kirchen fragen, die Nationalkulturen in ihrem Sinne zu prägen.1

Die einzelnen Artikel des Bandes sind sehr heterogen, was Fragestellungen und Methodik sowie die behandelten Epochen betrifft. So stehen so unterschiedliche Studien wie Petr Hlaváceks transfergeschichtlicher, klar strukturierter und einleuchtend argumentierender Beitrag „Zum (Anti-)Intellektualismus in Ostmitteleuropa im 15. und 16. Jahrhundert“ (am Beispiel der Observanzbewegung) und Robert Zureks Überlegungen „Zum Scheitern der kommunistischen Kirchenpolitik in Polen 1944-1956“ nebeneinander. Letzterer zeigt, dass auch die Untersuchung vermeintlich kleinformatiger Fragestellungen Grundlegendes aufdecken kann, indem er deutlich macht, dass es vor allem die langfristige konfessionelle Prägung war, welche den polnischen Stalinisten die gesamtgesellschaftliche Durchsetzung nicht-religiöser Sinn- und Deutungsmuster unmöglich machte. Eine wiederum völlig andere Perspektive nimmt Ernst Josef Krzywons literaturgeschichtlicher Beitrag „Religiöse Literatur – milieustabilisierend?“ ein, der das Wirken des schlesischen Schriftstellers Hans Christoph Kaergel behandelt.

In Einklang mit dem Untertitel des Bandes (Methoden, Theorien, Initiativen) widmen sich drei Beiträge der Reflexion und Anwendung neuerer Forschungskonzepte. Allesamt sind diese Ausführungen interessant und anregend; bisweilen vermisst man jedoch den unmittelbaren Bezug zu dem von Bendel anvisierten nordost- und ostmitteleuropäischen Raum. Dies gilt jedoch nicht für Gregorij Avvakumov, der anhand des Ritualbegriffs der Sozialwissenschaften „Die Fragen des Ritus als Streit- und Kontroversgegenstand“ analysiert. Er entwickelt darin einen Vergleich der verschiedenen Einstellungen zum Ritual als Identitätsmarker in Ost und West, der letztlich Aufschluss über die Haltung gegenüber Fremdem geben könnte. Der Untertitel des sehr guten Beitrags lautet daher „Zur Typologie der Kulturkonflikte zwischen dem lateinischen Westen und dem byzantinisch-slavischen Osten im Mittelalter und in der Neuzeit“.

Ebenfalls dem Dialog zwischen verschiedenen Wir-Gruppen gewidmet sind Lydia Bendel-Maidls „Thesen zum Beitrag der Historiographie zu einer Kultur des dialogischen Gedächtnisses“. Zwar ist der Autorin zuzustimmen, wenn sie den Beitrag der Historiographie auf dem Weg zu einer „Kultur des gerechten Gedächtnisses“ (S. 274) vor allem darin sieht, „dem Gedächtnis der Marginalisierten und Opfer“ (S. 279) nachzugehen. Fragwürdig ist jedoch, dass sie das Verhältnis zwischen Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft nicht klar beschreibt. Es entsteht daher an manchen Stellen der irreführende Eindruck, dass Historiographie unmittelbar die kollektive Auffassung von der Vergangenheit beeinflussen könnte (z.B. S. 278).

Die Frage nach dem konkreten gegenwärtigen Nutzen der Geschichtsschreibung steht auch im Mittelpunkt von Joachim Köhlers Beitrag „Macht Geschichte einen Sinn? Von der Institutionsgeschichte zur historischen Anthropologie“. Köhler mahnt darin einen noch konsequenter zu vollziehenden Perspektivwechsel an. Man müsse weg von der Institution Kirche hin zu einer Geschichtsschreibung, die stärker die Laien in den Mittelpunkt stellt. Denn gerade dies würde dazu beitragen, die Schuldhaftigkeit der Kirche in der NS-Zeit, insbesondere hinsichtlich der Shoah aufzeigen zu können.

Mehr als die Hälfte der Beiträge präsentiert Forschungsberichte, die Stand, Desiderata und teilweise die Debatten der Historiographien einzelner Länder zusammenfassen, wobei die meisten auch deutschsprachige Literatur einbeziehen. So berichtet Libor Jan über „Stand und Perspektiven der monasteriologischen Forschungen (Mittelalter) in der Tschechischen Republik“, Jarolav Šebek über „Tschechische Historiographie der katholischen Kirche des 19. und 20. Jahrhunderts nach 1948 – Probleme und Perspektiven“, Andrzej Kopiczko über „Die neueste Geschichte der Diözese Ermland in der polnischen Historiographie nach 1945“ und Liudas Jovaiša über “The Catholic Reform in Western Lithuania – a new approach towards institutions, contents and methods“. Ohne jegliche Kommentare und Hinweise auf Forschungskontroversen bleiben die aus diesem Grund mühsam zu lesenden Beiträge von Irena Vaišvilait („Church history in Lithuania – a new approach towards institutions, contents and methods“) und von Hanna Krajewska („Forschungen über den Protestantismus in Polen“).

