Titel
"Nach Lourdes!". Der französische Marienwallfahrtsort und die Katholiken im Deutschen Kaiserreich (1871-1914)


Autor(en)
Kotulla, Andreas Johannes
Erschienen
München 2006: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
598 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michaela Bachem-Rehm, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Nachdem die Sozialgeschichte des Katholizismus lange Zeit von der historischen Forschung vernachlässigt worden war, hat die kulturgeschichtliche Erweiterung der Sozialgeschichte in den letzten Jahren die Wahrnehmung für die Bedeutung von Religion und Kirche geschärft. In einer Reihe von innovativen Studien zur Sozialgeschichte von Frömmigkeitsformen, zum katholischen Klerus und Bürgertum und zur katholischen Arbeiterschaft wurde die Relevanz von Religion als mentalitätsbildender und gesellschaftsprägender Kraft herausgestellt. 1 Die katholische Marienverehrung in ihrer besonderen Gestalt des Lourdes-Kultes stellte allerdings bisher keinen Gegenstand historischer Forschung dar. David Blackbourns Studie über die Vorgänge des Jahres 1876 im saarländischen Marpingen mit dem vielsagenden Untertitel „Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes“ belegt zwar die Kenntnis der Ereignisse in Frankreich. 2 Offen blieb aber bislang die Frage, ab wann und in welcher Art und Weise Lourdes auch in Deutschland zum Gegenstand katholischer Kommunikation und zum selbstverständlichen Bezugspunkt der Frömmigkeit sowie zum Wallfahrtsziel werden konnte. Dieser Forschungsdesiderate nimmt sich Andreas J. Kotulla in seiner im Mai 2005 von der Theologischen Fakultät der Universität Trier eingereichten Dissertation an.

In seiner Studie zeichnet Kotulla den „Popularisierungsprozess der Verehrung Unserer lieben Frau und der Wallfahrt nach Lourdes in Deutschland zwischen dem deutsch-französischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg“ (S. 7) nach. Die „Strukturen von Kenntnisnahme, tieferer Rezeption des Kultes und der Partizipation deutscher Katholiken an der internationalen Wallfahrt nach Lourdes“ (S. 15) sollen freigelegt werden, wobei der Aktivität von Vermittlern – einzelnen Personen und Organisationen – besonderes Augenmerk gilt. Methodisch beruft sich der Verfasser dabei auf das Konzept des Kulturtransfers, das sich für eine frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchung eigne, weil der ihm zugrunde liegende Kulturbegriff kommunikativ wie praktisch geprägt sei und damit „Vollzüge des Alltags und der Feier als integrale Bestandteile ebenso aufnimmt wie er geistige Gegenstände, also Vorstellungen, Deutungen und Denksysteme umfasst“ (S. 19). Als Hauptquelle zur Erfassung des Interesses an Lourdes im deutschen Katholizismus und der Popularisierung der Kultinhalte und des Wallfahrtsgedankens dient die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert erschienene Lourdes-Literatur, wobei Kotulla den Begriff „Literatur“ nicht normativ verstanden haben will, sondern darunter die verschiedenen Arten selbständig publizierten Schrifttums von Andachts- und Gebetsbüchern bis zu katholischer Belletristik und Pilgerberichten subsumiert.

Die voluminöse Darstellung, die fast 600 Seiten umfasst, ist in eine Einleitung, vier große Hauptkapitel und eine abschließende Einordnung der Ergebnisse in die Katholizismusforschung unterteilt. Auf die allgemeine Einleitung (Teil A) folgt eine einführende Darstellung über die Bedeutung der marianischen Renaissance für die ultramontane Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts (Teil B). Die folgenden Teile C, D, E sind durch einen „Dreischritt“ (S. 24) in der Argumentation miteinander verknüpft: Zunächst wird mit der Schilderung des Initialereignisses von Lourdes – den Marienerscheinungen der jungen Bernadette Soubirous im Jahre 1858 –, seiner Entwicklung zur von Rom geförderten „Weltwallfahrtsstätte“ (S. 24) sowie der Freilegung von im französischen Kontext verankerten Bewertungen und Deutungsmustern die Grundlage für eine Darstellung der Rezeption von Kult und Wallfahrt im Katholizismus des deutschen Kaiserreiches gelegt (Teil C). Danach richtet der Verfasser seinen Blick auf die deutschen Katholiken und zeichnet die Prozesse der Kenntnisnahme sowie der sich steigernden Partizipation am Lourdes-Kult nach (Teil D). Anschließend wird mit einer Analyse der vielgestaltigen deutschsprachigen Lourdes-Publizistik die Funktion literarischer Medien zur Popularisierung des jungen marianischen Kultes ermessen (Teil E).

