H. Halbrainer u.a. (Hrsg.): Kriegsverbrechen

Titel
Kriegsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen und die europäische Strafjustiz von Nürnberg bis Den Haag.


Herausgeber
Halbrainer, Heimo; Kuretsidis-Haider, Claudia
Reihe
Veröffentlichungen der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz 1
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Moll, Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz

Es ist schon seltsam: Jahrzehntelang sind die sowohl in der damaligen BRD als auch in Österreich während der 1960er-Jahre weitgehend ausgelaufenen Prozesse wegen Verbrechen unter dem NS-Regime in Vergessenheit geraten. Kaum jemand interessierte sich für sie: Die breite Öffentlichkeit wollte nur ungern an die braune Vergangenheit erinnert werden, auch glaubte sie mit einer gewissen Berechtigung annehmen zu können, ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende seien alle anhängigen Verfahren ohnedies abgeschlossen. Die Geschichtswissenschaft griff – in dem Maße, wie die Originaldokumente aus der NS-Zeit zugänglich wurden – selten auf Prozessmaterialien als Quellen für das Geschehen zwischen 1933 und 1945 zurück; zu problematisch schienen ihr die dieser Quellengattung immanenten Verzerrungen. Die Juristen wiederum hatten zur Kenntnis genommen, dass die für die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse 1945/46 formulierten Prinzipien zwar Eingang ins Völkerrecht gefunden hatten, doch wurden sie faktisch nach Abschluss der Verfahren gegen die besiegten Deutschen und Japaner nicht mehr angewandt. Auch von daher versprach die Beschäftigung mit der justiziellen Bewältigung des Zweiten Weltkrieges wenig Gewinn.

Anfang der 1990er-Jahre sollte sich dies schlagartig und nachhaltig ändern. Dazu trugen vielfältige Ursachen bei, auf die hier nicht en detail einzugehen ist. Nur stichwortartig sei angeführt, dass nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Frage nach der Aufarbeitung der Vergangenheit durch das Recht, nunmehr bezogen auf die Zeit von 1933 bis um 1990, neu bzw. erstmals gestellt werden konnte. Der Schock über genozidale Vorgänge in Ruanda sowie im ehemaligen Jugoslawien lenkte den Blick zurück auf frühere Versuche, Völkermord zu ahnden. Vereinfacht gesagt: Die Einsetzung zweier internationaler Tribunale zur Aburteilung der in Ruanda und auf dem Balkan begangenen Verbrechen belebte zwangsläufig das Interesse an den Nürnberger Prozessen von 1945/46 als Stammversion solcher Verfahren. Durch die Anläufe zur Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts und dessen praktische Umsetzung durch einen Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der seither immer wieder in den Massenmedien auftaucht, wurde die Aufmerksamkeit für „Nürnberg“ und alles, was mit dieser Chiffre verbunden wird, dauerhaft.

Diesen hier nur grob skizzierten Bogen von Nürnberg nach Den Haag wollte auch eine im März 2006 an der Universität Graz veranstaltete Konferenz mit dem Titel „Genocide on Trial“ spannen. Veranstaltet hatte sie neben dem Institut für österreichische Rechtsgeschichte und europäische Rechtsentwicklung der Universität Graz die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz sowie das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Fast auf den Tag genau ein Jahr später (und damit ungewöhnlich schnell) liegen nunmehr die um einige Texte erweiterten Referate der Grazer Tagung im Druck vor. Die veranstaltenden Institutionen stellen erwartungsgemäß die Mehrzahl der Beiträger, wenngleich deren Kreis über die Grenzen Österreichs hinaus erweitert werden konnte. Der Autorenkreis spiegelt nicht zuletzt das massive Interesse, das dem Thema seit dem Zerfall des Sowjetimperiums in Osteuropa entgegen gebracht wird. Dieses Interesse ebenso wie die Fragestellungen der Tagung und des Bandes speisen sich freilich aus sehr unterschiedlichen Wurzeln: Neben den erwähnten Nutzanwendungen historischer Vorläufer für das gegenwärtige Völkerstrafrecht geht es in Deutschland und Österreich immer noch um die Frage, ob überhaupt eine durchgreifende Ahndung von NS-Unrecht durch die Strafjustiz geglückt ist. Anders formuliert: War es wirklich so, dass die meisten und gerade die am stärksten belasteten NS-Täter auf Milde rechnen konnten, wenn sie denn überhaupt verfolgt wurden? Und wenn dies so war, lag dies an einer bewussten Sabotage der theoretisch verpflichtenden strafrechtlichen Maßnahmen? Für Osteuropa stellt sich die Problematik anders; dort erhebt sich die (mittlerweile durch erledigte Wiederaufnahme- und Rehabilitierungsanträge geklärte) Frage, ob die seinerzeit unter den Auspizien kommunistischer Diktaturen gefällten Urteile gegen NS-Täter und Kollaborateure rechtsstaatlichen Kriterien entsprachen oder nicht vielmehr eine reine Politjustiz darstellten.

