H.-U. Wehler: Notizen zur deutschen Geschichte

Cover
Titel
Notizen zur deutschen Geschichte.


Autor(en)
Wehler, Hans-Ulrich
Reihe
Beck'sche Reihe
Erschienen
München 2007: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Stelzel, History Department, University of North Carolina, Chapel Hill

Im Rahmen der zunehmenden historiographischen Beschäftigung mit den 1970er- und 1980er-Jahren hat in der letzten Zeit auch die Historisierung der „Bielefelder Schule“ begonnen. Angesichts des Machtbewusstseins und des Temperaments insbesondere ihrer Hauptfiguren kann es dabei kaum überraschen, dass die Historisierten fleißig selbst mithistorisieren. Einige Kostproben davon – sowie einiges mehr – liefert Hans-Ulrich Wehlers neue Essay-Sammlung „Notizen zur deutschen Geschichte“.

Der Band „präsentiert eine bunte Vielfalt von Themen, die […] die eigenen Interessen und Kontroversen der Gegenwart widerspiegeln“ (S. 11). Er enthält insgesamt 35, zum Großteil innerhalb der letzen drei Jahre entstandene Beiträge, die in vier nur teilweise einleuchtend gegliederte Abschnitte unterteilt sind. Der erste Abschnitt bietet eine Mischung aus Rezensionen, Überlegungen zu Periodisierungen und Kontinuitäten der deutschen Geschichte und theoretisch-methodischen Reflexionen. Im zweiten Abschnitt liefert Wehler erst Beiträge zu Nationalismus und Nationalsozialismus, bevor er sich tagespolitischen Themen rund um die Schröder-Regierung widmet. Der dritte Abschnitt enthält Würdigungen einer Reihe von Politikern und Historikern, während der letzte Abschnitt Rezensionen von recht unterschiedlichen Studien und einen Kommentar zur Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums umfasst.

Als Rezensent zeigt sich Wehler gewohnt gnadenlos: In seiner Auseinandersetzung mit Götz Alys Buch „Hitlers Volksstaat“ geißelt er dessen „anachronistischen Vulgärmaterialismus“ (S. 22). Zum ersten Band von Richard Evans’ Synthese der NS-Geschichte hält Wehler fest, dass ihn „strukturgeschichtlich uninteressierte Leser auch hierzulande begrüßen mögen“ (S. 237). Hartmut Boockmanns Geschichte der deutschen Universität beurteilt er als „analytisch uninteressiert, dafür aber gesinnungsstark und ressentimentgeladen“ (S. 267). Von Altersmilde ist also bei Wehler weiterhin nichts zu spüren.

Wenn man sich jedoch von der sprachlichen Militanz nicht abschrecken lässt, die bisweilen auch den Eindruck inhaltlicher Unbeweglichkeit erweckt, stößt man auf Wehlers immer wieder aufscheinende Flexibilität und Revisionsbereitschaft. So zeichnet sich etwa der Beitrag über die transnationale Geschichte nicht nur durch Seitenhiebe gegen das „postmoderne Kauderwelsch“ Michael Geyers aus, sondern vor allem durch die Betonung der Vorzüge dieser transnationalen Perspektive – verbunden mit dem Eingeständnis der Schwächen, welche die Nationalstaatsfixierung von Wehlers Generation seit den 1970er-Jahren mit sich gebracht habe. Hingegen verteidigt Wehler den Gebrauch einer flexiblen Modernisierungstheorie mit guten Argumenten gegen die jüngst daran geübte Kritik von Chris Lorenz.

Zu den eindrucksvollsten Teilen des Bandes zählen zweifellos Wehlers biographische Porträts. Ob in den Skizzen über Ernst Reuter und Johannes Rau, dem Nachruf auf Wolfgang J. Mommsen oder den Laudationes auf James J. Sheehan und Hartmut Zwahr: Stets gelingt es dem Autor auf knappem Raum, die Person und das politische (oder wissenschaftliche) Lebenswerk zwar mit unverhohlener Sympathie, aber keineswegs unkritisch zu beleuchten.

