H.J. Lüsebrink (Hrsg.): Das Europa der Aufklärung

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Titel
Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt.


Herausgeber
Lüsebrink, Hans-Jürgen
Reihe
Das achtzehnte Jahrhundert Supplementa 11
Erschienen
Göttingen 2006: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Büschges, Iberische und Lateinamerikanische Geschichte, Universität Bielefeld

Der vorliegende Band geht auf eine vom Herausgeber organisierte gleichnamige Tagung zurück und analysiert aus historischer und vor allem kulturhistorischer Perspektive vielfältige Beziehungen zwischen Europa und der außereuropäischen Welt im Zeitalter der Aufklärung. Der Band umfasst neben den einleitenden Aufsätzen vom Herausgeber und von Jürgen Osterhammel 18 weitere Beiträge, die unter den Kapiteln "Wissenstransfer", "Interkulturelle Beziehungen" und "Sichtweise der Anderen" gruppiert sind. Der Sammelband ordnet sich in das in der Forschungslandschaft fest etablierte Themenfeld der europäischen Rezeption der außereuropäischen Welt in Reiseberichten, Enzyklopädien und anderen gedruckten Schriften der Frühneuzeit ein.

Das in den Kapitelüberschriften angedeutete Feld der gegenseitigen Wahrnehmung und Beeinflussung europäischer und außereuropäischer Gesellschaften bleibt jedoch unterbelichtet und beschränkt sich auf einige wenige Beiträge zu den in europäischen Texten reflektierten Perspektiven der außereuropäischen Anderen. Jürgen Osterhammel begründet in seinem Beitrag "Welten des Kolonialismus im Zeitalter der Aufklärung" dieses Forschungsdesiderat mit der geringen Anzahl von zudem sehr heterogenen Quellen aus Übersee. Dies mag für die im vorliegenden Band berücksichtigten Textgattungen zutreffen, weniger jedoch für andere gedruckte und vor allem archivalische Quellen, sei es aus den Metropolen oder aus Übersee. So mag etwa das in Europa zirkulierende Wissen über die spanischen Überseeterritorien Osterhammel folgend begrenzt gewesen sein, das spanische wie auch das portugiesische Amerika waren jedoch kaum von Europa "abgeschottet", was sich in der breiten Rezeption der (nicht nur spanischen!) Aufklärung in den hispanoamerikanischen Universitäten, "Patriotischen Gesellschaften", Zeitschriften und anderen ebenso zeigt, wie in den politischen Anleihen der lateinamerikanischen Unabhängigkeitskämpfer und Staatengründer des frühen 19. Jahrhunderts bei den Verfassungen der USA sowie verschiedener europäischer Staaten. Die Aufklärung in Übersee beschränkte sich insofern nicht auf die Ausbildung neuer Herrschaftstechniken im Zuge des spanischen (und portugiesischen) Reformabsolutismus oder auf die britische Herrschaftsverdichtung in Indien. Beizupflichten ist Osterhammel, und das nicht nur hinsichtlich der europäischen Rezeption der außereuropäischen Wirklichkeit, wenn er die große Vielfalt der kolonialen Welten der Frühen Neuzeit hervorhebt. Seine Anregung, "Perzeptions-, Repräsentations- und Diskursstudien" auf der Basis einer Typologisierung der Formen des Kolonialismus anzugehen, führt er hier allerdings nicht aus.

Hans-Jürgen Lüsebrink charakterisiert in seinem einleitenden Beitrag "Von der Faszination zur Wissenssystematisierung: die koloniale Welt im Diskurs der europäischen Aufklärung" das 18. Jahrhundert als "Umbruchperiode". Während die von ihm herausgestellte politische Dimension dieses Umbruchs, allen voran die Unabhängigkeit der USA und Haitis, für den vorliegenden Sammelband keine Referenzpunkte bilden, folgen verschiedene Beiträge des Bandes Lüsebrincks Perspektive eines kulturellen Umbruchs in der Generierung, Verbreitung und Klassifizierung des europäischen Wissens über die koloniale Welt. Der Großteil der Beiträge des Bandes (elf an der Zahl) beschäftigt sich entsprechend explizit mit den Formen des "Wissenstransfers" von Übersee nach und in Europa.

Cecil P. Courtney unterzieht etwa Raynals Histoire philosophique des deux indes einer Reevaluation und betont gegenüber älteren Forschungssträngen die Originalität der kompilatorischen Methode des Autors, die in der Übernahme von Teilen des Werkes in die Encyclopédie méthodique seine würdige Nachfolge gefunden habe. Clorinda Donato bestätigt die Produktivität dieser Formen des innereuropäischen Wissenstransfers am Beispiel der spanischen Übersetzung und partiellen Umschreibung besagter Encyclopédie (samt der darin enthaltenden Versatzstücke Raynals) im Sinne der spanischen Kolonialherrschaft. Die Kontextgebundenheit des Wissenstransfers aus der Neuen in die Alte Welt auf Seiten der Kolonialmächte demonstrieren Ute Fendler und Susanne Greilich im französisch-deutschen Vergleich anhand der zwischen beiden Staaten im 18. Jahrhundert unterschiedlichen Kolonialerfahrungen, die auf deutscher Seite mangels eigener Kolonien zu einer eher religiös-philosophischen und wissenschaftlichen Betrachtung Afrikas und der schwarzen Bevölkerung tendierte. Die deutsche Rolle eines neutralen Beobachters findet sich zeitgenössisch bereits bei Georg Foster, wie Helmut Peitsch in seinem Beitrag zu Fosters Sicht auf die deutsche Rezeption der europäischen Reiseliteratur nachweist. Ingmar Probst zeigt wiederum die seitens der in Kanada aktiven britischen Handelsgesellschaften zum Schutz ihrer kommerziellen Interessen geübte Zurückhaltung bei der Verbreitung ihres Wissens über die Neue Welt in Europa.

