H.-Chr. Petersen: Bevölkerungsökonomie - Ostforschung - Politik

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Titel
Bevölkerungsökonomie - Ostforschung - Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)


Autor(en)
Petersen, Hans-Christian
Reihe
Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 17
Erschienen
Osnabrück 2006: fibre Verlag
Anzahl Seiten
405 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Corinna Unger, Deutsches Historisches Institut Washington, DC

Nach zahlreichen Studien über die so genannte Ostforschung im Nationalsozialismus und die vermeintliche Vordenker-Rolle einiger ihrer Mitglieder erscheinen inzwischen vermehrt Arbeiten, die sich um eine diachrone Perspektive auf den Forschungsansatz und dessen Protagonisten bemühen. Biographische Studien bieten sich hier unübersehbar an. Hans-Christian Petersens Studie über Peter-Heinz Seraphim, die aus einer Mainzer Dissertation entstanden ist, gehört zu dieser Gruppe. Sie stützt sich auf eine umfassende Quellenbasis, die Seraphims Publikationen, seine unveröffentlichte Autobiographie sowie die Bestände einer Vielzahl von Archiven umfasst. Gegliedert ist das flüssig geschriebene Buch in vier chronologische Kapitel, die durch einen Epilog, einen biographischen Anhang sowie ein Personen- und Ortsnamenregister ergänzt werden.

Wissend um die methodischen Probleme des Genres Biographie, setzt sich Petersen zum Ziel, an Seraphim „exemplarisch Erkenntnisse aufzuzeigen, die potentiell über den Einzelfall hinaus von Relevanz sind“ (S. 24). Er will „Kontexte, Handlungsoptionen und daraus folgende Verantwortlichkeiten“ (S. 25) von Seraphims Handeln integrieren, sich so „von einer Ideengeschichte alter Prägung“ (S. 29) lösen und dabei explizit nicht auf Bewertungen verzichten. Hier erwähnt Petersen die Arbeiten von Susanne Heim und Götz Aly, die – trotz einiger Vorbehalte – seine Sicht „nachhaltig geprägt“ hätten (S. 25). Methodisch stützt er sich auf Pierre Bourdieus Idee des kulturellen und sozialen Kapitals sowie auf Mitchell Ashs wissenschaftsgeschichtliches Ressourcen-Konzept. Beide Ansätze betonen die Relevanz materieller wie immaterieller Ressourcen als Bedingungen sozialen Handelns – hier verstanden als die individuelle Positionierung im wissenschaftlichen Feld.

Anschaulich beschreibt Petersen den Lebensweg des Wissenschaftlers: Seraphim wurde 1902 in Riga in eine bürgerliche, deutschbaltische Familie geboren. Der Vater, Ernst Seraphim, ein politisch engagierter Journalist, lenkte die Erziehung seiner Söhne im deutschnationalen, antimodernen Sinne und vermittelte ihnen eine deutschtumszentrierte Sicht auf Ostmittel- und Osteuropa. In ihm erkennt Petersen eine für den Sohn zeitlebens prägende Gestalt. Dieser nahm gegen Ende des Ersten Weltkriegs freiwillig am Kampf der Baltischen Landwehr gegen die Bolschewiki teil und studierte anschließend Volkswirtschaft in Königsberg, Graz und Breslau, wo er im völkisch-nationalen Studentenleben aktiv war. Im Anschluss an seine Promotion 1924 arbeitete er an verschiedenen Ost-Instituten und machte sich als Polen-Kenner einen Namen. Nach einer kurzen Tätigkeit als Journalist entschied er sich für die wissenschaftliche Laufbahn. Diese verlief mit seiner Berufung nach Greifswald 1940 erfolgreich – keine Selbstverständlichkeit für ein Mitglied der „überflüssigen Generation“, wie Petersen betont, und noch weniger für jemanden, der (fälschlicherweise) verdächtigt wurde, jüdischer Abstammung zu sein. Aus dieser Perspektive mag Seraphims Eintritt in die NSDAP und die SA sowie in andere NS-Organisationen seit 1933 als Konzession erscheinen, doch Petersen versteht diesen Schritt auch als Hinweis auf Seraphims ideologische Nähe zum Nationalsozialismus. Dafür spricht, dass er sich intensiv in der ostpolitischen Schulungsarbeit engagierte und sein Denken und seine Sprache zunehmend radikalisierte.

Mitte der dreißiger Jahre begann er mit Recherchen über das osteuropäische Judentum und galt bald als Experte; sein Buch „Das Judentum im osteuropäischen Raum“ (1938) wurde zum Standardwerk. Petersen zeigt, wie Seraphim die Studien jüdischer Wissenschaftler als Materialhalde verwendete, ihre Kenntnisse also „arisierte“, den Studien selbst jedoch die wissenschaftliche Qualität absprach. Er stigmatisierte die Juden als „Fremde“ und widmete gesellschaftliche Prozesse in quantitative, demographische Phänomene um, so dass die betroffene Bevölkerung „zur potentiellen ‚Verschiebemasse’“ wurde (S. 127). Daraus ergab sich scheinbar die Möglichkeit, die „Juden- als Massenfrage“ zu lösen. Seraphim beteiligte sich daran, indem er nach dem deutschen Überfall auf Polen für die forcierte Aussiedlung der jüdischen Bevölkerung plädierte. Zwar habe Seraphim den „industriellen Genozid“ nicht vorausgedacht, bilanziert Petersen, aber „zu einem sich radikalisierenden Prozess“ beigetragen, „der schließlich in der Shoah endete“ (S. 351f).