Überzeugend wird geschildert, wie die Lourdes-Rezeption im Schatten von deutsch-französischem Krieg und Kulturkampf ins Blickfeld der deutschen Katholiken geriet. Während die französischen Marienerscheinungen 1858 nur ein schwaches Echo in Deutschland hervorriefen, entwickelte sich der preußisch-deutsche Kulturkampf, der die Katholiken mit dem Mal der nationalen Unzuverlässigkeit belegte, zur Szenerie für die Verbreitung des Lourdes-Kultes im Kaiserreich. Die Vorgänge des Jahres 1876 in Marpingen – drei kleine Mädchen hatten von Marienvisionen in einem Wald in der Nähe des Dorfes berichtet – weckten besonders bei Vertretern des jüngeren Klerus Hoffnungen auf ein „deutsches Lourdes“. Nach Ansicht des Verfassers zeichnet sich anhand der Marpingen-Debatte „klar der Bekanntheitsgrad ab, den Lourdes im Deutschland der 1870er Jahre bereits erlangt hatte“ (S. 223). Die ersten „Multiplikatoren des Kultes in Deutschland“ (S. 236) waren dabei zumeist Geistliche, die ihre persönliche Faszination für den französischen Wallfahrtsort in vielgestaltige Aktivitäten umsetzten und so dazu beitrugen, dass die deutschen Katholiken mit den Ereignissen von Lourdes vertraut wurden. Während des Kulturkampfes waren Wallfahrten nach Lourdes staatlicherseits nicht verboten, die Teilnahme konnte aber für Geistliche Konsequenzen wie den Entzug der Lehrerlaubnis nach sich ziehen. Die Teilnahme deutscher Katholiken an der Wallfahrtsbewegung blieb bis zur Jahrhundertwende sehr marginal und erhielt erst durch das Engagement des 1900 gegründeten „Deutschen Lourdes-Vereins“ Auftrieb. Dieser Verein, der zumindest im rheinischen Raum als Veranstalter von Großwallfahrten konkurrenzlos war und 1908 über 3800 Mitglieder umfasste, war von Geistlichen und katholischen Honoratioren ins Leben gerufen worden, um auch katholischen Arbeitern eine Wallfahrt nach Lourdes zu ermöglichen: „Die Entfaltung der deutschen Lourdes-Bewegung im frühen 20. Jahrhundert verdankte sich somit maßgeblich dem mit sozialkaritativem Anspruch unterlegten Engagement des katholischen […] rheinischen Bürgertums“ (S. 308). Der „Deutsche Lourdes-Verein“, der im katholischen Vereinsspektrum ein vergleichsweise „kleines Licht“ (S. 312) blieb, erwies sich in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges als ein „Protagonist der Apologie von Lourdes“ (S. 315), die angesichts einer zunehmenden öffentlichen Polemik gegen den Kult und die Wallfahrtsbewegung notwendig erschien. Aus nachvollziehbaren Gründen setzte der Erste Weltkrieg der „intensiven Rezeptionskonjunktur“ (S. 534) ein abruptes Ende. An den bis 1914 erreichten Rezeptionsstatus konnte jedoch in bescheidenem Maße bereits während der Zwischenkriegszeit, verstärkt aber nach dem Zweiten Weltkrieg angeknüpft werden. Nur auf dieser Basis vorhandener Kenntnisse, Erfahrungen und Vorstellungen von Lourdes ist – so der Verfasser – eine „verbleibende Attraktivität der Pilgerstätte in den französischen Pyrenäen“ (S. 534) zu erklären.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es sich bei Kotullas Studie um einen innovativen Beitrag zur Frömmigkeitsgeschichte handelt. Überzeugend wird herausgearbeitet, dass sich die Rezeption des Lourdes-Kultes im Katholizismus des deutschen Kaiserreiches und die deutsche Praxis von Pilgerfahrten an die französische Wallfahrtsstätte als erfolgreicher Transfer eines religiösen Kulturgutes kennzeichnen lassen. Die Frage muss aber erlaubt sein, ob dieser Erkenntnisgewinn nicht auch durch eine weniger ausufernde Darstellung hätte erreicht werden können.

Anmerkungen:
1 Grundlegend: Altermatt, Urs, Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1991.
2 Blackbourn, David, „Wenn ihr sie wiederseht, fragt wer sie sei“. Marienerscheinungen in Marpingen – Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek bei Hamburg 1997.