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Titel
Hermann Dessau. Der fast vergessene Schüler Mommsens und die Großunternehmen der Berliner Akademie der Wissenschaften


Autor(en)
Wannack, Katja
Reihe
Schriften zur Ideen- und Wissenschaftsgeschichte 1
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 195 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eckhard Wirbelauer, Institut d'histoire romaine, Université Marc-Bloch, Strasbourg

Bei der hier zu besprechenden Studie zu Leben und Werk Hermann Dessaus (1856-1931) handelt es sich um die Magisterarbeit, die Katja Wannack im Sommersemester 2004 bei Klaus-Peter Johne (HU Berlin) angefertigt hat. In seinem Vorwort weist Johne darauf hin, dass Hermann Dessau zu den weniger bekannten Mommsen-Schülern gehört, trotz seiner Verdienste um die lateinische Epigraphik, die römische Prosopographie und die Historia-Augusta-Forschung.

Dessau hatte noch vor seiner Promotion am 10. Juni 1877 in Straßburg bei dem kurz darauf verstorbenen Gustav Wilmanns die Aufmerksamkeit Theodor Mommsens erregt, indem er ein längst bekanntes Inschriftenfragment (jetzt: CIL VI 1984) gegen die herrschende Meinung als Fragment der Fasten der sodales Augustales Claudiales deutete; Mommsen veranlasste nicht nur die Drucklegung dieser Darlegung in der Zeitschrift „Ephemeris Epigraphica“ (3, 1877, S. 74-76), sondern ließ auch den betreffenden, bereits gesetzten Bogen des CIL einstampfen, um der neuen Erkenntnis Rechnung zu tragen. Dessaus Karriere entwickelte sich zunächst mustergültig: 1877/78 Reisestipendiat des Kaiserlichen Archäologischen Instituts mit Aufenthalt in Rom, wo er sogleich mit der Bearbeitung der lateinischen Inschriften der Umgebung Roms begann; seit 1878 Arbeit an einer Preisaufgabe der Preußischen Akademie, die er tatsächlich im Sommer 1881 gewann; schließlich 1884 die Habilitation. Doch der Ruf auf einen Lehrstuhl für Alte Geschichte blieb aus, obgleich die Alte Geschichte damals ein im Ausbau befindliches Fach war und Dessau mit Mommsen den besten und einflussreichsten Fachwissenschaftler seiner Zeit als Lehrer anführen konnte. Für diesen Karriereknick dürfte – wie Wannack zeigt – Dessaus jüdische Herkunft verantwortlich sein, zumal er selbst, anders als manche Zeitgenossen, an seinem Judentum zeitlebens festhielt. Nachdem Dessau lange nur von seinen Hörergeldern als Berliner Privatdozent sowie von den Honoraren für Arbeiten an den Berliner Akademie-Projekten Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) und Prosopographia Imperii Romani (PIR) gelebt hatte, gelang es Mommsen schließlich im Jahr 1900, für seinen getreuen Schüler die Stelle eines Wissenschaftlichen Beamten an der Akademie einrichten zu lassen, die Dessau bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1921 bekleidete. Die Verleihung des Professorentitels an den Privatdozenten (1896) sowie die Ernennung zum außerordentlichen bzw. ordentlichen Honorarprofessor an der Universität Berlin (1912/1917) können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Dessau eine seinen Fähigkeiten entsprechende Universitätskarriere versagt blieb, auch wenn diese Fähigkeiten selbst nach dem Urteil des Lehrers eher auf diversen hilfswissenschaftlichen Gebieten ausgeprägt waren. Als Beispiel dafür, dass dies eine Berufung nicht behindern musste, darf Johannes Schmidt gelten 1, von dessen wissenschaftlicher Qualität sein Lehrer Mommsen offenbar nicht besonders überzeugt war (vgl. S. 136).

Entsprechend der vorhandenen Archivalien (ein persönlicher Nachlass fehlt, doch gelang es Wannack, noch Familienmitglieder ausfindig zu machen, die ihr einige Briefe zur Verfügung stellten) nimmt seine Tätigkeit für die beiden Großunternehmen der Berliner Akademie, also das lateinische Inschriften-Corpus (CIL) sowie die kaiserzeitliche Prosopographie (PIR), einen recht großen Raum bei Wannack ein (S. 17-62). Es folgen knappere Kapitel zu Dessaus Lehrtätigkeit an der Berliner Universität (S. 63-82 unter Einschluss der Inscriptiones Latinae Selectae), zu seiner Bedeutung für die Historia-Augusta-Forschung (S. 83-90) sowie zur übrigen Publikationstätigkeit (S. 91–99). Die letzten beiden Kapitel versuchen Dessau als jüdischen Wissenschaftler (S. 101-112) sowie im Kreis der Mommsen-Schüler (S. 113-140) einzuordnen. Ein konzises Resümee beschließt die Studie (S. 141-144), die durch den beigefügten Namenindex gut zu erschließen ist. Beigegeben sind fünf Anhänge (S. 145-177), unter denen die Edition einer „Auswahl wissenschaftshistorisch relevanter Briefe von Hermann Dessau mit Erläuterungen“ (Anhang II: S. 157-169) sowie die genealogische Übersicht zur Familie Dessau (S. 177) besonders hervorgehoben seien.