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion reiste Seraphim für die Wirtschaftsinspektion des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes durch die Ukraine, beteiligte sich am Raub jüdischer Kulturgüter und erfuhr von der Massenerschießung von Juden. Diese kritisierte er vor allem deshalb scharf, weil er wirtschaftliche Einbrüche und damit eine Verschlechterung der Versorgungslage der deutschen Armee und Bevölkerung befürchtete. Ob seine Kritik politische Konsequenzen hatte, bleibt unklar; in jedem Fall half sie ihm nach dem Krieg, belastende Vorwürfe mit dem Hinweis auf seine „aufrechte Gesinnung“ zu kontern.

In amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten, kam Seraphim als Ostexperte in die USA, bemühte sich dort, den amerikanisch-sowjetischen Antagonismus anzufeuern und knüpfte Kontakte zu US-Geheimdiensten, die ihm nach seiner Rückkehr nach Westdeutschland im Sommer 1946 zugute kamen: Von Bayern aus wurde er für die Organisation Gehlen und für das Deutsche Büro für Friedensfragen tätig, wobei er sich nun – zeitgemäß – auch mit der UdSSR beschäftigte. Seinen Antisemitismus verwandelte er in einen ausgeprägten Antikommunismus. Dieser erfolgreichen Adaption an das neue System zum Trotz gelang Seraphim die Rückkehr in die Wissenschaft nicht. Zwar publizierte er zur politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in Ostmittel- und Osteuropa sowie zur Flüchtlingsproblematik in der DDR, erhielt aber keinen Lehrstuhl und wurde auch innerhalb der außeruniversitären Ostforschung zunehmend isoliert. Dies lag vor allem daran, dass er seinen Kollegen aufgrund seiner Vergangenheit als Reputationsrisiko galt. 1954 übernahm Seraphim schließlich die Leitung der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie in Bochum, was das Ende seiner auf den Osten ausgerichteten wissenschaftlichen Tätigkeit bedeutete. Zugleich entging er auf diese Weise größerer Aufmerksamkeit an seiner belasteten Vergangenheit; publizistische Angriffe aus der DDR überstand er unbeschadet. An seinen Überzeugungen hielt er bis zu seinem Tod 1979 fest, Selbstkritik, schreibt Petersen, sei ihm bis zuletzt fremd gewesen.

Die Studie verdeutlicht das hohe Maß an Kontinuität, das Seraphims „Leben und Wirken“ bestimmte. Charakteristisch war die deutschtumszentrierte Perspektive, der Seraphim dauerhaft treu blieb, sowie sein früh verinnerlichtes Wissenschaftsverständnis: Die Überzeugung, als Wissenschaftler „lebensnah“ arbeiten und der Politik konkrete Handlungsanweisungen vermitteln zu müssen, ist eines der prägnantesten Elemente seiner Biographie – und zugleich ein für seine Generation von Ostforschern typisches Merkmal. Dies gilt auch für die von Petersen betonte Kontinuität im Methodischen: Vor wie nach 1945 standen die politisch motivierten Ergebnisse zu Beginn der Forschung fest, wurden dann mit empirischem Material unterlegt und „sachlich“ dargestellt, so dass sie vielen als „objektiv“ erschienen. Die Umschlaggestaltung von Petersens Buch spiegelt diese durchgängige Vorliebe für vermeintlich neutrale Statistiken: Neben einer Karte zum „Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Stadtbevölkerung“ von 1931 steht hier eine konzeptionell und graphisch bemerkenswert ähnliche Karte zum „Anteil der Heimatvertriebenen an der Gesamtbevölkerung“ in der SBZ von 1946.

Gerade weil die Parallelität so auffällig ist, hätte es nahegelegen, den methodischen Kontinuitäten und den dazu erforderlichen Transformationen detaillierter nachzugehen. Petersens wiederholter Hinweis auf Seraphims Praxis, die wirtschaftliche Entwicklung in Ostmittel- und Osteuropa vor und nach 1945 zu kontrastieren, bietet einen Ansatzpunkt für eine solche Analyse. Sie ließe sich vertiefen, wenn Seraphims Forschung in die allgemeine Fach- und Methodenentwicklung eingebettet würde. Besonders hinsichtlich der Bevölkerungsökonomie, eine der Paradedisziplinen der Ostforschung, wäre eine solche Kontextualisierung nützlich, um nachvollziehbar zu machen, inwiefern Seraphim mit seinen Studien dem Mainstream folgte, sich bewusst von anderen Ansätzen absetzte oder Neuland betrat. Dadurch, dass Petersen auf den Wettkampf um Ressourcen innerhalb der „Zunft“ fokussiert, drängt er Hinweise auf den in der Nachkriegszeit einsetzenden konzeptionellen Wandel innerhalb des Faches in den Hintergrund, die sich nicht allein als Ausdruck des Ressourcenwettkampfs verstehen lassen. Aus der biographischen Perspektive auf einen offenbar gegen jede Selbstreflexion gefeiten Ostforscher macht das Sinn, mit Blick auf die Gesamtdisziplin wirkt es verkürzend.

Dennoch schließt Petersens ausgewogenes Buch nicht nur eine Forschungslücke über einen immer wieder genannten, aber wenig gekannten Namen. Es ist auch ein wichtiger Baustein in der Historiographie zur Ostforschung, deren vielschichtige institutionelle und personelle Strukturen Petersen skizziert, aber auch zur „Judenforschung“, zur Wissenschaftsgeschichte sowie zur Biographie-Forschung. Nicht zuletzt trägt das Buch dazu bei, die ehemals hitzige Diskussionen über die vermeintlichen „Vordenker der Vernichtung“ zu versachlichen, ohne darüber steril zu werden.

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