M. Salewski: Deutschland und der Zweite Weltkrieg

Cover
Titel
Deutschland und der Zweite Weltkrieg.


Autor(en)
Salewski, Michael
Erschienen
Paderborn 2005: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
437 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger von Dehn, Bergische Universität Wuppertal

„Das Studium des Zweiten Weltkrieges gehört zu den anspruchsvollsten und herausforderndsten Aufgaben des Neuzeithistorikers“ (S. 23), und Deutungen der Welt in Waffen in den Jahren 1939 bis 1945 könne es nie genug geben – so Michael Salewskis abschließende Feststellung im Einleitungskapitel seiner Synthese der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Die insgesamt 26 Kapitel mit einem profund zusammengestellten Bildteil stellen den Menschen im Krieg in den Vordergrund der Auseinandersetzung. Dabei scheint es ein durchaus gewagtes Unternehmen zu sein, neben der allumfassenden zehnbändigen Detailbeschreibung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes nochmals die deutsche Perspektive auf den Krieg in einer Gesamtdarstellung abzuhandeln. Mit dem pragmatischen Blick des Wissenschaftlers und auch Zeitzeugen, unterfüttert mit einer Portion fachlicher Ironie, gelingt dieses Unterfangen dem früheren Fregattenkapitän und Kieler Historiker dennoch in recht eindrucksvoller Form. Er bricht auf sympathische Art und Weise eine Lanze für die Geschichtswissenschaft, explizit vor allem für die Militärgeschichte in der Bundesrepublik, die sich unverständlicherweise nur mit zwei Lehrstühlen in der akademischen Welt repräsentiert findet.

Das Werk ist keine leichte Kost und richtet sich ausdrücklich an die Fachwelt, die hier in kompakter Form eine persönliche Reflektion des größten aller Kriege an die Hand bekommen hat. Der gebürtige Ostpreuße weiß, dass er beim Leser Detailwissen voraussetzen kann und richtet seine Sicht der Dinge dementsprechend aus. Die Verknüpfung des Kommandounternehmens bei St. Nazaire mit der Landung in der Normandie sowie der Operation „Zitadelle“ ist nur ein Beispiel dafür. So fehlt auch keines der Großereignisse des Krieges, die allesamt gleichsam im Vorbeigehen abgehandelt werden. Dabei werden immer wieder Verbrechen angesprochen, ohne dass in den jeweiligen Zusammenhängen immer klar unterstrichen würde, was diese genau ausmachten.

In seiner Gänze überzeugt das Buch dennoch ohne Frage. Der Handbuchcharakter stört wenig und findet letztlich seinen Abschluss in einem dreißigseitigen Quellen- und Literaturverzeichnis. Es ist eine Fleißarbeit, bei der sich jedoch die Frage aufdrängt, ob es wirklich notwendig war, dass sich Salewski mit 31 Titeln verschiedenster Gattungen nochmals selbst aufführt. Auch wäre die Abrundung durch ein Sachregister wünschenswert gewesen. Gewöhnungsbedürftig ist sein Vorgehen in der Analyse. So springt er förmlich von Leitfrage zu Leitfrage, die den „roten Faden“ in der Argumentation der einzelnen Sequenzen ausmachen. Der pragmatische und wenig verklausulierte Wortschatz - „In diesem Sinne war Hitlers Krieg total. Ansonsten war es eine einzige Stümperei.“ (S. 334) - wirkt eher wohltuend und lässt über den einen oder anderen Abstrich im Buch hinwegsehen.

Was ist nun über den Inhalt zu sagen, der hinlänglich in kaum überschaubaren Publikationsmengen und auf unzähligen Konferenzen diskutiert wurde und dennoch eine ganz neue Facette offenbart? Was ist neu am alten Thema? Das Werk gliedert sich in vier große Teilbereiche, wobei die ersten sechs Kapitel zur Einführung dienen und den Weg vom Ende des bürgerlichen Zeitalters hin zur drohenden Selbstvernichtung der Völker beschreiben. Im siebten bis dreizehnten Kapitel wird der deutsche Vormarsch durch Europa pointiert skizziert. Im dritten Themenkomplex findet das „Unternehmen Barbarossa“ seinen Niederschlag – und die Reflektion der vollständigen Katastrophe in Stalingrad. Mit dem 21. Kapitel zerfallen die klaren Strukturen in einzelne Facetten wie das „Deutsche Reich“ selbst. Nach den Einschnitten des Jahres 1943 geht es über die angloamerikanische Invasion 1944 hin zu den vorherrschenden Deutschlandbildern der Alliierten, wobei eine Beschreibung des Widerstandes nicht fehlen darf. Im 25. und 26. Kapitel runden Betrachtungen zum Kriegsalltag und die absolute Niederlage den Gang durch die Geschichte ab. Getragen wird der Text durch eine etwas eigenwillige, aber stringente Quelleninterpretation, die eine klare Absage an die Trockenheit der Darstellung in den schon erwähnten zehn voluminösen Betrachtungen aus den Potsdamer Einrichtungen ist.

