Titel
Die Julikrise 1914. Wie Deutschland in den Ersten Weltkrieg stolperte


Autor(en)
Meyer-Arndt, Lüder
Erschienen
Köln u.a. 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedrich Kießling, Institut für Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Was ist nach nun bald schon einem Jahrhundert intensiver Forschung zum Kriegsausbruch von 1914 von einer minutiösen Darstellung der deutschen Politik in der Julikrise zu erwarten? Einiges, meint Lüder Meyer-Arndt. Seine Sicht, so schreibt er in der Einführung, sei jedenfalls „in Teilen neu“ und werde die „Wahlmöglichkeit der heute an diesen historischen Fragen interessierten Kreise erweitern“(S. 5f.). Vor allem treibt den Juristen Meyer-Arndt die Frage um, warum die deutschen Entscheidungsträger dem Krieg nicht auswichen, obwohl ihnen durchaus klar war, welch hohes Risiko er schon rein militärisch bedeutete, und ebenso unbestimmt blieb, was in einem großen europäischen Krieg eigentlich für das Reich gewonnen werden konnte.

Um seine Fragen zu beantworten, hat sich Meyer-Arndt intensiv mit den veröffentlichten Quellen beschäftigt und auch Archivmaterial, vor allem des Archivs des Auswärtigen Amtes und des Bundesarchivs, ausgewertet. Auf dieser Basis rekonstruiert er die deutsche Politik und Diplomatie zwischen 28. Juni und Anfang August beinahe Tag für Tag. Er wendet bekannte und unbekanntere Telegramme, Berichte und Noten der kaiserlichen Diplomatie hin und her, spekuliert über die jeweilige Autorschaft, beschreibt, wer mit wem gesprochen – oder auch nicht gesprochen hat oder welche Telefonate geführt worden sind. Wer die Quellenlage zur Julikrise von 1914 kennt, weiß, welche Mühen eine solche Arbeit darstellt. Er weiß aber auch, dass sie natürlich nicht zum ersten Mal geleistet worden ist.

Der Hoffnung von Meyer-Arndt, mit seiner Arbeit neue Deutungsmöglichkeiten zu erschließen, kann sich der Rezensent vielleicht auch deswegen insgesamt nicht anschließen. Die Studie bietet zwar eine große Fülle historischer Einzelheiten, seine Rekonstruktion der Tage und Wochen nach den Schüssen von Sarajevo mag sich aber nicht zu einem Verständnis der deutschen Politik fügen, das über die bisherigen Erkenntnisse hinausginge. Meyer-Arndts Charakterisierung der eigenen Position: „Bejahung von haarsträubenden, unverantwortlichen Fehlern der deutschen Entscheidungsträger, aber Verneinung des Strebens nach europäischer Hegemonie“ (S. 6), mutet dann auch alles andere als sensationell an.

Neben der Tatsache, dass die ganz überwiegende Zahl der Quellen eben doch schon in andere Interpretationen eingeflossen ist, liegt das wohl vor allem an zwei Beschränkungen der Arbeit. Zum einen konzentriert sich Meyer-Arndt – von wenigen Ausnahmen abgesehen – vollständig auf die fünf Wochen der Julikrise. Damit schneidet er sich selbst Deutungsmöglichkeiten ab, die sich aus der deutschen Diplomatie der letzten Jahre vor 1914 ergeben. Das wird etwa deutlich, wenn er das „Auseinandermanövrieren“ der Tripleentente als Motiv der deutschen Politik abstreitet (z.B. S. 299). Selbst wenn dies durch die Dokumente aus der Julikrise, wie Meyer-Arndt behauptet, nur schwer zu stützen wäre, könnte es doch für die Jahre und Monate vor den Morden von Sarajevo vielfach belegt werden.

Die zweite Begrenzung ist im Kern eine methodische. Meyer-Arndt versucht die explizit formulierten Motive und Intentionen der deutschen Entscheidungsträger zu ergründen und daraus ein schlüssiges Kalkül der deutschen Führung zu entwickeln. Er hält die vermuteten Absichten Wilhelms II., Moltkes, Bethmann Hollwegs oder der führenden Beamten des Auswärtigen Amtes nebeneinander und versucht sozusagen, die für den Verlauf der Krise plausibelsten Motive herauszufiltern. Das kann in diesem Fall allerdings kaum gelingen. Zum einen gab es, wie auch Meyer-Arndt selbst immer wieder betont, niemanden, der die Dinge von Anfang bis zum Ende in Berlin in der Hand gehabt hätte, zum anderen ist davon auszugehen, dass auch die einzelnen Personen mit unterschiedlichen und sich zum Teil widersprechenden Szenarien und Strategien arbeiteten. Man muss deswegen nicht von Berlin als „Absurdistan“ sprechen, wie es Stig Förster getan hat, man sollte aber vermutlich die Vielfalt der – im Übrigen oft nur implizit zu findenden – Haltungen, Erwartungen und Ziele stärker zum Ausgangspunkt machen.

Wenn Müller-Arndts Studie, wie Imanuel Geiss in einem Geleitwort schreibt, „in seinem Bemühen um selbstkritische Objektivität auch die Aufmerksamkeit der Fachwelt“ verdient, dann wegen mancher Einzelaspekte. Nicht zuletzt wird einmal mehr deutlich, welch große Bedeutung einzelne Diplomaten wie der Unterstaatssekretär Zimmermann oder der deutschen Botschafter in Wien, von Tschirschky, angesichts des höchst unprofessionell anmutenden Krisenmanagements der deutschen Führung in den entscheidenden Tagen erringen konnten.

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