Wannack gelingt es in ihrer Arbeit dank umsichtiger Quellenrecherchen, auf die bislang wenig greifbare Person Dessaus doch etwas mehr Licht zu werfen und dabei nicht auf der Stufe eines Nekrologs zu verbleiben, sondern Person und Werk in kritischer Distanz zu würdigen. Schon deshalb ist es zu begrüßen, dass die Arbeit nunmehr publiziert wurde, selbst wenn der Autorin ein Lektorat zu wünschen gewesen wäre, das auf Glättungen und Beseitigung von augenfälligen Widersprüchen und Versehen geachtet hätte, zumal der Buchhandelspreis – 75 Euro für knapp 200 Seiten! – rekordverdächtig hoch bemessen ist.2 Zugleich zeigt die Arbeit von Wannack, wie viel auf diesem Gebiete noch zu forschen bleibt; denn so wichtig ihre Studie zu Dessau ist, so ergänzungsbedürftig erscheinen doch ihre Ausführungen zu den jüdischen Wissenschaftlern sowie zu den Mommsen-Schülern. Beide Themenfelder sind für sich genommen noch nicht so weit erschlossen, dass es im Rahmen einer Magisterarbeit möglich wäre, eine einzelne Person hinreichend einzuordnen. Im Falle der jüdischen Wissenschaftler liegen zweifelsohne bereits etliche Studien vor, doch steht eine personengeschichtlich orientierte Untersuchung auf breiter Basis noch aus. Diese hätte zu klären, inwieweit die persönlichen Lebensläufe durch antijüdische und antisemitische Haltungen behindert worden sind, welchen Stellenwert dieser Behinderung/Verhinderung zukommt und inwieweit diese Ereignisse, die immer sehr mit der betreffenden Person zusammenhängen, zu verallgemeinern sind.3 Ähnlich verhält es sich mit den Mommsen-Schülern. Schon die Frage, wie man den Begriff der Schule trennscharf definieren kann, lässt sich nicht so ohne weiteres entscheiden. Wenn jedoch schon unsicher bleibt, wer als Mommsen-Schüler zu betrachten ist, welche Bedeutung Selbstzurechnungen zukommt und wie stark die formalen Kriterien der Promotion und Habilitation durch Mommsen zu veranschlagen sind, dann erscheinen die weiteren Ausführungen Wannacks nicht hinreichend fundiert.4 Dies ist – nach meiner Überzeugung – nicht Wannack anzulasten, die zweifellos ihr Mögliches getan hat. Doch ist die Frage meines Erachtens zu komplex, als dass sie im Rahmen einer solchen Arbeit geklärt werden könnte.

So stellt die Arbeit von Wannack einen sehr willkommenen Baustein zur Disziplinengeschichte der Altertumswissenschaften dar, von dem künftige Forschungen gewiss profitieren werden, auch wenn die über Dessau hinausweisenden Einschätzungen sicher noch zu modifizieren sind.

