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Titel
Cassiodors Variae. Literatur und Politik im ostgotischen Italien


Autor(en)
Kakridi, Christina
Reihe
Beiträge zur Altertumskunde 223
Erschienen
München u.a. 2005: K.G. Saur
Anzahl Seiten
419 S.
Preis
€ 94,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Krautschick, Berlin

Wahrscheinlich ziemt es sich für einen Rezensenten nicht, zu Beginn der Besprechung einer Dissertation zu bekritteln, dass sein Name darin nur ein einziges Mal richtig wiedergegeben wird (vgl. S. 398), zumal die Autorin einige der Ergebnisse der eigenen Arbeit erstmals aufgreift. Es sei jedoch hinzugefügt, dass sich Schreibfehler im zu besprechenden Buch im üblichen, wohl leider nie zu vermeidenden Rahmen bewegen, aber auffälligerweise überwiegend an Wortenden auftreten. Christina Kakridi hat nun, nach dem Studium in Thessaloniki und Göttingen, fünf Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Kassel und acht Jahren des Rückzugs ins Privatleben, im Jahr 2005 ihre Doktorarbeit vorgelegt. Zwar unter altphilologischer Obhut promoviert, verdankt Kakridi die Anregung zur Beschäftigung mit einem spätantiken Thema noch dem verstorbenen Althistoriker Jochen Bleicken. Diesem Anstoß und dem gewählten Untertitel entsprechend, finden sich in Kakridis Abhandlung zu Cassiodors Variae Kapitel über „ihr literarisches“ und über „ihr politisches Umfeld“.

Erstmals in dieser umfassenden Ausführlichkeit stellt Kakridi nach Analyse der topologischen Ausführungen (S. 16-21) in Cassiodors Praefatio die Einordnung der Variae unter die spätantike Herrscherurkunde (S. 22-33) und in die Sammeltätigkeit dieser Zeit (S. 128-142) sowie Cassiodors Ausgestaltung des Urkundenformulars (S. 34-98) dar. Beachtung verdient ihre Kennzeichnung seines Stils, dessen in der Praefatio angekündigte, dem Briefadressaten entsprechende Stilebenen einleuchtend an der Brieflänge aufgezeigt werden (S. 93ff.), sowie seines Manierismus (S. 110-127). Wichtig und richtig ist auch, welche Bedeutung Kakridi dem Aufbau der Sammlung und der Anordnung der Briefe (S. 99-109) sowie dem Zusammenhang von Herausgabe der Variae und Abfassung der Abhandlung De Anima (S. 143-156) beimisst. Zweifel weckt die kategorische Feststellung, die Beschreibung der politischen Ziele Cassiodors sei nicht möglich, „ohne die Tradition zu kennen, auf die er aufgrund der Art der Dokumente, die er verfasste, zurückgreifen musste“: Für die Ziele seiner Briefsammlung „muss man sich den literatur- und geistesgeschichtlichen Hintergrund ihrer Entstehung vergegenwärtigen“ (S. 11f.). Die wesentlichen Argumente zu den letzten beiden Aspekten hat man aber in anderem Zusammenhang schon gelesen oder geschrieben. Kakridis Ausführungen zur literarischen Bewertung von Cassiodors Werk sind überzeugend, etwa die gemeinsame Einreihung von Privatbriefen und Reskripten in das Genre von Briefsammlungen. So dürfte man künftig eigentlich keinen Gegensatz mehr zwischen seiner politischen und seiner kontemplativen Betätigung vor und nach seiner conversio konstruieren. Auch jeder Versuch, ihre historiographische und autobiographische Zielsetzung in Abrede zu stellen, wäre hinfällig.

Im Folgenden (S. 160-188) beschäftigen Kakridi häufig behandelte Felder von Außen- und Innenpolitik des Ostgotenreichs sowie die Kirchenpolitik (S. 204-233). Bekanntlich vermittelt Cassiodors Briefsammlung ein statisches Bild von Politik und Gesellschaft des ostgotischen Italien. Kakridi erkennt, dass Zusammenhänge politischer Ereignisse nur „schlaglichtartig“ deutlich werden, wenn der „Zufall“ der Parallelüberlieferung einsetzt (S. 159). Stärker ist mit Cassiodors politischer Beteiligung nach dem Boethius-Prozess in den letzten Jahren Theoderichs, unter dessen Nachfolgern und in seinem Amt als Prätorianerpräfekt zu rechnen. Doch klar wird das hier (S. 188-202) nicht. Zum Kern des Problems, die politischen Vorgänge anhand der Variae zu rekonstruieren, stößt Kakridi vor, indem sie versucht, das aristokratische Beziehungsgeflecht der Zeit zu beschreiben, Cassiodors Freundeskreis zu identifizieren und ihn mit dem der Anicier bzw. dem des Ennodius zu vergleichen (S. 234-289). Doch leidet insbesondere dieser historische Teil der Arbeit unter einem unglücklichen Missgriff: Kakridi diskutiert, obwohl sie der ihren widersprechende Auffassungen kennt (S. 8ff.), die Urheberschaft der politisch-ideologischen Inhalte der Variae nicht und bezeichnet sie durchgängig als „Cassiodors Urkunden“.

