Cover
Titel
Leninbilder. Lenin in der westdeutschen Geschichtswissenschaft in den 1960er bis 1980er Jahren


Autor(en)
Neumann, Susanne
Reihe
Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa, Bd. 15
Erschienen
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Bois, Fachbereich Geschichte, Universität Hamburg

„Good-bye, Lenin!“ – gleich zu Beginn ihrer kürzlich veröffentlichten Abschlussarbeit konstatiert Susanne Neumann, dass der Titel des großen Kinoerfolgs auch Programm für die deutsche Russlandhistoriographie sei. In der Tat ist es in der Geschichtswissenschaft still geworden um Lenin. Trotz Öffnung der Archive ist in den vergangenen 15 Jahren nicht eine Biographie des russischen Revolutionärs aus der Feder deutschsprachiger Historiker erschienen. Auch die Zahl der Neuerscheinungen zur Geschichte der Russischen Revolution ist überschaubar. Im Prinzip konzentriert sich die Sowjetunionforschung seit der Wende auf Stalin und den Stalinismus.

Dies war nicht immer so. Im Jahr 1970 etwa schrieb Hermann Weber, dass „die Literatur über Lenin und den Leninismus schier unübersehbare Ausmaße angenommen“ 1 habe. Im Zuge der so genannten „68er-Bewegung“ war Lenin in aller Munde. So sind in den 1960er bis 80er-Jahren mehrere hundert Werke publiziert worden, die sich in irgendeiner Form mit Leben und Werk des marxistischen Theoretikers und sowjetischen Politikers auseinandergesetzt haben. Genau auf diese Phase der Russlandhistoriographie blickt Neumann mit ihrer Arbeit zurück. Sie stellt nicht nur das Spektrum der unterschiedlichen Ansätze der zeitgenössischen Geschichtsschreibung über Lenin und die Russische Revolution dar, sondern untersucht vor allem, inwiefern das gesellschaftliche Klima das Leninbild der bundesdeutschen Historiker determinierte. Auf diese Weise möchte sie „einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Geschichtswissenschaft liefern, denn auch die Historiker ‘müssen sich eine Historisierung gefallen lassen’“ (S. 14).

Im Mittelpunkt von Neumanns Untersuchung steht exemplarisch der Einfluss der Studentenrevolte auf vier westdeutsche Historiker und ihr Schaffen. Mit Dietrich Geyer, Richard Lorenz, Peter Scheibert und Ernst Nolte fiel die Wahl nicht nur auf vier etablierte Vertreter ihrer Zunft, sondern auch auf vier Wissenschaftler, die deutlich unterschiedliche politische Standpunkte und Wissenschaftsrichtungen vertreten. So stehen zwei damals jüngere, sozialgeschichtlich orientierte und mit den Studentenprotesten sympathisierende Historiker (Lorenz, Geyer) zwei älteren, konservativeren Kollegen gegenüber, die die Proteste vehement ablehnten (Scheibert, Nolte). Vertraten die beiden Erstgenannten eine eher strukturorientierte Geschichtsschreibung, so ist Scheibert der Alltags- oder Erfahrungsgeschichte zuzuordnen, während Nolte sich selbst als Geschichtsphilosoph versteht. Drei der untersuchten Wissenschaftler sind Osteuropa-Historiker, lediglich Nolte als Zeithistoriker fällt aus dem Rahmen. Dass die Wahl auf ihn fiel, begründet Neumann mit der Tatsache, dass sich die Osteuropa-Historiker im Historikerstreit „auffällig zurückhielten“ (S. 22). Nolte, der die Kontroverse 1986 ins Rollen gebracht hatte, sei geeignet, da er sich dezidiert zu Lenin geäußert habe.

Als Quellenbasis für ihre Untersuchung dienen Neumann zum einen die jeweils für die Lenin-Historiographie zentralen Werke der einzelnen Wissenschaftler. So untersucht sie Geyers Die russische Revolution (1968), Lorenz’ Sozialgeschichte der Sowjetunion (1976), Scheiberts Lenin an der Macht (1984) und Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 (1987) von Nolte. Zum anderen stützt sich Neumann in ihrer Analyse auf Interviews, die sie Anfang 2005 mit Geyer, Lorenz, Nolte sowie Inge Auerbach – einer Schülerin des bereits verstorbenen Scheibert – geführt hat. Die Mitschriften dieser Gespräche, die knapp ein Viertel des Textvolumens ausmachen, sind durchaus spannend zu lesen.