Im Gegensatz zu dieser kontextorientierten Interpretation beschränken sich die Beiträge von Horst Walter Blanke zu den Reiseberichtkompilationen der Allgemeinen Historie der Reisen (1747-1774) sowie von Peter Stein zur Historie der caribischen Inseln von Christian Oldendorp weitgehend auf deskriptive Referate, im Falle von Stein erschweren umfangreiche Zitate die Lektüre der behandelten Texte. Davon hebt sich insbesondere Gudrun Loster-Schneiders Beitrag zur kulturellen und ästhetischen Hybridisierung in der Verlobung von Santo Domingo ab. Die Autorin untersucht Kleists Drama einerseits im Lichte der jüngsten postkolonialen Forschungsansätze (Bhaba etc.) und geht andererseits auf die im Text auffindbaren Spuren zeitgenössischer Hybridisierungen ein, die im 18. Jahrhundert in den Begriffen des Bastards, Zwitters oder Mischlings zum Ausdruck kamen.

Annelore Rieke-Müller thematisiert am Beispiel der öffentlich zugängigen Naturalienkammer der Frankeschen Stiftungen in Halle divergierende zeitgenössische Ordnungsvorstellungen zur Präsentation europäischer und außereuropäischer Objekte im Spannungsfeld von Kunst und Natur, universalistisch-anthropologischer Perspektive und didaktisch-konfessioneller Erbauung.

Während die meisten untersuchten Texte die Generierung und den Transfer des Wissens aus Übersee nach Europa in den Kontext von Herrschaft setzen, analysiert York-Gothart Mix anhand von Herders Neger-Idyllen von 1797 einen Fall von offener Kolonialismuskritik. Teruaki Takahashi wiederum berücksichtigt in seinem Beitrag zum Japan-Bild in der Geschichte und Beschreibung von Japan (1727) von Engelbert Kaempfer auch japanische Übersetzungen des Werkes sowie die Rezeption Europas in japanischen Schriften.

Im Abschnitt des Sammelbandes zu den "Interkulturellen Begegnungsformen" untersuchen Bernd-Peter Lange und Anthony Strugnell jeweils das englische Indien-Bild im 18. Jahrhundert und zeigen, dass sich dieses Bild im Zuge der kolonialen Herrschaftsverdichtung Englands von einer anfänglich ambivalenten, etwa positive Züge des indischen Rechts anerkennenden Position zu einer grundlegenden Abwertung indischer Kultur entwickelt. Beiträge dieser Art ließen sich im Sinne der von Osterhammel eingangs skizzierten Systematisierung der europäischen Rezeption der außereuropäischen Welt im Kontext unterschiedlicher Formen des Kolonialismus auswerten.

Christiane Küchler Williams und Stefanie Arend beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit zwei Topoi der Kolonialliteratur, der zum exotischen Sexualobjekt degradierten Polynesierin sowie dem Kannibalen. Küchler Williams kann dabei deutlich machen, dass das Bild der Sexualität in der Literatur zur Südsee im Gegensatz zum Orient aufklärerisch gefärbte freie und "unverdorbene" Züge trägt. Hinsichtlich der Darstellung des Kannibalismus im 18. Jahrhundert sieht Arend aufklärerische Einflüsse in der Zurückdrängung ethnographischer Zugänge und der Frage nach der Authentizität der Anthropophagie gegenüber einer epochentypischen Zivilisationskritik und nach den Prinzipien der richtigen, natürlichen Lebensführung.

Im abschließenden Abschnitt des Sammelbandes zum Thema der "Sichtweisen der Anderen" geht Michael Harbsmeier den Spuren grönländischer Autorschaft in solchen dänischen Missionsberichten nach, in denen Europareisen von indigenen Bewohnern Grönlands dargestellt werden. Jörg Esleben analysiert die Rezeption des durch Georg Forster ins Deutsche übertragenen indischen Dramas Śakuntalã von Kãlidasã durch verschiedene Autoren und die dabei vor dem Hintergrund der Aufklärung (re-) konstruierten indischen Vorstellungen zu Natur, Mythologie, Religion, idealer Weiblichkeit und anderen. Wiebke Röben de Alencar Xavier behandelt die ironischen Cartas chilenas des portugiesischen Kronbeamten Tomás Antônio Gontaga, der im Mutterland wie im brasilianischen Vila Rica tätig war und dessen zwischen 1788 und 1789 in Übersee entstandenen und zunächst nur handschriftlich kursierenden fingierte Briefe sowohl Züge eines regionalen Gesellschaftsporträts als auch einer allgemeinen aufgeklärten Kolonialkritik tragen, die in ihrer Verurteilung der Lebensbedingungen der brasilianischen Sklaven deutlich radikaler war als die antikolonialen Positionen der philosophes.

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