Cover
Titel
Stalin. Revolutionary in an Era of War


Autor(en)
McDermott, Kevin
Reihe
European History in Perspective
Erschienen
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 29,10
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Oberender, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Über keine andere Gestalt der sowjetischen Geschichte ist in den letzten Jahren so viel geschrieben worden wie über Stalin, den zentralen Protagonisten und Namensgeber des als Stalinismus bezeichneten Herrschaftssystems.1 Die seit der Archivöffnung erheblich erweiterte Quellenbasis und der daraus resultierende Aufschwung der Stalinismusforschung fanden ihren Niederschlag auch in einigen sehr umfangreichen biographischen Arbeiten wie der Biographie von Robert Service und der aufsehenerregenden „Hofchronik“ von Simon Sebag Montefiore.2 Demgegenüber fehlte es bisher an einer knapp gehaltenen und zugleich wissenschaftlich fundierten biographischen Studie, die beispielsweise im universitären Lehrbetrieb verwendet, aber auch vom historisch interessierten Laien mit Gewinn gelesen werden kann. Diese Lücke versucht der britische Historiker Kevin McDermott mit seiner handlichen und gut lesbaren Darstellung zu füllen, die nicht als umfassende Biographie angelegt ist, sondern eine konzise, problemorientierte Einführung in Stalins Leben und politisches Wirken auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes bietet.

Das Buch besticht zum einen durch die sachliche Erzähl- und Argumentationsweise, zum anderen durch McDermotts Gespür für die Wechselwirkungen zwischen historischen Kontexten, strukturellen Handlungsbedingungen sowie persönlichen Motivlagen und Intentionen. Eine anspruchsvolle personenbezogene Darstellung ist ohne Berücksichtigung dieser drei Faktoren und ihres Ineinandergreifens kaum zu schreiben. Den heutigen Kenntnisstand in Bezug auf Stalins Leben und Herrschaft auf nur 167 Seiten zu verarbeiten und zu reflektieren, mag kühn und gewagt erscheinen, aber der detaillierte Anmerkungsapparat und die umfangreiche Bibliographie bieten dem Leser genügend Hinweise für eine vertiefende Lektüre und die Beschäftigung mit einigen Aspekten, die der Autor notgedrungen nur beiläufig oder gar nicht behandelt (etwa Stalins Privatleben oder sein theoretisches Werk).

Auch wenn McDermott keine neuen Quellen erschlossen hat und sich mit seiner von ausgewählten Fragestellungen geleiteten Synthese der vorliegenden Sekundärliteratur ganz im Mainstream der aktuellen Forschung bewegt, bemüht er sich doch um einen eigenständigen Interpretationsansatz, um die Zielsetzungen und Ergebnisse von Stalins mehr als zwanzigjähriger Gewaltherrschaft einer Gesamtdeutung zu unterziehen. Er nennt diesen Ansatz „War-Revolution Model“. Der von Stalin immer wieder vorangetriebene Klassenkampf im Inneren und das Bestreben, Verteidigungsfähigkeit und Sicherheitslage der Sowjetunion fortlaufend zu verbessern, ergaben sich diesem Modell zufolge aus der Verpflichtung, die Revolution im Kontext der Rückständigkeit Russlands und der instabilen internationalen Situation zu verteidigen. McDermott sieht in Stalin keinen bloßen Tyrannen, dem es nur um den Genuss der Macht gegangen sei, sondern einen überzeugten Marxisten, der zeitlebens von antibürgerlichen Ressentiments angetrieben wurde und von einem radikal vereinfachten, im Grunde primitiven manichäischen Weltbild beseelt war. Hinzu kam die nachhaltige Prägung durch seine Jugenderfahrungen an der konflikt- und gewaltträchtigen Peripherie des Zarenreiches und die Erlebnisse der Kriegs- und Bürgerkriegszeit, so dass sich Stalin die angestrebte revolutionäre Umgestaltung Russlands nur als blutigen Klassenkrieg vorstellen konnte, als Bekämpfung und Ausmerzung von sozialen und später auch ethnischen Gruppen, die dem Transformationsprojekt als vermeintliche Feinde im Wege standen.

Im mentalen Erbe des Bürgerkrieges, in dessen Verlauf massive Gewaltanwendung zur legitimen Problemlösungsstrategie wurde, sieht McDermott die Wurzel für den ab 1929 einsetzenden Terror, der als gewaltsame Auseinandersetzung mit einer krisen- und problembeladenen Realität aufzufassen ist, die sich den utopischen Vorstellungen der Bolschewiki nicht fügen wollte und deshalb als Bedrohung wahrgenommen wurde. Stalins „Revolution von oben“, vollzogen durch forcierte Industrialisierung und Zwangskollektivierung, erscheint als Strategie, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die Verteidigungskraft der rückständigen, außenpolitisch isolierten Sowjetunion schnellstmöglich zu erhöhen, um für den Kampf mit dem kapitalistischen Lager, der als unvermeidlich angesehen wurde, gerüstet zu sein. Gleichzeitig, so McDermott, verkörperte sich für Stalin in der zentral gelenkten Planwirtschaft und in der kollektivierten Landwirtschaft das Wesen des Sozialismus.