Eingebettet ist die Beschäftigung mit den vier Historikern in eine Geschichte ihres Fachs. So liefert Neumann im ersten Teil ihrer Arbeit einen sehr gelungenen Überblick über die Entwicklung der westdeutschen Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und der osteuropäischen Geschichte im Speziellen. Diese beiden Disziplinen stellt sie wiederum in den Kontext gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen und erläutert, dass sich insbesondere „in den 1960er Jahren […] die Geschichtswissenschaft analog zum gesellschaftlichen und politischen Klimawandel fundamental [veränderte]. Die Aufbruchstimmung und die enorme institutionelle Ausweitung des Faches ab den 1960er Jahren ebneten neuen Ansätzen der Geschichtsschreibung den Weg. Hier lässt sich eine ‘Linkswendung’ beobachten, der seit Ende der 1970er Jahre eine Wendung nach rechts gegenübersteht, die ihren Höhepunkt in der konservativen, zum Teil nationalapologetischen Vergangenheitsdeutung im Historikerstreit 1986 fand.“ (S. 71)

Folgerichtig, wenn auch wenig überraschend, kommt Neumann dann zu dem Ergebnis, dass auch „die Leninhistoriographie in weiten Teilen von den herrschenden Trends in der Wissenschaftsgeschichte beeinflusst wurde, die wiederum eng mit den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenhingen“ (S. 143). Dietrich Geyer etwa, dessen Russische Revolution auf einer Vorlesungsreihe aus dem Jahr 1967 basierte, schien sich in seinen Fragestellungen auf die Themen der aufkeimenden Studentenbewegung zu beziehen – so zum Beispiel wenn er Lenins Konzept einer globalen Revolution untersuchte, während sich die Studenten mit Befreiungsbewegungen in der so genannten „Dritten Welt“ identifizierten. Dies bestätigte er rückblickend selber: „Es war das Zeitklima, das einen dazu anregte. […] Die jungen Leute hatten Interesse daran, also beschäftigte man sich damit“ (S. 96). Er begrüßte die Neuorientierung der Forschung, „die sich ‘nüchterner als bisher, kritischer gegenüber der Versuchung, die Probleme zu ideologisieren, statt sie aufzudecken’ mit der Revolution und ihren Ursachen beschäftigte“ (S. 98f.).

Ähnliches gilt für Richard Lorenz, der „zu der Gruppe von Historikern [gehörte], die sich gegen die Verurteilung der Sowjetunion im Kalten Krieg wandten und eine neue, wertfreiere Form der Anschauung entwickeln wollten“ (S. 107). In seiner Arbeit spiegelt sich der Zeitgeist beispielsweise durch den deutlichen struktur- und wirtschaftsgeschichtlichen Ansatz und das marxistisch beeinflusste Vokabular wider.

Im deutlichen Gegensatz zur strukturorientierten Geschichtsschreibung stand hingegen Peter Scheiberts Lenin an der Macht: „Es ging Scheibert darum, das Leiden des Volkes, der ‘kleinen Leute‘ unter Lenin darzustellen. Er betrachtete keine Strukturen, sondern das Schicksal und die Erfahrungen der Menschen nach der Oktoberrevolution“ (S. 118). Sein Buch sei aber nicht nur als eine Kritik an der Herangehensweise der sozialwissenschaftlich orientierten Historiker zu verstehen, sondern zudem stark durch die eigene Biographie geprägt. Hier spiegelten sich die Anfeindungen durch die Studierenden aufgrund Scheiberts NSDAP-Mitgliedschaft. Dies bestätigt auch Inge Auerbach, wenn sie daran erinnert, dass Scheibert das Buch bereits Anfang der 1970er-Jahre als Versuch der „inneren Bewältigung der dortigen kommunistischen Offensive“ konzipiert hätte.

Auch Ernst Nolte, der sich im Lauf seines Lebens politisch deutlich nach rechts entwickelte, wurde durch die Studentenbewegung geprägt. Neumann meint, Noltes Radikalisierung sei „nur mit seiner Traumatisierung durch die Auseinandersetzungen an der Freien Universität Berlin in den 1970er-Jahren zu erklären, wo ihn eine militante, gewaltbereite Linke als einen ihrer schärfsten Widersacher heftig angegangen habe.“ (S. 134)

Susanne Neumann zeigt nicht nur, wie sich das politische Klima in der Bundesrepublik auf den Umgang der Historiker mit Lenin auswirkte. Sie liefert zugleich einen sehr gelungenen Abriss über die Geschichte der westdeutschen Geschichtsschreibung. Jedoch steckt in dem Buch weniger Lenin, als es der Titel vermuten lässt. Neumann beschränkt sich darauf, nur die zentralen Aussagen der vier Historiker über den russischen Revolutionär wiederzugeben. Nicht immer entsteht dabei ein wirklich umfassendes Leninbild. Außerdem ist die Autorin gelegentlich ungenau in ihrer Begrifflichkeit. So ist nicht immer klar, ob sie gerade von den von Lenin entwickelten Theorien spricht oder ob sie deren dogmatische Verfälschung in der so genannten „marxistisch-leninistischen“ Theorie meint. Diese kleineren Mängel können allerdings den insgesamt sehr guten Eindruck nicht schmälern.

Zu kritisieren ist allerdings die Preispolitik des Verlages. Für ein 220 Seiten dünnes Paperback-Buch fast fünfzig Euro zu verlangen, ist nicht nachvollziehbar. Es bleibt zu hoffen, dass dieses gelungene Werk trotzdem viele Leser findet.

Anmerkungen:
1 Weber, Hermann, Lenin mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 8.

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