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Titel
Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens


Autor(en)
Sdzuj, Reimund
Erschienen
Tübingen 2005: Max Niemeyer Verlag
Anzahl Seiten
IX, 362 S.
Preis
€ 118,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anja Moritz, SFB/KFK 435 Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Goethe-Universität Frankfurt a.M.

Bereits vor zwei Jahren erschien die Habilitationsschrift des germanistischen Philologen und Philosophen Reimund Bernhard Sdzuj in der Frühneuzeitreihe zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte. Bisher jedoch scheint die Studie weder von Historikern noch von Theologen wahrgenommen worden zu sein. Zu Unrecht, meines Erachtens, denn vorliegende Studie ist ein gelungenes Beispiel dafür, dass ein interdisziplinärer Ansatz innerhalb der frühneuzeitlichen Geistesgeschichte durchaus realisierbar und lohnenswert ist.

Sdzuj untersucht in seiner Studie die „Genealogie des ästhetischen Begriffs der Kunst“ und damit die Ausdifferenzierung eines autonomen Diskurses, der nach eigenen Regeln den Begriff der Kunst und ihrer Ausprägungen determiniert. Oder als Frage formuliert: „… woher stammen wesentliche Bestimmungsmomente, die spätestens seit dem ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert den Kunstbegriff in einer uns vertrauten Weise zu dominieren beginnen?“ (S. 20) Es mag nicht überraschend sein, dass Sdzuj den Ursprung dieser Entwicklung in der Reformation verortet. Es überrascht jedoch schon, auf welche Weise er dies tut. Seine Hypothese ist, dass die Ausdifferenzierung des Kunstdiskurses möglich wurde durch die „Ansiedlung des Künstlerischen im Bereich des Adiaphorischen“ (S. 4). Die Bestimmung künstlerischer Handlungen als sittlich neutral, als weder ge- noch verboten, ließ also eine Autonomisierung des Diskurses über Kunst erst zu, ließ generell Wahl (Kontingenz) und Veränderung in diesem Bereich zu. Mit dieser These erteilt Sdzuj nicht nur jener Auffassung eine Absage, die einen Zusammenhang postuliert zwischen der Säkularisierung und der Entwicklung der Eigengesetzlichkeit von Kunst, sondern vor allem auch der Annahme, die Kunst habe nur in der Opposition zum religiösen Dogma zur Autonomie finden können. Das Gegenteil ist, so Sdzju, der Fall: Nicht gegen, sondern gerade durch die Theologie vermochte sich der Kunstdiskurs zu entwickeln. Das Adiaphorakonzept, in dem die Kunst ihre Heimat fand, war genuin theologischer Herkunft. Und eben dies meint die vom Autor formulierte Aufgabe: „[…] am uns Vertrauten, Selbstverständlichen, das Unwahrscheinliche seiner Entstehung wiederzuentdecken.“ (S. 21)

Die kunst- und kulturwissenschaftliche wie kirchengeschichtliche Forschung hat sich in letzter Zeit verstärkt dem Verhältnis der reformatorischen Theologie zum Bild gewidmet und dabei die Frage der Adiaphora entweder nicht oder nur am Rande gestellt. Im Rahmen der Erforschung der Auseinandersetzungen um das Augsburger Interim und die Leipziger Landtagsvorlage in der Mitte des 16. Jahrhunderts allerdings erfährt der sogenannte erste adiaphoristische Streit verstärkt Aufmerksamkeit seitens der Theologen wie der Historiker. Auch der sogenannte zweite adiaphoristische Streit am Ende des 17. Jahrhunderts wurde bereits durch die Pietismusforschung thematisiert. Wenn also die Feststellung Sdzujs in Anlehnung an zeitgenössische Autoren, die gesamte Kirchengeschichte des Christentums sei von adiaphoristischen Auseinandersetzungen durchzogen, in Hinblick auf die Unterteilung in erster und zweiter adiaphoristischer Streit diskussionwürdig ist, muss jedoch sein Vorwurf, die Theologen hätten die Adiaphoraproblematik „eintrocknen“ lassen, inzwischen deutlich relativiert werden (S. 34).

Die sich aus der Fragestellung ergebene interdispziplinäre Herangehensweise verbietet die Beschränkung auf einen speziellen Textkorpus, wenn auch die theologischen Abhandlungen und Streitschriften deutlich überwiegen. Dies liegt zum einen an der theologischen Provenienz des Adiaphorakonzeptes und zum anderen an der gerade im 16. Jahrhundert vorherrschenden Verschränkung des Adiaphoradiskurses mit den kirchlichen Zeremonien. Nach einem Überblick über die antike und mittelalterliche Auffassung der Adiaphora, insbesondere bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus (Kap. II), widmet sich Sdzuj dem 16. Jahrhundert. Martin Luther hatte das insbesondere durch die Stoa geprägte Konzept des Adiaphoron auf den Kopf gestellt: Nicht mehr die äußeren Dinge, die im steten Fluss des Werdens und Vergehens dem Einfluss des Menschen entzogen waren, galten nun als Adiaphora, sondern eben gerade jene, die dem Einfluss des Menschen unterlagen. Luthers Interpretation der Doppelnatur des Menschen als liber et servus und seine radikale Anwendung des Schriftprinzips ließ nur einen kleinen Raum für das Indifferente, den der Mensch nach eigenen Maßstäben konzipieren konnte.

