A. Löw: Juden im Getto Litzmannstadt

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Titel
Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten


Autor(en)
Löw, Andrea
Erschienen
Göttingen 2006: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
584 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Vossen, Düsseldorf

Andrea Löw untersucht in ihrer Dissertation die Geschichte des Gettos von Litzmannstadt, in dem während der deutschen Besetzung Polens zwischen 1940 und 1944 mehr als 200.000 jüdische Menschen unter katastrophalen Lebensbedingungen eingesperrt waren. Łódź bzw. Litzmannstadt, wie die Stadt seit April 1940 auf Befehl Hitlers hieß, gehörte seit November 1939 zum „Reichsgau Wartheland“, einem auf annektierten westpolnischen Gebieten errichteten neuen NS-„Mustergau“. In dieser Stadt befand sich (nach Warschau) das zweitgrößte und das am längsten bestehende jüdische Getto im Deutschen Reich während der NS-Zeit.

Der besondere Wert von Löws Arbeit liegt darin, dass sie sich in ihrer Untersuchung konsequent auf die Innenansicht des Gettos aus der Perspektive seiner Bewohnerinnen und Bewohner konzentriert. Dabei stehen die von außen durch die deutsche Verwaltung gesetzten Lebensbedingungen, ihre Rezeption in der Selbstwahrnehmung der Betroffenen und das sich daraus ergebende Verhalten der Gettobewohner im Mittelpunkt ihrer Darstellung. Durch diesen Ansatz werden die Auswirkungen der nationalsozialistischen Maßnahmen auf die jüdische Bevölkerung aus der Perspektive der Opfer deutlich. Dabei stützt sich Andrea Löw auf eine Fülle von Quellen in deutscher, polnischer und jiddischer Sprache, die durch ihr Buch zum großen Teil erstmalig für die deutsche Forschung erschlossen werden. Neben Selbstzeugnissen wie Tagebüchern oder Erinnerungen werden auch die erhaltenen Akten der jüdischen Selbstverwaltung des Gettos, die von Mordechai Chaim Rumkowski geführt wurde, und die Unterlagen der deutschen Gettoverwaltung herangezogen. Für die allgemeine Geschichte der Judenverfolgung im Warthegau stützt sich die Autorin auf die zahlreich vorhandene polnische und deutsche Literatur, vor allem das vor kurzem erschienene Überblickswerk von Michael Alberti. 1

Andrea Löw beschreibt in vier chronologisch gegliederten Hauptkapiteln den Prozess der Gettoisierung, die grundlegenden Determinanten des Lebens im Getto sowie seine Auflösung und die Ermordung der Bewohnerinnen und Bewohner. In einem einführenden Kapitel, das die Zeit von der deutschen Besetzung bis zur Schließung des Gettos behandelt (September 1939 bis April 1940), geht die Verfasserin auf die „Zerstörung der alten Ordnung“ des jüdischen Lebens in Łódź ein (S. 55-95). In Łódź lebten zu Beginn der deutschen Okkupation etwa 233.000 polnische Juden, etwa ein Drittel der Bevölkerung, die im wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Leben der Stadt eine wichtige Rolle spielten. Beispielsweise befanden sich die großen Textilfabriken ausschließlich in der Hand jüdischer und deutschstämmiger Fabrikanten, was in der polnischen Mehrheitsgesellschaft Neid und Missgunst hervorrief. Der Handlungsspielraum der jüdischen Bevölkerungsgruppe wurde bereits durch die antijüdische Gesetzgebung in Polen in den 1930er-Jahren eingeschränkt. Der deutsche Einmarsch in Łódź am 8. September 1939 veränderte die Lebensbedingungen der Łódźer Juden allerdings in dramatischer Weise. Große Teile der jüdischen Bevölkerung blieben in der Stadt, weil sie nicht ahnten, was auf sie zukam. Die Eliten wurden von den deutschen Besatzern in der Regel verhaftet und überwiegend sofort ermordet. Demütigungen und Misshandlungen jüdischer Menschen durch die deutschen Invasoren waren an der Tagesordnung. Auf Anordnung der deutschen Verwaltung wurde ein jüdischer Ältestenrat mit Mordechai Chaim Rumkowski an der Spitze gebildet, der das innerjüdische Leben organisieren und die deutschen Befehle ausführen sollte. Im Dezember 1939 begannen auf Anordnung des zuständigen Regierungspräsidenten Uebelhoer die Vorbereitungen für die Gettoisierung der jüdischen Bevölkerungsgruppe. Heydrich hatte sie als Voraussetzung für die geplante Deportation der jüdischen Bevölkerung bereits im September 1939 angeordnet. In Łódź wurde diese Anordnung früh umgesetzt. Im Norden der Stadt entstand im ältesten und baulich schlechtesten Stadtviertel das erste Großgetto auf polnischem Boden. Voraussetzung seiner Einrichtung waren umfangreiche Umsiedlungen, die auf eine Segregation der drei Bevölkerungsgruppen abzielten und diese auch erreichten. Ab Mitte Februar 1940 begann der vielfach erzwungene Umzug der Lodzer Juden in das ihnen zugewiesene Gebiet, das 4,13 Quadratkilometer umfasste. Dort wurden bei Schließung des Gettos im April 1940 schließlich 160.000 jüdische Menschen eingepfercht.