Anmerkungen:
1 Johannes Schmidt (1850-1894), Prof. für Klassische Philologie in Gießen 1883 und in Königsberg 1892, Bearbeiter der nordafrikanischen Inschriften in Nachfolge von Wilmanns; der von Wannack (S. 136, Anm. 590) vermisste Nachruf findet sich als Vorbemerkung zum 1894 erschienenen 2. Supplement zu CIL VIII, worin Mommsen und Cagnat den wenige Monate zuvor verstorbenen Schmidt gemeinsam würdigen; zu Schmidt vgl. jetzt Scheid, John; Wirbelauer, Eckhard, La correspondance entre Georg Wissowa et Theodor Mommsen (1883-1901), in: Bonnet, Corinne; Krings, Véronique (Hrsg.), S’écrire et écrire sur l’Antiquité. L’apport des correspondances à l’histoire des travaux scientifiques. Actes du colloque international de Toulouse, 17–19 novembre 2005 (im Druck), bes. Anm. 117 sowie Briefe Nr. 32-34.
2 Einige Beispiele: S. 8: „Pensionierung im Jahre 1922 [ebenso: S. 67] […] wissenschaftlicher Beamter des CIL an der Akademie von 1900 bis 1921“ (vgl. zur Pensionierung zum 1. Oktober 1921 mit anschließendem Arbeitsvertrag S. 31); S. 31 mit Anm. 112: Dragendorffs Vorname lautet Hans, nicht Johannes, er wurde 1911 zum Generalsekretär des DAI gewählt; für weitere Informationen zur Person vgl. jetzt Wirbelauer, Eckhard, Alte Geschichte und Klassische Archäologie, in: ders. (Hrsg.), Die Freiburger Philosophische Fakultät 1920-1960. Mitglieder – Strukturen – Vernetzungen, Freiburg u.a. 2006, S. 131f. sowie Anhang S. 910; S. 78, Anm. 342: Das „Deutsche Archäologische Institut in Rom“ als „ausländische Institution“ zu bezeichnen, scheint mir wenig glücklich; S. 83, Anm. 361: Das Wiederauffinden des Mommsenbriefs vom 30. Dezember 1892 durch Hartwin Brandt, auf das Wannack im letzten Satz hinweist, macht eine Überarbeitung der gesamten Anmerkung zwingend erforderlich; S. 86: cui bono. Zu Gustav Wilmanns: Warum wird der S. 22, Anm. 69 genannte „dritte Nekrolog“, also die Würdigung von Wilmanns durch Mommsen in der Praefatio zu CIL VIII 1881, nicht in der Auflistung S. 192 genannt? Die Angaben zu Wilmanns in der Übersicht (S. 172) sind entsprechend S. 135 u. S. 154 zu korrigieren: 1872/77-1878; in derselben Übersicht ist für Straßburg zu verbessern: K. J. Neumann 1884/90-1917; R. Laqueur 1909/12-1912 (1909 als ao. Prof. nach Straßburg berufen, 1912 ebd. o. Prof., bevor er noch im selben Jahr nach Gießen wechselte).
3 Ein aufschlussreiches Fallbeispiel, das vergleichsweise gut dokumentiert ist, bietet der Geograph Alfred Philippson (1864-1953), Rabbinersohn aus Bonn, dessen im KZ Theresienstadt entstandene autobiographische Aufzeichnungen publiziert vorliegen: Philippson, Alfred, Wie ich zum Geographen wurde. Aufgezeichnet im Konzentrationslager Theresienstadt zwischen 1942 und 1945, hrsg. v. Hans Böhm u. Astrid Mehmel, Bonn 1996; 2. Aufl. 2000, vgl. demnächst auch Wirbelauer, Eckhard, Alfred Philippson und die Altertumswissenschaften, in: Colloquium Geographicum (Bonn).
4 Zwei Beispiele, die Altersgenossen von Dessau (1856-1931) betreffen: Ernst Fabricius (1857-1942) habilitierte sich 1886 in Berlin unter Beteiligung von Mommsen. Nach seiner Berufung auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Alte Geschichte in Freiburg (1888 als ao. Prof., seit 1894 o. Prof.) übernahm er auf Wunsch von Mommsen die Forschungen zum römisch-germanischen Limes, die zur Gründung der Reichslimeskommission (und somit zur Römisch-Germanischen Kommission) in Frankfurt am Main führte, vgl. jetzt Wirbelauer (wie Anm. 2), S. 111-238 sowie Anhang S. 915f.; zu antijüdischen Ressentiments bei Fabricius, die auf persönliche Erfahrungen zurückgehen, ebd. S. 148-153. Georg Wissowa (1859-1931), der Neubegründer der Realencylopädie (an deren Zustandekommen Mommsen weniger beteiligt war als Wannack, S. 61 mit Anm. 259, suggeriert; daher auch in der 4. Spalte der Tabelle Anhang I zu streichen!), beschreibt in einem Brief an Mommsen vom 27. September 1886 (Scheid/Wirbelauer, wie Anm. 1, Brief Nr. 12) sein Verhältnis zu diesem mit folgenden Worten: „denn wenn ich auch leider nie das Glück gehabt habe Ihr Schüler zu sein, so ist doch für die bescheidnen Arbeiten, mit denen ich mich in die wissenschaftliche Welt habe einführen können, kein Einfluss bedeutender und massgebender gewesen, als gerade der Ihrige […].“ In wissenschaftlicher Hinsicht wird man Wissowa dennoch der Schülergeneration zurechnen müssen, insbesondere wegen seiner Arbeiten zum römischen Festkalender. Was tun? Es bleibt wohl nur der Ausweg, verschiedene Formen der Wirkung Mommsens zu beschreiben und von dem wenig prägnanten Begriff des „Schülers“ Abstand zu nehmen. Jedenfalls bleiben das Tableau der Mommsen-Schüler (Anhang I) sowie die Übersicht zu ihrer Verteilung auf deutschsprachige Universitäten (Anhang III mit unklarem Titel und unklaren Kriterien) recht unbefriedigend. Zur Kritik an Anhang III: Warum sind nicht alle deutschsprachigen Universitäten aufgeführt, an denen zwischen 1871 und 1945 (statt: „ca. zwischen 1870 und 1930“) Lehrstühle für Alte Geschichte und Klassische Philologie bestanden? Bei Wannack fehlen u.a. die Universitäten Erlangen, Frankfurt (Gelzer ab 1919), Freiburg (Reitzenstein 1911-1914; dieser erscheint auch nicht bei Straßburg, wohin er aus Gießen 1893 wechselte und bis 1911 blieb), Halle, Kiel, Köln oder Rostock, ebenso alle schweizerischen und österreichischen Universitäten außer Wien, obgleich z.B. in Graz (Oertel 1922-1929) oder in Prag (Hirschfeld 1872-1876) Schüler bzw. Enkelschüler Mommsens wirkten.

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