Diese Tendenz zeigt sich an der Beurteilung der gerade für die Einschätzung von Cassiodors politischer Wirksamkeit entscheidenden Ereignisse in den kritischen Jahren zwischen 526 und 536. Weniger erheblich ist, dass hierzu Kakridi einschlägige Literatur 1 überhaupt nicht und Ernst Stein jedenfalls hier nicht heranzieht. Problematisch ist dagegen, dass Kakridi die Darstellung Prokops zu dieser Zeit (BG 1,2-4), dem Schlüssel zum Verständnis der Variae, hinsichtlich der Parteibildungen, die Prokop „auf wirtschaftliche Interessenkonflikte zwischen Goten und Römern“ zurückführt, als „überaus parteiisch und im Detail nicht richtig“ betrachtet (S. 190). Prokops „Blick auf die Ereignisse“ sei „kein historischer“ gewesen, was Kakridi veranlasst, „an der Zuverlässigkeit seiner Informationen zu zweifeln“ (S. 194). Die Auseinandersetzung um den Kurs nach Theoderichs Tod wird zu einem „Generationenkonflikt“ (S. 240ff.), die unterschiedlichen Fraktionen, an deren Rekonstruktion Historiker von Sundwall bis Schäfer, Moorhead und Amory gearbeitet haben, verlieren sich in „Cassiodors Freundeskreis“, zu dem sie in weitestem Sinn alle zählt, die in den Schreiben lobend erwähnt werden; Cassiodor hätte sie sonst nicht in seine Dokumentensammlung aufgenommen (S. 239).

Kakridi lässt noch zwei Kapitel folgen: Zum einen arbeitet sie sorgsam Cassiodors aristokratisches Standesideal heraus (S. 348-373). Zum anderen bestimmt sie die wenigen Beiträge der Variae zum gotischen Selbstverständnis (S. 292-347), in denen „eine große Übereinstimmung mit den leitenden Argumentationslinien von Jordanes’ Getica“ (S. 311) zu entdecken ist, und greift die Grundsätze des Zusammenlebens von Goten und Römern auf. In den Variae sieht sie nach einem Aufsatz von Andrea Giardina (1992) 2 eine „zeitlose“ [...] „gesellschaftliche Utopie“ (S. 292), widerspricht damit jedoch ihren vorherigen Ergebnissen. So stellt sie am Anfang (S. 2) an Cassiodor „eine lobenswerte Mäßigung und Versöhnungsbereitschaft“ fest, dessen „geisteshistorischer Beitrag“ am Ende (S. 375f.) „die pragmatische Einsicht“ – sie „hat nicht an Aktualität verloren“ – ausmacht, „dass das Zusammenleben der Völker in einem gemeinsamen politischen Körper erst dann möglich wird, wenn man sich den selben Idealen zugetan fühlt“. Und „wann konnte man das besser beurteilen als heute, wo man gerade die radikale Veränderung eines politischen Gleichgewichts und liebgewonnener Gewissheiten erlebt hat?“ (S. 2). Dies zeige auch das „moderne Interesse an den Problemen der kulturellen Integration und des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Nationen in einer politischen Gemeinschaft“, das sich etwa in drei neueren Artikeln manifestiere, „die die ostgotische Geschichte unter dem Gesichtspunkt von Akkulturation und Integration beschreiben“ (S. 11). Es bleibt abzuwarten, wie die nächste Historikergeneration urteilt.

Gewiss unterläuft Kakridi doch so mancher Lapsus: „Amalasuntha […] heiratete […] Theodahad“ (S. 241) eben nicht (S. 192-196 u. 243). „Der Aufenthalt der Goten in Italien […] endete 522 [sic!] auf dem Mons Lactarius. Danach verschwanden die Goten aus Italien genauso plötzlich, wie sie gekommen waren“ (S. 158) – hier hilft Ludwig Schmidt weiter.3 „Der Krieg endete nach dem Tod auch des letzten gotischen Führers Teia“ (S. 202) – dies liest sich bei Agathias anders. Aber insgesamt bietet Kakridi eine in sehr vielen Einzelheiten stimmige und gründliche Arbeit, die das gesamte Umfeld der Variae erschließt und trotz oder gerade wegen Kakridis Tendenz, allzu häufig gut begründete Interpretationen, seien sie von Sundwall, Momigliano, Fridh oder Wolfram, in Frage zu stellen, ohne ihnen mehr als eine denkbare andere Sichtweise oder ein Minimum an Erkenntnismöglichkeit (so etwa S. 243) entgegen zu setzen, dazu zwingt, alles noch einmal zu überdenken. Schmerzlich vermisst man allerdings einen Index der zitierten Varienstellen oder zumindest einen Namensindex, der diese Arbeit erheblich erleichtern würde.

Anmerkungen:
1 Kohl, Horst, Zehn Jahre ostgotischer Geschichte vom Tode Theoderichs des Großen bis zur Erhebung des Vitigis (526-536), Diss. Leipzig 1877; Leuthold, Heinrich, Untersuchungen zur ostgotischen Geschichte der Jahre 535-537, Diss. Jena 1908; Rubin, Berthold, Das Zeitalter Justinians, Bd. 2, Berlin 1995, S. 73-101.
2 Dessen gleichnamiges neueres Buch (Cassiodoro politico, Roma 2006) war ihr naturgemäß unbekannt.
3 Die letzten Ostgoten (= Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. 1943, 10), Berlin 1943.

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