Mit neuartigen Einsichten, die den kundigen Leser überraschen könnten, wartet McDermott nicht auf. Einige in der Einleitung formulierte Fragen strukturieren den Text: Unter welchen historischen Bedingungen agierte der Diktator, welche Faktoren begünstigten seinen Aufstieg und den Übergang zur Alleinherrschaft, mit welchen äußeren Zwängen und Hemmnissen sah er sich konfrontiert? Worauf gründete sich Stalins Macht in den einzelnen Phasen seiner Herrschaft – und welchen Einschränkungen unterlag sie? Ist der Stalinismus, verstanden als staatsgelenkte, quasimilitärische Mobilisierung der Bevölkerung im Dienste des sozialistischen Aufbaus, als eine eigenständige Form der Moderne aufzufassen? In welcher Weise prägte Stalins Persönlichkeit den Geist des Stalinismus?

Der eng bemessene Raum des Buches gestattet auf all diese Fragen notwendigerweise nur knappe Antworten, die aber keineswegs unbefriedigend ausfallen, lehnen sie sich doch stark an das Stalinbild an, das sich in den letzten Jahren in der (westlichen) Forschung herauskristallisiert hat. Stalin, als Mann aus dem einfachen Volk für die vielen bäuerlichen Aufsteiger in der Partei attraktiver als die Trotzkis und Bucharins, inszenierte sich nach 1924 geschickt als treuer Schüler Lenins, während er seine Rivalen als Abweichler und Spalter hinstellte, und er profitierte zugleich von der autoritären politischen Kultur in der Partei der Bolschewiki, in der unter dem Eindruck des Bürgerkriegs das Führerprinzip rasch an die Stelle innerparteilicher Demokratie getreten war. Die ungenügende Verfestigung politischer Institutionen ermöglichte Stalin, der eine Schar ergebener Gefolgsleute um sich geschart hatte, den allmählichen Übergang zu einer personalisierten, zuletzt weitgehend informell ausgeübten Herrschaft, die auf der Monopolisierung des politischen Prozesses in Stalins Hand und der persönlichen Kontrolle der Sicherheitsdienste fußte.

Rebellische Bauern, bürgerliche Spezialisten, unzuverlässige Funktionäre und nationale Minderheiten gerieten nacheinander ins Visier des stets misstrauischen, in simplen Freund-Feind-Kategorien denkenden Herrschers, der die chaotischen Zustände und Widrigkeiten der sowjetischen Alltagsrealität und die Grenzen seiner Durchsetzungsfähigkeit auf das Wirken feindlicher Kräfte zurückführte und überdies die sozialistische Umgestaltung des Landes fortwährend von der Aggressionslust kapitalistischer Mächte bedroht sah. Im permanenten Ausnahmezustand der späten 1920er und frühen 1930er-Jahre stieg die Gewaltbereitschaft Stalins und seiner Mitstreiter, bis sie schließlich 1937/38 zu einem umfassenden Schlag gegen eine Vielzahl tatsächlicher und eingebildeter Feinde ausholten, an dessen zentraler Planung und Lenkung heute nicht mehr zu zweifeln ist.

Auch wenn McDermotts Buch in erster Linie als Zusammenfassung des heutigen Forschungsstandes anzusehen ist, bietet es doch manche Ansatzpunkte für weitere Diskussionen. Mit seinem Plädoyer, Stalins Herrschaft und vor allem die Industrialisierung als eine extrem autoritäre und gewaltsame Form der staatsgelenkten Modernisierung aufzufassen, dürfte die gegenwärtige Debatte über den modernen oder neotraditionalistischen Charakter des Stalinismus keineswegs beendet sein.3 Die Essenz des Stalinismus erschöpft sich für McDermott nicht allein im Terror, sondern beinhaltet auch das Wirtschaftssystem, das Stalin seinen Nachfolgern als schwere Hypothek hinterließ. Da die unter unsäglichen Mühen und Entbehrungen aufgebaute Wirtschaft im Vergleich zum westlichen Kapitalismus weiterhin rückständig blieb, wie der Autor selbst betont, stellt sich die Frage, ob wirklich von Modernität und (erfolgreicher) Modernisierung gesprochen werden kann, obwohl die angeblich erreichte Moderne nach Wegfall von Terror und Zwang nicht aus sich selbst heraus die Kräfte für eine stetige innovative Weiterentwicklung aufbrachte und stattdessen einer Stagnation oder gar Regression anheim fiel. Insgesamt ist McDermott eine solide Darstellung gelungen, die für den Seminarbetrieb empfohlen werden kann, aber um weitere Texte ergänzt werden sollte.

Anmerkungen:
1 Einen umfangreichen Forschungsbericht (unter Einbeziehung der neuesten deutschsprachigen Forschung!) bieten: Litvin, Alter; Keep, John, Stalinism. Russian and Western views at the turn of the millenium, London 2005.
2 Service, Robert, Stalin. A Biography, London 2004; Sebag Montefiore, Simon, Stalin. The Court of the Red Tsar, London 2003.
3 Siehe dazu: David-Fox, Michael, Multiple Modernities vs. Neo-Traditionalism. On Recent Debates in Russian and Soviet History, in: JGOE 54 (2006), S. 535-555.

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