Äußerst positiv fallen dagegen die Literaturberichte von Olgierd Kiec und Witold Matwiejczyk auf, die mit interessanten thematischen Ausführungen verknüpft werden. So schildert Kiec das protestantische „inventing of traditions“ in der Provinz Posen von 1850 bis 1918. Matwiejczyk präsentiert einen gewinnbringenden Vergleich der deutsch- und polnischsprachigen Historiographie zum Thema „Nation und Konfession in Großpolen zur Zeit des ‚Nationalitätenstreits‘ (1871-1914)“. Beide Autoren zeigen luzide die wechselseitige Durchdringung konfessioneller und nationaler Deutungshorizonte in einer polyethnischen und multikonfessionellen Region.

Der Band bietet insgesamt eine sehr solide Literatur- und teilweise auch Quellenumschau, die dem Leser dadurch angenehm leicht zugänglich wird, dass am Ende eines jeden Beitrags ein Literaturverzeichnis angefügt ist. Einschränkend ist jedoch hinzuzufügen, dass im Redaktionsprozess nach 2003 bedauerlicherweise keine Energie aufgewendet wurde, die Bibliographien zu aktualisieren. Außerdem fehlen Beiträge zu Estland und Lettland, was unkommentiert bleibt. Eine gewisse Nachlässigkeit in der Lektorierung zeigt sich darin, dass versäumt wurde, konsequent die fremdsprachigen Titel zu übersetzen. Dies ist umso weniger nachvollziehbar, als Bendel den Band doch als Grundlage verstanden wissen will, einen internationalen Austausch auf den Weg zu bringen. Ebenso unverständlich ist deshalb die inkonsequente Indizierung der Ortsnamen im Register (S. 309f.), in dem teilweise die deutschen, teilweise die fremdsprachigen Bezeichnungen fehlen, bzw. unterschiedlich aufgeführt sind: Manchmal steht zuerst die deutsche, willkürlich bisweilen dagegen zuerst die fremdsprachige Version. Auch in den Texten kommt es zu verwirrenden Mischformen, wie beispielsweise „Lódz“ (S. 6). Einem Leser, der das Buch als Einstieg zur Beschäftigung mit dem Raum und der Materie heranzieht, wird die systematische Benutzung zum Zwecke weiterer Arbeiten dadurch gewiss nicht erleichtert. Kleine Einschränkungen der Lesefreude bewirken außerdem die fehlende Übereinstimmung der Überschriften der einzelnen Aufsätze mit den im Inhaltsverzeichnis aufgeführten, sowie einige Rechtschreibfehler, die bisweilen sinnentstellend sind (wenn beispielsweise Lódz „als die größte polnische Gemeinde Polens“ (S. 6) bezeichnet wird, während eigentlich von der größten protestantischen Gemeinde die Rede sein müsste).

Trotz dieser – überwiegend redaktionellen – Schwächen hat Rainer Bendel einen lesenswerten Band vorgelegt, der (mit den erwähnten Einschränkungen) eine sehr gut aufbereitete, einfach und schnell zugängliche Möglichkeit bietet, sich der Thematik zu nähern und sich einen Überblick über den Forschungsstand zu verschaffen. Auch die Beiträge, die spezifischen Themenstellungen und methodischen Reflexionen nachgehen, bergen viel Nachdenkenswertes.

Anmerkung:
1 Maner, Hans-Christian; Schulze Wessel, Martin (Hrsg.), Religion im Nationalstaat zwischen den Weltkriegen 1918-1939. Polen – Tschechoslowakei – Ungarn –Rumänien (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 16), Stuttgart 2002; Schulze Wessel, Martin (Hrsg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 27), Stuttgart 2006. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Sammelband, der zwar freilich von Bendel noch nicht berücksichtigt werden konnte, auf den in diesem Zusammenhang aber dennoch hingewiesen werden sollte, weil darin auch Studien zu der Zeit vor 1989 aufgeführt sind: Kunter, Katharina; Schjørring, Jens Holger (Hrsg.), Die Kirchen und das Erbe des Kommunismus. Die Zeit nach 1989 – Zäsur, Vergangenheitsbewältigung und Neubeginn. Fallstudien aus Mittel- und Osteuropa und Bestandsaufnahme aus der Ökumene, Erlangen 2007. Auch die Beiträge für die Zeit nach 1989 sind im Kontext von Bendels Forschungsinteressen von Bedeutung, weil sie sich – unter Fokussierung unterschiedlicher ostmittel- und südosteuropäischer Länder – mit der Suche der Kirchen nach einer neuen Rolle in den Gesellschaften beschäftigen, und somit also auch hier die Frage nach den kirchlichen Integrationsleistungen von Bedeutung ist.

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