Diesen Komplexen nähert sich der Band in mehreren Blöcken, wobei erstaunlicherweise der Bezug zum gegenwärtigen Völkerstrafrecht an den Anfang gestellt ist, was bei durchgehender Lektüre ein wenig verwirrt. Eingangs leuchtet Wolfgang Form die Entwicklungslinien vom ungesühnten Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges bis zu den Kriegsverbrecherprozessen 1945/46 aus. Otto Triffterer widmet sich den Bestrebungen ab etwa 1990, den schon früher normierten Tatbestand des Genozids durch die Implementierung entsprechender Tribunale bzw. eines Ständigen Internationalen Gerichtshofs wirklich durchzusetzen. Entgegen verbreiteten Annahmen unterstreicht Triffterer, dass die internationale Gerichtsbarkeit die Justiz der betroffenen Einzelstaaten nur von Fall zu Fall ergänzen, keineswegs aber ersetzen soll. Sodann schwenkt der Blick nach Österreich: Gleich drei Beiträge (Winfried R. Garscha, Romana Schweiger und Karin Bruckmüller/Stefan Schumann) gehen von dem 1945 verabschiedeten Kriegsverbrechergesetz (KVG) aus und fragen, ob diese zwölf Jahre in Geltung gestandene Norm ein Vorbild für aktuelle völkerstrafrechtliche Kodifizierungen sein könne. Abgesehen davon, dass diese Beiträge zahlreiche Wiederholungen und Überschneidungen beinhalten, kommen sie zu einander widersprechenden Resultaten. Man ist sich einig, dass das Gesetz zu seiner Zeit ein „Meilenstein“ beim Schutz der Menschenwürde war (Beitrag Bruckmüller/Schumann), doch sei, wie ein Teil der Autoren meint, die Zeit darüber hinweg gegangen. Dank neuer, verbesserter Rechtsinstrumentarien auf internationaler Ebene ist das KVG heute nur mehr von historischem Interesse, während seine Wiederingeltungsetzung lediglich vereinzelt verlangt wird. An die Aufhebung des KVG 1957 anknüpfend, beleuchtet Anke Sembacher Österreichs gegenwärtige, sich aus dem Völkerstrafrecht ergebenden Verpflichtungen, wobei sie zu einem eher ernüchternden Befund gelangt: Die Alpenrepublik hat zwar alle einschlägigen Abkommen ratifiziert, aber so gut wie keine Vorkehrungen zu deren Implementierung getroffen; allerdings ist in der Praxis auch noch kein einschlägiger Fall aufgetreten.
Der zweite und umfangreichste Themenblock behandelt in zehn Beiträgen „NS-Verbrechen vor nationalen Gerichten im europäischen Kontext“. Auch hier ist die Anordnung nicht immer einsichtig. Zu Beginn bietet Claudia Kuretsidis-Haider ein gesamteuropäisches Panorama „abseits der alliierten Prozesse“. Es folgt ein Beitrag Heimo Halbrainers zu Österreich, in dessen Mittelpunkt die Ahndung von Denunziationen während der NS-Zeit steht. C. F. Rüter präsentiert sodann seine in vieljähriger Arbeit erstellte, vielbändige Edition der in beiden deutschen Staaten wegen NS-Gewaltverbrechen gefällten Urteile – mit Abstand der originellste und anregendste Beitrag des Bandes. Danach folgt wieder ein Schwenk auf die Einzelstaaten, von denen Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Belgien, „die böhmischen Länder“ und Slowenien in unterschiedlich langen Artikeln summarisch vorgestellt werden. Leider fehlt eine unter Vergleichsaspekten besonders interessierende Studie zu Italien, auf das auch der Überblicksartikel von Kuretsidis-Haider nur kursorisch eingeht (S. 95). Aus dem Rahmen fällt der hier eingeordnete Beitrag von Witold Kulesza, der unter dem Titel „Völkermord vor Gericht in Polen“ lediglich ein einziges Verfahren, jenes gegen den Höheren SS- und Polizeiführer von Danzig-Westpreußen, Richard Hildebrandt, in den Blick nimmt. Langatmig stellt Kulesza die Auslassungen Hildebrandts vor Gericht dar, während man über die Vorgänge in Polen insgesamt kaum etwas erfährt.