Überzeugend fallen auch Wehlers Essays zur amerikanischen Geschichte und Politik sowie zu den deutsch-amerikanischen Beziehungen aus. Im Rahmen der inner- wie außerwissenschaftlichen Westbindung der Bundesrepublik haben die USA für ihn seit Studententagen eine wichtige Rolle gespielt. Ferner unterhält Wehler nicht nur enge Kontakte zu amerikanischen Deutschlandhistorikern, sondern hat auch selbst zur amerikanischen Geschichte geforscht. Daher folgt auf eine instruktive historische Analyse des amerikanischen Nationalismus fast folgerichtig ein Plädoyer für eine „konfliktbereite Kooperation mit der amerikanischen Weltmacht“ (S. 139-146). Ebenso einleuchtend ist Wehlers Analyse des hierzulande weitgehend zum billigen Slogan verkommenen „Antiamerikanismus“: Ausgehend von einer – durchaus positiven – Rezension der Studie von Andrei Markovits zu ebendiesem Thema warnt Wehler vor einer zu engen analytischen Verbindung zwischen Antiamerikanismus und Antisemitismus und relativiert zugleich einige der angeblichen historischen Kontinuitäten des Antiamerikanismus in Europa.

Weit weniger überzeugt dagegen die Arbeit des C.H. Beck’schen Lektorats an diesem Band. Wehlers Meinung über Michel Foucault dürfte wohl niemandem entgangen sein, der in den letzten Jahren einen der zahlreichen Aufsätze des Bielefelder Historikers zu Lage und Perspektiven der Geschichtswissenschaft gelesen hat. Angesichts dessen erstaunt, dass man hier einer erneuten deutlichen Abrechnung Wehlers mit Foucault innerhalb von nur 20 Seiten in zwei verschiedenen Beiträgen gleich zweimal begegnet – und zwar wortgleich (S. 98f. bzw. S. 117f.). Dasselbe gilt für zwei ebenfalls identische Abschnitte, in denen sich Wehler gegen die Gleichsetzung der Bush-Administration mit „den USA“ wendet (S. 144f. bzw. S. 154ff.). Ein halbwegs aufmerksamer Lektor hätte hier nicht nur kürzen, sondern auch gleich noch das US-Kabinettsmitglied „Ashford“ (gemeint ist John Ashcroft) korrigieren können. Mögen diese Bemerkungen im Einzelnen kleinlich erscheinen, so stören die Wiederholungen und Fehler doch zumindest in der Summe.

Insgesamt bietet der Band die bekannte Mischung aus wissenschaftlichen und eher tagespolitischen Beiträgen, mitsamt der üblichen Stärken und Schwächen:1 Wer sich bislang über die oft überpointierten Urteile einschließlich der manchmal wohl entbehrlichen Seitenhiebe Wehlers gegen die üblichen Verdächtigen geärgert hat, wird das auch hier wieder tun. Wer die Fähigkeit Wehlers zu prägnanten analytischen Skizzen (hier etwa zum „kurzen 20. Jahrhundert“ und zu „Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Geschichte 1945–1990“) schätzt, wird hier ebenso erneut fündig. Und wer Wehler gern als Public Intellectual liest, findet hier auch wieder interessante und anregende Beiträge. Denn selbst wenn man seine wissenschaftlichen oder politischen Ansichten nicht teilt, lohnt sich die Auseinandersetzung mit ihnen in jedem Fall.

Anmerkung:
1 Vgl. die vorangegangenen ähnlichen Aufsatzsammlungen: Wehler, Hans-Ulrich, Preußen ist wieder chic... Politik und Polemik in 20 Essays, Frankfurt am Main 1983; Aus der Geschichte lernen? Essays, München 1988; ders., Die Gegenwart als Geschichte. Essays, München 1995; ders., Politik in der Geschichte. Essays, München 1998; ders., Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert, München 2000; ders., Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Essays, München 2003 (rezensiert von Reinhard Mehring: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-209>). Siehe neuerdings auch ders., Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Cornelius Torp und Manfred Hettling, München 2006 (rezensiert von Lutz Raphael: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-026>).

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