S. Davies u.a. (Hrsg.): Stalin. A New History

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Titel
Stalin. A New History


Herausgeber
Davies, Sarah; Harris, James
Erschienen
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 29,76
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Oberender, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind aus einer Tagung hervorgegangen, die 2003 an der Universität von Durham stattfand. Im Mittelpunkt der Tagung standen zwei Fragekomplexe: Wie funktionierte Stalins Herrschaft, sowohl im inneren Kreis der Macht als auch im größeren Kontext der sowjetischen Gesellschaft? Welche Rolle spielten Ideen und die marxistische Ideologie im Gedankenhaushalt des Menschen und Politikers Stalin und welchen Stellenwert maß er ihnen für die Mobilisierung der Bevölkerung im Dienste des sozialistischen Aufbaus bei? Der vielversprechende Untertitel des Bandes weckt Hoffnungen auf eine innovative Erweiterung und Vertiefung des gegenwärtigen Kenntnisstandes in Bezug auf Stalins Persönlichkeit und Herrschaft. Die beiden Herausgeber benennen zwar in der Einleitung die beiden Leitmotive, um die die meisten Texte kreisen – Herrschaft und Ideen/Ideologie – , doch haben sie darauf verzichtet, die thematisch breit gefächerten Beiträge abschließend zusammenzufassen und zu reflektieren, so dass es letztlich dem Leser überlassen bleibt, sich aus den angebotenen Bausteinen ein kohärentes Stalinbild zusammenzusetzen.

Einige eher anspruchslose und leichtgewichtige Beiträge stehen neben solchen, die unter Verwendung von Archivmaterial Neuland betreten und das Stalinbild tatsächlich um neue Facetten erweitern. Oleg Chlevnjuk, der einzige russische Historiker unter den Autoren, fasst lediglich in knapper Form zusammen, was heute über die allmähliche Herausbildung und den Charakter von Stalins Alleinherrschaft bekannt ist, ohne aber die Herrschaftsweise des Diktators an konkreten Beispielen zu veranschaulichen. R.W. Davies, der Doyen der sowjetischen Wirtschaftsgeschichte, kommt nach einer Auswertung der Korrespondenz zwischen Stalin und Kaganowitsch zu dem Ergebnis, der Diktator habe in den 30er-Jahren zwar dem Getreideanbau große Aufmerksamkeit gewidmet, nicht jedoch der Viehzucht. Das ist ein achtbarer, aber keineswegs spektakulärer Befund.

J. Arch Gettys Beitrag enthält sowohl zutreffende als auch eher fragwürdige Überlegungen zum informellen Charakter des stalinistischen Herrschaftssystems, das überwiegend auf personalen Beziehungen fußte, weniger auf dem Besitz von Ämtern und Posten. So richtig es auch ist, Stalin und seine Mitstreiter als „institutionelle Nihilisten“ anzusehen, denen Dienstwege, formale Prozeduren und die Trennung von Politischem und Privatem wenig bedeuteten, schießt Getty doch weit über das Ziel hinaus, wenn er in Stalin nicht mehr sehen will als einen „starken Premierminister“, der die Exekutive in ähnlicher Weise dominiert habe wie Margaret Thatcher (!). Der Hinweis, auch die Arbeitsweise westlicher Regierungen sei nicht frei von informellen Elementen, ist sicher berechtigt, nur unterliegen sowohl der britische Premierminister als auch der amerikanische Präsident, die Getty als Vergleichsobjekte heranzieht, einer mehr oder minder wirksamen Kontrolle durch andere politische Institutionen und die Öffentlichkeit, was in Stalins Falle nicht gegeben war. Die oberflächliche Ähnlichkeit zwischen westlichen Kabinetten und dem Stalinschen Politbüro verflüchtigt sich, wenn der Blick von den Mechanismen der Entscheidungsfindung auf die von Stalin zur Durchsetzung von politischen Zielen bevorzugt angewandten Mittel umgelenkt wird, worauf Getty, der doch ein Kenner des stalinistischen Terrors ist, nonchalant verzichtet.

Problematisch ist auch der Versuch Erik van Rees, dem Marxisten Stalin näherzukommen. Die Frage, ob die Ideen und Auffassungen, die Stalins Weltsicht und sein politisches Handeln bestimmten, nur von den Klassikern des Marxismus oder nicht auch von historischen Umständen und kulturellen Prägungen beeinflusst wurden, stellt van Ree bedauerlicherweise nicht. Er sieht in Stalin einen Marxisten und Ideologen ohne Originalität. Gleichzeitig behauptet er, zwischen Marxismus und Stalinismus bestehe nicht jene tiefe Kluft, von der etliche ältere Autoren sprachen, die sich bemühten, den Stalinismus als Irrweg darzustellen, der mit dem ursprünglichen Marxismus nichts gemein habe. Zentrale Elemente von Stalins Ideologie – die Möglichkeit einer proletarischen Revolution in einer überwiegend bäuerlichen Gesellschaft, der Aufbau des Sozialismus in einem Lande, die Verschärfung des Klassenkampfes bei der Errichtung des Sozialismus, die Beibehaltung von Staat und Bürokratie, die Wertschätzung des Patriotismus – fänden sich bereits in den Werken von Marx, Engels, Kautsky, Lenin oder russischen Denkern wie Tschernyschewski und Belinski.

