H. Altrichter (Hrsg.): GegenErinnerung

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Titel
GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas


Herausgeber
Altrichter, Helmut
Reihe
Schriften des Historischen Kollegs - Kolloquien 61
Erschienen
München 2006: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rayk Einax, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Historisches Institut

Bereits mit dem Beginn der politischen Umwälzungen in den Ländern des (ehemals) sozialistischen Lagers setzte eine kontrovers geführte Diskussion über historische Ereignisse und das öffentliche Gedenken ein. Seither hat die Beschäftigung mit der Zeitgeschichte und deren diametralen Wahrnehmung bzw. Erinnerung in den postsozialistischen Staaten und Gesellschaften Europas sowohl in der Geschichtsschreibung der betreffenden Ländern selbst als auch hierzulande, das heißt in der deutschen Geschichtswissenschaft, Hochkonjunktur. Hierbei reicht das Themenspektrum von allgemein historiografischen Problemstellungen 1 über die museale Aufarbeitung 2 bis hin zu speziellen Zeitabschnitten, wie z. B. dem Zweiten Weltkrieg.3 Aber gerade die politische Verwendung von Geschichtsbildern und die daraus entstandenen Konflikte entlang nationaler Zugehörigkeiten in den entsprechenden Staaten ist über eine vage Thematisierung oftmals nicht hinaus gekommen, und daher häufiger von publizistischer Seite aufgegriffen worden.

Der vorliegende Sammelband versucht in Form von Länderstudien diese Lücke zu verkleinern. Die Aufsätze basieren auf Vorträgen des Kolloquiums „Geschichte im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas“, das im Juni 2002 am Historischen Kolleg München stattfand. In seiner Einleitung unterstreicht der damalige Organisator und jetzige Herausgeber die immense Bedeutung der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in der UdSSR, denn diese resultierten in dem für das gesamte sowjetisch dominierte Machtsystem so einschneidenden Reformjahr 1989. Joachim Hösler charakterisiert anschließend die sowjetische Historiographie in ihrer Endphase. Die Fachwissenschaftler ließen im Gegensatz zu Filmemachern, Schriftstellern, Künstlern und Journalisten eine Vorreiterrolle bei der Dekonstruktion alter Mythen vermissen. Aufgezeigt werden nicht nur zentrale Themen, intellektuelle und gesellschaftliche Debatten, sondern auch die fortwährende Relevanz für das aktuelle Russland.

Die folgenden Länderstudien beginnen mit Osteuropa, das heißt mit den Staaten, die bis 1991 zur Sowjetunion gehörten. Dem gemäß verweisen die historischen Debatten in den einzelnen Gesellschaften primär auf den Umgang mit und die Erinnerung an die sowjetische Vergangenheit bzw. ihren Überbleibseln, sei es in Form von Denkmälern oder russischsprachigen (Groß-) Minderheiten im Lande. Karsten Brüggemann zeichnet zunächst die Entwicklung von Historiographie und öffentlicher Geschichtskultur Estlands seit der Unabhängigkeit nach, die vor allem unter dem Diktum „Rückkehr nach Europa“ versuchen, das Land westlich-europäisch zu verorten, und dessen leidvolle Emanzipation von der Sowjetvergangenheit darzustellen. Vor allem das Thema des Holocausts auf estnischem Territorium zeigt dabei einen wunden Punkt im kollektiven Gedächtnis auf. Ulrike von Hirschhausen skizziert die extreme nationale bzw. ethnische Polarisierung im postsowjetischen Lettland, die sich – wieder einmal – vor allem in Denkmalsdebatten widerspiegelt. „Seit der Zäsur von 1989 wurde die neuere Historiographie, wurden Gedenktage, Museen oder auch architektonische Entscheidungen ganz auf das kulturelle Gedächtnis der Letten zugeschnitten, symbolisierten mithin deren Auswahl an Erinnerung und dienten der Popularisierung deren Geschichtsbildes. Erinnerungen und Traditionsbestände der russischsprachigen Minderheit wurden hingegen marginalisiert, wozu auch die Organisationsschwäche dieses nur schwach integrierten Milieus mit beitrug.“ (S. 56) Für Litauen geht Alvydas Nikžentaitis auf denkmalspolitische Spurensuche. Eines der umstrittensten Produkte der aktuellen Vergangenheitsdarstellung ist dabei der Skulpturenpark von Grutas, wo ein findiger Geschäftsmann seit 2001 ausrangierte Denkmäler ehemaliger Sowjetheroen der Öffentlichkeit überwiegend als Happening und weniger unter geschichtspolitischen Aspekten präsentiert. Rainer Lindner setzt sich mit der Entwicklung der belarussischen Geschichtswissenschaft und ihrer beinahe unverändert streng legitimatorischen Dienstbarkeit für das herrschende Regime auseinander. Das Herrschaftssystem beweist hierbei nach wie vor eine erstaunliche Flexibilität: Wohl auch in Zukunft wird der Wechsel (außen-) politischer Prämissen mit veränderten Anforderungen an professionelle Historiker einhergehen. Wilfried Jilge schildert den Übergang von der sowjetischen Historiographie und Nationalitätenpolitik in der Ukraine zu einer kritischen Neubewertung der Sowjetgeschichte im Zuge der Perestrojka. Die verschiedenen Akteursgruppen einer nationalen Geschichtsinterpretation waren sich bei aller Themen- und Interessenvielfalt vor allem in der Abgrenzung vom als russische Fremdherrschaft definierten sowjetischen System einig. Angesichts schillernder regionaler Identitäten ist die Durchsetzung einheitlicher historischer Bewertungen aber vorerst nahezu unmöglich.