Die Kontroversen um das Augsburger Interim 1548-1552 schildert Sdzuj im zweiten Teil seines zweiten Kapitels. Der auf dem Reichstag allein für die Protestanten beschlossene religiöse Vergleich sah mit Ausnahme des Laienkelches und der Priesterehe eine Wiedereinführung altgläubiger Zeremonien in den protestantischen Territorien vor. Diese Regelung motivierte auf Seiten der Protestanten (wie zuvor auf Seiten der Altgläubigen) eine Auseinandersetzung über die Rolle der kirchlichen Zeremonien und ihres adiaphoristischen Charakters. Während der vor allem in Magdeburg versammelte Kreis um Matthias Flacius Illyricus, auf dessen Schriften sich Sdzuj vornehmlich konzentriert, den Zeremonien im „casus confessionis et scandali“ jeglichen adiaphoristischen Charakter zugunsten des Erhalts der zentralen Elemente der lutherischen Lehre absprach, ermöglichte gerade dessen Anerkennung den sächsischen Theologen einen Umsetzungsentwurf (Leipziger Landtagsvorlage, polem. „Leipziger Interim“) des kaiserlichen Ediktes zu erarbeiten, um sowohl die grundlegenden Glaubensartikel als auch den Bestand des Territoriums zu bewahren. Da die Ungleichheit ebenso wie die Gleichförmigkeit kirchlicher Zeremonien Ausdruck der christlichen Freiheit waren, die durch eine erzwungene Regelung in Gefahr geriet, hatten die Auseinandersetzungen immer auch einen sehr grundsätzlichen Charakter, der insbesondere unter den protestantischen Geistlichen eine besondere Schärfe annahm. Insofern ist es verwunderlich, dass Reimund Sdzuj den Leipziger Ausgleichsversuch kaum erwähnt, obwohl er doch auf einige wenige Texte der sächsischen Theologen (Philipp Melanchthon, Johannes Pfeffinger) eingeht.

Mit nachlassendem innerkonfessionellen Bekenntnisdruck löste sich am Ende des 16. Jahrhunderts und im 17. Jahrhundert (Kap. III) der Diskurs über die Adiaphora mehr und mehr vom Thema der Kirchenzeremonien und wandte sich den rein weltlichen Adiaphora zu. So behandelte Johannes Arndt in der „Ikonographia“ (1596) die Thematik des Bildgebrauchs nicht nur in Bezug auf die Kirche sondern ganz grundsätzlich. Seine Funktionsbestimmung des Bildes als natürlicher Metapher ging weit über Luthers Verständnis des Bildes als Memoria hinaus, blieb jedoch eine Ausnahme. In den konfessionell geprägten Auseinandersetzungen der protestantischen Orthodoxie mit Reformierten und Katholiken gerierte die lutherische Verteidigung der Adiaphora abermals zur Verteidigung der Freiheit. Am Beispiel der „Apodixis theologica gemina de imaginibus“ (1606) des Johannes Schröder illustriert Sdzuj die Herausbildung der in der Kontroversliteratur immer wieder verwendeten Topoi über die Unzulänglichkeit der reformierten Bildlehre (III.1.7). Das 17. Jahrhundert war geprägt durch die Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Pietisten über die sittliche Beurteilung der Künste. Während letztere aufgrund ihrer nomistischen Auffassung der Adiaphora (was nicht geboten ist, ist verboten) zu einer moralischen Verurteilung des Tanzes, des Schauspiels, der weltlichen Dichtung wie der weltlichen Bilder gelangten und zur Verteidigung des Glaubens aufriefen, fielen jene Künste aus Sicht der Lutheraner unter die Adiaphora, denn sie trügen den Zweck des Vergnügens und der Erbauung in sich selbst. Diese divergierenden Adiaphorakonzeptionen beschreibt Sdzuj anhand prominenter und weniger prominenter Beispiele, etwa dem Hamburger Opernstreit oder der Kontroverse zwischen dem Rektor des Gothaer Gymnasiums Gottfried Vockerodt und dem Theologen Albrecht Christian Rotth.

Auf circa 200 Seiten gibt Sdzuj einen Überblick über den für die Fragestellung relevanten Adiaphoradiskurs des 16. und 17. Jahrhunderts. Dass dabei nicht alle einschlägigen Texte berücksichtigt werden konnten, wenn sie auch Aufnahme in das umfangreiche Quellenverzeichnis fanden, ist verständlich. Die dankenswerte Edition einer handschriftlichen Quelle: „Consilium de rebus adiaphoris“ (1549) beschließt den Text. Etwas bedauerlich ist dennoch die fehlende Zusammenfassung. Eine prägnantere Akzentuierung hätte dem stets sehr nahe an den Quellen verbleibenden Ausführungen nicht geschadet. Dennoch schmälert dies nicht den positiven Gesamteindruck. Reimund Sdzuj hat eine äußerst anregende und innovative Studie zur frühneuzeitlichen Geistesgeschichte vorgelegt, der viele Leser zu wünschen sind.

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