Der dritte und abschließende Block widmet sich erneut und diesmal ausschließlich der österreichischen Nachkriegsjustiz. Die ersten vier von insgesamt sieben Beiträgen handeln die vier mit der Anwendung des KVG sowie des NS-Verbotsgesetzes befassten Oberlandesgerichte bzw. die bei diesen installierten „Volksgerichte“ ab. Es sind dies die Sprengel Wien (Susanne Uslu-Pauer), Graz mitsamt der Außenstelle Leoben (Heimo Halbrainer/Martin F. Polaschek), Linz (Garscha/Kuretsidis-Haider) sowie Innsbruck (Martin Achrainer). Trotz des Blicks auf jeweils einen Sprengel treten hierbei die Gemeinsamkeiten, aber mehr noch die Unterschiede in der praktischen Handhabung der genannten Gesetze zu Tage. Dies ist umso erfreulicher, als die vier Beiträge keineswegs das gesamte Deliktsspektrum untersuchen, sondern zwischen „Tötungsverbrechen“ (Wien), „NS-Gewaltverbrechen“ (Graz-Leoben), „Legionäre(n), DenunziantInnen, Illegale(n)“ (Linz) und allgemein der „Spruchpraxis 1946-1955“ (Innsbruck) schwanken. Den Abschluss bilden drei als Fallstudien zu bezeichnende kleine Beiträge: Sabine Loitfellner skizziert ein 1966 von Simon Wiesenthal der österreichischen Bundesregierung unterbreitetes Memorandum und die darin aufgezeigten Defizite der Ahndung von NS-Verbrechen, wobei sie die Befunde, um nicht zu sagen Anklagen Wiesenthals mehr oder minder unkommentiert in den Raum stellt. Auf die Versäumnisse stellt auch Eva Holpfer mit ihrem Beitrag über die unterbliebene Verfolgung von NS-Deportationsverbrechen ab. Ganz am Ende schildert Gabriele Pöschl auf wenigen Seiten die mehrmals an Freisprüchen durch die Geschworenen gescheiterten Anklagen gegen Franz Murer, einer der Hauptverantwortlichen für die Massenmorde im jüdischen Ghetto von Wilna 1941-1943. So skandalös diese Verfahren geführt worden sein mögen: Hält man sich die differenzierten Befunde dieses Bandes vor Augen, so hinterlässt es einen schiefen Eindruck, wenn der letzte Satz des Buches mit Blick auf Murer postuliert, der österreichische Rechtsstaat habe sich „selbst ein Armutszeugnis ausgestellt“ (S. 301). Unübersehbar wechselt der Tonfall des Bandes in den letzten drei Beiträgen von einer nüchtern-sachlichen Bestandsaufnahme zu einem anklägerischen Duktus.

Der hier vorgestellte Band ordnet sich in eine Forschungslandschaft ein, die in den letzten zwei Jahrzehnten eine enorme Entwicklung erfahren hat. Die ehemals weißen Flecken haben sich inzwischen zu einem Überangebot an einschlägigen Veröffentlichungen gewandelt. Wie nicht zuletzt der Anmerkungsapparat der Beiträge ausweist, basieren diese auf einer Fülle von Monographien und Aufsätzen zu einzelnen Aspekten, von Gesamtdarstellungen über Studien zu Gerichtssprengeln bis hin zu einzelnen Prozessen. Ein kurz vorher erschienener Band widmet sich, wenngleich unter Ausblendung des europäischen Aspekts, einer weitgehend ähnlichen Fragestellung, wie der Autorenkreis beider Bände ausweist.1 Wer den Gang der Forschung halbwegs verfolgt hat, wird in dem von Halbrainer und Kuretsidis-Haider sorgfältig edierten Band wenig Neues finden. Nutzen aus ihm ziehen wird ein am Thema interessiertes, breites Leserpublikum. Diesem wird eine Möglichkeit an die Hand gegeben, in die Thematik unter den drei genannten Zugängen (österreichische Nachkriegsjustiz, europäische Dimension der Ahndung von NS-Verbrechen und aktuelle Bezüge zum Völkerstrafrecht) unkompliziert einzusteigen. Wegen der Knappheit der meisten Beiträge und der jeweils ausgebreiteten, weiterführenden Literatur wird der Band dieser Zielsetzung vollauf gerecht.

Anmerkungen:
1 Albrich, Thomas; Garscha, Winfried R.; Polaschek, Martin F. (Hrsg.), Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich, Innsbruck 2006.

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