Das ist auf den ersten Blick nicht uninteressant, aber van Ree muss selbst eingestehen, wie schwierig es ist, den Nachweis zu erbringen, dass Stalin die entsprechenden Werke tatsächlich gekannt, gelesen und verwertet hat. Seine Skepsis teilt er mit Alfred J. Rieber, der im ersten Beitrag des Bandes Stalins quellenmäßig schwer zu erfassende Jugend im Kaukasus untersucht und betont, dass sich der intellektuelle Werdegang des späteren Diktators und seine Beschäftigung mit dem Marxismus wohl nie im Detail werden rekonstruieren lassen. Der Verdacht, Stalin sei als Marxist und überhaupt als politischer Denker kaum mehr gewesen als ein halbgebildeter Autodidakt, bleibt mithin bestehen. Bei van Rees Fazit, der westliche Marxismus habe bereits wesentliche Elemente des Stalinismus vorweggenommen, handelt es sich hoffentlich nur um eine unbedachte Formulierung und nicht um eine ernstgemeinte Feststellung.

Der Politiker Stalin, zunächst in seiner Eigenschaft als Volkskommissar für Nationalitätenfragen und dann als Generalsekretär, steht im Mittelpunkt der Kapitel von Jeremy Smith und James Harris. Smith gibt zu bedenken, dass Stalin zu Beginn der 20er-Jahre (erfolglos) für die Eingliederung der nichtrussischen Sowjetrepubliken in die RSFSR plädierte, weil sich damit sein Zuständigkeitsbereich und seine Machtfülle als Volkskommissar für Nationalitätenfragen schlagartig erweitert hätten. Harris hinterfragt eine weitverbreitete These über Stalins Aufstieg an die Parteispitze. Die von Stalin ernannten Provinzfunktionäre hätten den Generalsekretär während der Machtkämpfe nach Lenins Tod nicht allein aus persönlicher Loyalität unterstützt, sondern aufgrund einer Interessenkongruenz. Beide Seiten seien einander darin behilflich gewesen, die innerparteiliche Demokratie einzuschränken und ihre jeweiligen Konkurrenten im Zentrum und an der Peripherie ins Abseits zu drängen. In einem zweiten Beitrag von überblicksartigem Charakter benennt Rieber die Abwehr äußerer Bedrohungen und den Gewinn von Sicherheitszonen für die Sowjetunion als Hauptmotive der Stalinschen Außenpolitik vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine überraschende Erkenntnis ist das nicht.

Das Kapitel von William Chase über die Moskauer Schauprozesse wird im Proseminar sicher manch dankbaren Leser finden; es fasst übersichtlich zusammen, welche (fiktiven) Verbrechen den Angeklagten zur Last gelegt wurden, vermittelt aber kaum Informationen über Stalin als „Produzenten“ der Prozesse, wie es der Titel erwarten läßt. Ethan Pollock steuert den einzigen Beitrag bei, der ausschließlich der Nachkriegszeit gewidmet ist. Stalins reges Interesse an wissenschaftlichen Disziplinen, von denen er kaum etwas verstand, und seine selbstherrlichen Eingriffe in linguistische und ökonomische Debatten zielten nach Pollocks Ansicht darauf ab, den für die Legitimität und Glaubwürdigkeit des Systems nötigen Einklang von Ideologie und Wissenschaft zu erhalten und solche Lehren zu verwerfen, die sich mit dem Marxismus nicht in Übereinstimmung bringen ließen.

Am besten gelungen sind die Kapitel von Sarah Davies und David Brandenberger. Sie untersuchen quellennah Stalins Rolle als Förderer des sowjetischen Kinos und seine Mitwirkung an der Entstehung des Stalinkultes. Der Rückgriff auf Archivmaterial ermöglicht es beiden Autoren, Stalin gleichsam über die Schulter zu schauen und seine persönlichen Motive zu erhellen. Stalin, im Nebenberuf ein selbsternannter Filmkritiker und gelegentlicher Lektor von Drehbüchern, sah im Tonfilm ein wichtiges Instrument zur Beeinflussung und Mobilisierung der Bevölkerung, und daher setzte er sich engagiert für die Produktion von ideologisch „gehaltvollen“ und belehrenden Spielfilmen sowie für den Bau von Kinos ein. Brandenberger zeigt anschaulich, dass Stalin die massenhafte Verbreitung seiner von der Kulturbürokratie erarbeiteten Biographie deshalb guthieß, weil er der Meinung war, die abstrakte marxistisch-leninistische Ideologie sei zu anspruchsvoll für einfache Sowjetmenschen. Biographien, die Leben und Taten bekannter Revolutionäre in „heroischer“ Form darstellten, waren aus seiner Sicht eine leicht konsumierbare Einstiegslektüre für Studenten des Marxismus-Leninismus. Die mit dem Stalinkult vollzogene Personalisierung des politischen Systems diente Brandenberger zufolge dazu, die Gemeinschaft der Sowjetmenschen in Abwesenheit einer Zivilgesellschaft über das Bindeglied der Loyalität zum Führer zusammenzuschließen.

Hält der Sammelband, was der Untertitel verspricht? Weist er der Stalin- und Stalinismusforschung neue Wege? Beide Fragen lassen sich nur mit Einschränkung bejahen, weil die Qualität der Beiträge zu stark schwankt. Gettys Versuch, Stalins Herrschaft mit nicht-diktatorischen westlichen Regierungsformen zu vergleichen, und van Rees Ansatz, den Stalinismus lediglich als Ideologie und Gedankengebäude, nicht aber als Repertoire von kulturell grundierten Herrschaftspraktiken aufzufassen, führen in eine Sackgasse. Anerkennung verdient hingegen das Bemühen von Davies und Brandenberger, Stalin in personellen Verflechtungen und Kommunikationszusammenhängen zu zeigen, die über das inzwischen gut erforschte Politbüro hinausreichen. Dieses Feld der Stalinforschung verspricht auch in Zukunft interessante Ergebnisse.

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