Thematisch folgen nunmehr die ostmitteleuropäischen Staaten. Ein hervorstechendes Merkmal war hier der bereits vor 1989 eingeleitete oder sogar vollzogene Wandel der gesellschaftlich-oppositionellen Geschichtskultur, der half, den Systemsturz vorzubereiten. Claudia Kraft widmet sich der polnischen Geschichtsschreibung, deren wichtigste Option in der Betonung des Jahrhunderte langen Widerstandes gegen fremdherrschaftliche Regime bestand. Hans Lemberg nimmt Bezug auf tschechische (und slowakische) Diskurse, die nach wie vor stark auf das Jahr 1968 sowie auf das Verhältnis zum deutschen Nachbarn fokussieren. Attila Póks Analyse der ungarischen Verhältnisse beweisen angesichts der neuesten politischen Ereignisse erstaunliche Aktualität. Symbole und Schlagworte wie das Jahr „1956“, „Trianon“ oder (Reichsverweser) „Horthy“ finden weiterhin als Wahlkampfmunition ihre konfrontative Verwendung. Alle drei Länder sind insbesondere mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg bzw. an die darauf folgende Sowjetisierung beschäftigt. Nicht zuletzt die politischen Bemühungen nach 1989, der EU rasch beizutreten, haben die öffentliche Agenda bezüglich historischer Themen in diesem Zeitraum entscheidend beeinflusst.

Für Südosteuropa ergibt sich die Notwendigkeit, nationale Narrative mitunter erstmals zu entwickeln, oder umfassend umzugestalten. Dabei werden häufig Bezüge zum 19. Jahrhundert oder zur Zwischenkriegszeit geknüpft. Iskra Iveljic führt in die kroatischen Verhältnisse ein, in denen die politische Führung nach der Unabhängigkeit Fachwissenschaftler, aber auch selbst ernannte Historiker drängte, der territorialen Heterogenität des Landes mit einer neuen Nationalepik zu begegnen, und die daher vor allem die Abgrenzung nach außen und die Betonung katholischer Exklusivität betrieb. Carl Bethke und Holm Sundhaussen setzen mit einem durchaus appellativen Beitrag zu den jugoslawischen Sezessionskriegen fort. Der allgegenwärtige Partisanenkult wich nach dem Zerfall der Föderation der Gegnersuche in der Vergangenheit, bei dem Historiker eine herausragende und unheilvolle Rolle einnahmen. „Das ehemalige Jugoslawien ist kein einzigartiges, aber ein besonders folgenreiches Lehrstück für die Umgestaltung der Gegenwart durch eine allgegenwärtig und zeitlos begriffene Vergangenheit.“ (S. 206) Markus Wien thematisiert aufgrund zurückliegender Wahlkämpfe das Verhältnis der Bulgaren zu einem potentiellen Revival der Zarenmonarchie. Bogdan Murgescu erschließt die nationalistische bzw. nationalkommunistische Herkunft vieler Geschichtsbilder in Rumänien und deren politische Instrumentalisierung über den Systemwechsel hinaus. Häufig kommt es dabei zur Konfrontation der verschiedenen historischen Betrachtungsweisen. Vasile Dumbrava referiert über den Differenzierungsprozess unter den Historikern der Republik Moldau Ende der 1980er-/Anfang der 1990er-Jahre und dessen Niederschlag in Geschichtswerken bzw. im Schulunterricht. Stefan Troebst analysiert die teilweise groteske Retorten-Geschichtspolitik der Republik Transnistrien, bevor Rainer Eckert den Band mit einer Forschungsbilanz zur DDR beschließt.

In fast allen Ländern Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa hat das Thema Geschichtspolitik nach wie vor eine enorme Bedeutung. Dies lässt sich nicht zuletzt an den beachtlichen Investitionen in historisch-öffentliche Prestigeprojekte und an der Herausgabe von Publikationen in Hochglanzformat ablesen. Alle Beiträge haben – auf unterschiedlichem Niveau – die Funktion von Geschichte, das heißt von widersprechenden Geschichtsbildern und „Gegenerinnerungen“, im politischen Wandlungsprozess der jeweiligen Staaten und Gesellschaften zum Betrachtungsgegenstand. Die Studien bieten in erster Linie Bestandsaufnahmen. Genauso heterogen wie die Untersuchungsobjekte erweisen sich die Beiträge, die wohl vorwiegend aus diesem Grund eine zentrale Systematik oder Einbettung vermissen lassen. Die Problematisierung aktueller historischer Debatten sowie deren politische Instrumentalisierung ist nicht allen Autoren rundum gelungen. Teilweise erscheint der Inhalt unvollständig oder veraltet, da neuere Literatur, spezielle Länderstudien 4 oder Übersetzungen 5 keine Berücksichtigung (mehr) fanden. Trotz dieser Defizite verhilft der Band dem Laien- wie Fachpublikum zu einem vertieften Einstieg in die Frage, wie in postsozialistischen europäischen Staaten die eigene Vergangenheit reflektiert wird.

Anmerkungen:
1 Siehe das Themenheft der Österreichischen Osthefte: Ivaniševic, Alojz u. a. (Hrsg.), Klio ohne Fesseln? Historiographie im östlichen Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, in: Österreichische Osthefte 44 (2002).
2 Knigge, Volkhard; Mählert, Ulrich (Hrsg.), Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa. Köln 2005.
3 Flacke, Monika (Hrsg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. 2 Bde, Mainz 2004.
4 z. B. Onken, Eva-Clarita, Demokratisierung der Geschichte in Lettland. Staatsbürgerliches Bewusstsein und Geschichtspolitik im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit, Hamburg 2003.
5 Boia, Lucian, Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft, Köln 2003.

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