Wie gingen sie mit dieser Lebenswirklichkeit um? In den beiden folgenden Kapiteln, die den eigentlichen Hauptteil des Buches darstellen, widmet sich Andrea Löw dieser Frage. Die im Getto eingesperrten jüdischen Menschen verwalteten sich unter der Leitung des von den Deutschen eingesetzten Rumkowski offiziell selbst. Wie Löw in ihrem dritten Kapitel (S. 97-262) herausarbeitet, handelte es sich dabei allerdings um eine „Scheinautonomie“, denn die jüdische Selbstverwaltung war in jeder Hinsicht von den Deutschen abhängig. Allerdings wurde sie, wie Löw immer wieder anhand der Quellen belegen kann, von den jüdischen Gettobewohnern als allein verantwortlich wahrgenommen, da die von Hans Biebow geleitete deutsche Gettoverwaltung kaum in Erscheinung trat. Der Judenrat hatte unter der Führung des autokratisch regierenden Rumkowski einen eigenen Handlungsspielraum, den er zur Stärkung seiner Macht gegenüber der jüdischen Bevölkerung nutzte. Es entwickelte sich eine neue, privilegierte Oberschicht im Getto, die aus Rumkowski, seiner Familie und seinen engsten Vertrauten bestand. Löw analysiert detailliert die Schlüsselrolle Rumkowskis, bei dem sich Willfährigkeit gegenüber den Deutschen, die Sorge um die Sicherung eigener Macht und Privilegien mit einer paternalistischen Sorge für die Gettobewohner und einer straffen inneren Verwaltung mischten. Auf Anordnung der deutschen Besatzer wurde im Frühjahr 1940 ein jüdischer „Ordnungsdienst“ eingerichtet, der im Laufe der Zeit zu einem eigenen jüdischen Kontroll- und Überwachungsapparat heranwuchs und mit den deutschen Besatzern eng zusammenarbeitete. Ebenso wichtig war die Organisation der Arbeit im Getto. Es wurde zu einem Produktionsstandort für die Wehrmacht ausgebaut und genoss einen gewissen Schutz, da seine Produktion als kriegswichtig galt. Rumkowski versuchte, so viele Gettobewohner wie möglich in den Arbeitsprozess einzubinden und hoffte, sie damit vor der Deportation zu schützen, ein schrecklicher Irrtum, wie sich schließlich herausstellte. Das Getto entging der Vernichtung nicht, worüber Löw im fünften Kapitel (S. 263-442) berichtet.

Dabei rekonstruiert sie vor allem den Gettoalltag, verweist dabei auf die überragende Rolle, die Kultur und Religion für die Bewältigung der Lebenssituation im Getto besaßen und zeichnet die gettointernen Machtkämpfe zwischen den polnischen und den westeuropäischen Juden nach. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Darstellung sind die Deportationen, durch die das Getto im Laufe der Kriegsjahre immer weiter verkleinert und auf den Kern der arbeitsfähigen Bewohner reduziert wurde. Die meisten Gettobewohner wurden, wenn sie noch nicht oder nicht mehr arbeitsfähig oder krank war (dazu wurden ab Herbst 1942 auch die Kinder unter 10 Jahren gerechnet), in den Jahren 1941 bis 1944 in mehreren Transportschüben in das gaueigene Konzentrationslager Kulmhof deportiert und dort ermordet. Die letzten etwa 70.000 Einwohner starben im Sommer 1944 nach Auflösung des Gettos in den Gaskammern von Auschwitz. Nur etwa 900 jüdische Menschen, die als Aufräumkommando zurückbehalten worden waren, überlebten bis zum Einmarsch der Roten Armee in Litzmannstadt im Januar 1945.

Andrea Löw hat eine detailgenaue, akribisch recherchierte Dissertation verfasst, durch die zahlreiche neue Quellen erschlossen werden. Ihre Studie ist eine unverzichtbare Darstellung zur Geschichte der Gettoisierung im Nationalsozialismus und setzt Maßstäbe für weitere Forschungen zu diesem Thema.

Anmerkung:
1 Alberti, Michael, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939-1945, Wiesbaden 2006.

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