Ein Hauch von Geschichtsphilosophie begleitet den Leser bei der Einführung in den Text, dessen Grundstock einst ein Vorlesungsmanuskript bildete. So können die verschiedenen Kapitel auch sehr gut als Sequenzen unabhängig voneinander gelesen werden. Der Vortragscharakter schimmert immer dann durch, wenn Forschungsmeinungen ohne viel Federlesen direkt eingewoben werden. So ist der Krieg aus Salewskis Sicht nicht zu historisieren, auch überraschen zunächst die geschliffene Beschreibung der Begriffsevolution und der Ruf nach Bestimmbarkeit des stetig benutzten Ausdrucks „Zweiter Weltkrieg“. Dieser erkenntnistheoretische Blick führt die Feder über die meisten der 437 Seiten.

Mit dem Abschluss der Suche nach den Ursachen dessen, was kaum zu definieren ist, rückt das dritte Kapitel in den Fokus der Betrachtungen. Der Stand der stets wachsenden Forschung wird diskutiert, und der Leser wird auf diejenigen Strömungen hingewiesen, die aus der Sicht Salewskis entscheidend sind. Was folgt, ist ein knapper und gut lesbarer Überblick über die Überlieferungsgeschichte bekannter Quellen. Eingerahmt wird dies durch einen kurzen Ausflug in die Historie der Institutionen, die sich nach 1945 auf das Studium des Krieges konzentriert haben, namentlich das Militärhistorische Forschungsamt und das Institut für Zeitgeschichte. So wird der Leser auf einen Rundflug durch die quellengeschichtliche und in der Forschung laufende Diskussion zur Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges der letzten fünfzig Jahre mitgenommen. Grundlage bei allen gemachten Befunden ist für Salewski immer der handelnde Mensch. Dabei stellt er sich ganz der Tatsache, dass Hitler auch als solcher zu behandeln ist und nicht in den schwammigen Dunst des Metaphysischen abzuschieben ist. Gegen die Bestien-Lyrik aus den Redaktionen großer TV-Sender ist er ganz und gar immun.

Welchen Eindruck hinterlässt nun die Lektüre einer solchen „histoire totale“? Es ist „eine“ scharfsinnige Analyse, die sich dadurch auszeichnet, dass bekannte Dinge auf ihre Bedeutungswirkung und den erkenntnistheoretischen Wert hinterfragt werden. Die Interpretation des Zweiten Weltkrieges ist und bleibt weiterhin davon entfernt, abgeschlossen zu werden, was Salewski mit geschärftem Blick sehr überzeugend darstellt. Es ist eine offene Auseinandersetzung mit den für lange Zeit als absolut geltenden Deutungshoheiten und eine fachwissenschaftliche Abrechnung mit der Generation von Historikern, die unmittelbar nach dem Krieg promoviert wurden und ihre Doktorväter so akzeptierten, wie sie waren – inklusive ihrer vermittelten Geschichtsbilder.

Das „Neue“ in dem vorgelegten Werk entsteht durch die individuelle Interpretation dessen, was die Fachwelt kennt und als feste Basis zu schätzen weiß. Hingeführt wird der Leser letztlich zu einer ganzen Anzahl neuer Denkanstöße, die es regelrecht verbieten, sich nur auf das Schubladendenken eingefahrener historiographischer Deutungen zu verlassen. Salewskis ureigener Blick auf das Deutschland der Jahre 1939-1945 belegt, dass trotz der um sich greifenden Verschulung der Universitäten die akademische Freiheit des kontroversen Denkens aus den Hörsälen noch nicht ganz verdrängt worden ist. Trotzdem: Salewski entwickelt hierbei nur eine Meinung, die sicherlich nicht als eine Verpflichtung auf seine Sicht der Dinge zu verstehen ist. Sie fordert zu Gegenargumentationen auf, die möglichst nicht in der Ecke der fachwissenschaftlichen Dauerstandards zu suchen sind. Den bravourösen Abschluss findet die empfehlenswerte Gesamtdarstellung, die in keiner Universitätsbibliothek fehlen sollte, in einer eigenwilligen Bewertung des Kriegsendes, die in der absoluten Niederlage des Deutschen Reichs (und des Reichsgedankens) eine ideologische und moralische Anschubfinanzierung für das geeinte Europa sieht. Salewski provoziert – bis zur letzten Seite.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension