M. Giese: Textfassungen der Vita Bernwards

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Titel
Die Textfassungen der Lebensbeschreibung Bischof Bernwards von Hildesheim.


Autor(en)
Giese, Martina
Reihe
Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 40
Erschienen
Anzahl Seiten
135 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ernst-Dieter Hehl, Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz

Die Lebensbeschreibung Bischof Bernwards von Hildesheim (geb. um 960, Bischof 993-1022) erzählt das Leben eines der wichtigsten Bischöfe der ausgehenden Ottonenzeit. Ihre Datierung und damit ihr unmittelbarer Quellenwert ist erneut in das Blickfeld der Forschung geraten, nachdem Knut Görich und Hans-Henning Kortüm in Weiterführung einer älteren Diskussion 1990 die These vertraten, die Vita sei erst in der Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden und habe die Heiligsprechung des Hildesheimer Bischofs fördern sollen, die dann 1193/93 erfolgte, nachdem ein erster Ansatz von 1150, bei dem die Vita erstellt wurde, noch ohne Ergebnis geblieben war.1 Nicht allein eine zeitnahe Quelle zu Bernwards Wirken, sondern auch ein zentraler Beleg zur Renovatio-Politik Ottos III. ging damit ihrer Ansicht nach verloren, denn die Vita Bernwardi überliefert auch Ottos III. berühmte Rede an „seine“ Römer, um derentwillen er „sein Vaterland und seine Verwandten“ verlassen habe (c. 25). Vor allem diese Rede hat das Augenmerk von Görich/Kortüm auf die Problematik der Vita gerichtet, am Ende ihrer Untersuchung verneinen sie, in ihr ein „authentisches Zeugnis für die Renovatio-Politik des Kaisers zu besitzen“ (S. 57). Einspruch gegen diese Spätdatierung der Vita hat Marcus Stumpf erhoben. Er hält auch an der in der Regel angenommenen Verfasserschaft Thangmars fest. Dieser Vertraute des Bischofs habe nach Bernwards Tod die so genannte Hildesheimer Denkschrift um den Streit über das Stift Gandersheim zwischen Bernward und Erzbischof Willigis von Mainz und biografisches Material zur Vita in der Gestalt, wie sie heute vorliegt, zusammengeführt, nur wenige Ergänzungen seien einer späteren Zeit zuzuschreiben.2 Das methodische Problem lag und liegt für die Forschung darin, dass zwischen der Hildesheimer Denkschrift (Dresden, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Univ.bibl., J 206; für die Streitphase unter Bernward bis 1007 zwischen 1010 und 1030 als Abschrift aus älterer Vorlage entstanden) und der zur Heiligsprechung Bernwards erstellten Handschrift der Vita (Hannover, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv, Ms. F 5, aus Hildesheim, St. Michael, 1186/93) kein weiterer Textzeuge erhalten ist, obwohl Frau Giese die Anzahl der Handschriften auf insgesamt 26 nochmals erweitern konnte, die sie detailliert vorstellt (einen weiteren Fund verzeichnet sie nachträglich im Vorwort).

Um das quellenkritische Problem zu lösen, macht sich Frau Giese auf die Suche nach Hinweisen und Nachrichten, die – obwohl nicht in der Hildesheimer Denkschrift überliefert – in die Zeit Bernwards führen, und nach Textfassungen, die offensichtlich vor der Niederschrift der Hannoveraner Handschrift F 5 entstanden sind. In beiden Fällen wird sie fündig. Für ersteres kann sie auf die Feststellung von Günter Binding verweisen, dass unter den in c. 8 der Vita genannten Kunstwerken keines nach 1010 entstanden ist, „was bei einer späteren Abfassung dieses Kapitels kaum verständlich wäre“ (S. 36). Gerade diese unspektakulär-technische Beobachtung besitzt hohen Beweiswert und ist mit einer im Bauschutt gefundenen datierten Münze vergleichbar, während die folgenden Beispiele zur Kenntnis der italienischen Verhältnisse, sowie zur Haltung Bernwards in der Auseinandersetzung um die Nachfolge Ottos III. demgegenüber sehr viel leichter aus einer die Zeit bis 1150/90 überdauernden mündlichen Überlieferung erklärt werden könnten (von Frau Giese jedoch einleuchtend als Hinweis auf eine zeitnahe schriftliche Fixierung gewertet werden). Aus überlieferungs- und textkritischen Beobachtungen lässt sich eine Textstufe ermitteln, die in die Zeit vor die Kanonisation Bernwards und der mit dieser verknüpften „Kanonisationsfassung“ der Vita, wie sie in der Hannoveraner Handschrift vorliegt, führt. Sie setzt mit Wundererzählungen das „Leben“ Bernwards bis in das frühe 12. Jahrhundert fort und schließt dann in einem geschlossenen Block die Nachrichten der Hildesheimer Denkschrift zum Gandersheimer Streit (jedoch nicht in deren Textfassung) sowie die „Italienkapitel“ (insgesamt = cc. 12-45 und 48 der MGH-Ausgabe der Vita) an. Gegenüber der Kanonisationsfassung fehlen hier einige Kapitel, doch sind sie noch vor deren Erstellung in eine weitere Textstufe der Vita aufgenommen worden.

Frau Gieses Feststellungen und Überlegungen belegen einen rasch nach Bernwards Tod einsetzenden Entstehungsprozess der Vita Bernwardi. Die Existenz einer umfassenden zeitnahen Aufzeichnung von Bernwards Ringen um die Zuständigkeit der Hildesheimer Bischöfe für Gandersheim, zu denen Kenntnisse über die Geschehnisse in Italien in den letzten Jahren Ottos III., den die Hildesheimer dort zum Urteil über den Streit angerufen hatten, bewirkte, dass man sich nur schwer von diesen Vorgaben lösen konnte. Vielmehr hat man immer wieder versucht, dieses für eine übliche Bischofsvita sperrige Material in eine solche zu integrieren. Wie schwierig das war, zeigt eine Fassung der Vita, die aufgrund der bis 1124 erzählten Wunder Bernwards in das 12. Jahrhundert gehört. Hier fehlen die Nachrichten zum Gandersheimer Streit und zur Italienpolitik vollständig; neben den allgemeinen biografischen Kapiteln (cc. 1-9) sind nur noch die Nachrichten zur Gründung von St. Michael und zur Kryptaweihe (cc. 46-47) sowie zum Lebensende Bernwards (cc. 53-55) verzeichnet. Für die Überlieferungssituation bezeichnend, ist die Handschrift (Berlin, Staatsbibl., Ms. theol. lat. fol. 706, aus der Kölner Kartause St. Barbara) mit diesem reduzierten Textbestand um 1460 entstanden. Und doch dürfte diese Version mit ihrem Zurückdrängen der politischen Geschichte sich eher dem Modell einer Bischofsvita nähern, als das die Vita Bernwardi in ihren übrigen Fassungen tut.3 Geht man von einer Entstehung der Vita im 12. Jahrhundert aus und der damit verbundenen Annahme, sie habe der Heiligsprechung Bernwards gedient, dann erscheinen gerade die „Gandersheimer Kapitel“, für die mit der Hildesheimer Denkschrift eine Vorlage aus der Zeit Bernwards erhalten ist, als Fremdkörper und ebenso die damit verbundenen „Italienkapitel“. Die Forschung müsste erklären, wieso man diese störenden und im 12. Jahrhundert nicht mehr aktuellen Elemente nicht einfach weggelassen hat (wofür ja die Berliner Handschrift ein Beispiel gibt). Frau Giese zeigt mit ihren Untersuchungsergebnissen einen umgekehrten Weg auf: Wie man in Hildesheim nämlich schon bald nach Bernwards Tod versuchte, diese Materialien in eine Bischofsvita zu integrieren. Nur scheinbar steht die Kanonisationsfassung der Vita am Ende dieses Prozesses, fast zeitgleich sind auch andere Lösungsmöglichkeiten ausprobiert worden und der Bearbeitungsprozess ging immer noch weiter. Im 14. und 15. Jahrhundert sind z.B. spezifische Vitenfassungen in die Legenda aurea des Jacobus de Voragine eingefügt worden. Nach 1500 hat Henning Rose, der als Professe von St. Michael in Hildesheim bezeugt ist, drei Abschriften der Vita hergestellt und sie mit (kunst-)historischen Interpolationen versehen, die Frau Giese (S. 110-124) erstmals ediert.

Martina Gieses Studie ist keine leichte Kost, aber von hohem, auch allgemeinem Erkenntniswert. Sie kann die Genese eines Textes, dessen „Unausgewogenheit“ der Forschung viel Kopfzerbrechen bereitet hat, schlüssig erklären, indem sie die vielfältigen Möglichkeiten des mittelalterlichen Umgangs mit schriftlich niedergelegten Traditionen in einer sorgfältigen Untersuchung der Handschriften aufzeigt. Die Vita Bernwardi war gleichsam nie ein „fertiges“ Gebilde, ihre Genese setzt jedoch bald nach Bernwards Tod ein und nicht erst 130 Jahre später.

Anmerkungen:
1 Görich, Knut; Kortüm, Hans-Henning, Otto III., Thangmar und die Vita Bernwardi, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 98 (1990), S. 1-57, ebd. S. 52 die Datierung der Vita auf 1150.
2 Stumpf, Marcus, Zum Quellenwert von Thangmars Vita Bernwardi, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 53 (1997), S. 461-496.
3 Vgl. generell: Haarländer, Stephanie, Vitae episcoporum. Eine Quellengattung zwischen Hagiographie und Historiographie, untersucht an Lebensbeschreibungen von Bischöfen des Regnum Teutonicum im Zeitalter der Ottonen und Salier, Stuttgart 2000. Ebd. S. 465 scheint die ausführliche Schilderung des Gandersheimer Streites in der Vita Bernwardi fast als eine Ausnahme gewertet zu sein.

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