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Titel
Das Zerwürfnis. Helmut Schmidt, Jimmy Carter und die Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen


Autor(en)
Wiegrefe, Klaus
Erschienen
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniela Münkel, Historisches Seminar, Leibniz-Universität Hannover

Als Bundeskanzler Gerhard Schröder im Wahlkampf 2002 auf dem Marktplatz von Goslar unter lautstarkem Beifall des Publikums die Irak-Kriegspläne der Bush-Regierung kategorisch ablehnte und einen „deutschen Weg“ propagierte, folgte eine Eiszeit in den deutsch-amerikanischen Beziehungen. Diese ernsthafte Krise zwischen den Bündnispartnern war nicht die erste in der Nachkriegsgeschichte. Nach vielen Jahren der außerordentlich stabilen deutsch-amerikanischen Beziehungen, die zwar nicht immer ganz spannungsfrei waren, aber doch auf einem Grundkonsens beruhten, hatte die transatlantische Allianz in der zweiten Amtszeit des SPD-Bundeskanzlers Helmut Schmidt eine bis dahin nicht gekannte Krise erlebt – die auch noch über den Regierungswechsel von 1982 hinausreichte. Die starken Differenzen zwischen der Regierung Schmidt und der Regierung Carter waren nach der außerordentlich harmonischen Phase während der Ford-Administration keine zwangsläufige Entwicklung, allerdings auch kein Zufall. Denn veränderte Rahmenbedingungen im letzten Drittel der 1970er-Jahre stellten die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit und damit auch die Regierungschefs und ihre Kabinette vor neue Herausforderungen.

Diesem Themenkomplex widmet sich die Berliner Dissertation des „Spiegel“-Redakteurs Klaus Wiegrefe. Im Mittelpunkt der Studie steht die Suche nach Gründen und Erklärungen für die Verschlechterung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses seit dem Regierungswechsel in den USA vom Republikaner Gerald Ford zum Demokraten Jimmy Carter im Januar 1977. Wiegrefe konzentriert sich dabei auf das Handeln der Spitzenpolitiker. Seine zentrale Frage lautet: Woraus erwuchsen die Gegensätze zwischen der Bundesrepublik und den USA, und warum konnten sie nicht hinter den Kulissen beigelegt werden? Den vordringlichen Beweggrund, diesen Problemlagen nachzugehen, sieht der Autor darin, „eine Lücke in der Forschung zu deutsch-amerikanischen Beziehungen zu schließen“ (S. 17) – denn aufgrund der Sperrfrist für Archivalien ist das Thema bislang nur politikwissenschaftlich bearbeitet worden.

Die Arbeit umfasst fünf Großkapitel – Grundlagen, der Fehlstart, Zerrüttung, Annäherung, Krise –, die wiederum in 13 Unterkapitel gegliedert sind. Wiegrefe ist es gelungen, zahlreiche bisher nicht ausgewertete Quellenbestände aus den USA und der Bundesrepublik für seine Untersuchung zu nutzen und der Forschung zugänglich zu machen: vor allem die Unterlagen von Helmut Schmidt und Jimmy Carter, zahlreiche andere Überlieferungen unterschiedlicher Provenienz wie Parteiakten, Kabinettsprotokolle, Notiz- und Tagebücher, ergänzt durch Zeitzeugeninterviews. Die Studie bietet eine detaillierte Rekonstruktion der Vorgänge auf politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Ebene. Und wie kaum anders zu erwarten, macht der Autor nicht singuläre Ereignisse und politische Kontroversen für die Differenzen verantwortlich, sondern ein ganzes Ursachenbündel.

Die Ergebnisse bieten viel Neues, nehmen aber auch Bekanntes wieder auf: Wiegrefe interpretiert die größte Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen zur Zeit des Kalten Krieges in der Langzeitperspektive seit 1945. In der Zeit von 1945 bis 1976 befand sich – trotz weitgehender Stabilität – die transatlantische Partnerschaft zwischen der Bundesrepublik und den USA im Wandel. Dies lag an beiden Seiten: zum einen an der Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik, die ihren Schwerpunkt in den 1960er-Jahren von Europa zunehmend nach Asien verlagerte – der Vietnamkrieg und die Diskussion um eine „Disengagement“-Politik sind als Beispiele zu nennen. Zum anderen hing es damit zusammen, dass sich die Bundesrepublik in den 1950er und 1960er-Jahren allmählich zu einer stabilen politischen und ökonomischen Mittelmacht entwickelte. Dies implizierte auch ein Bestreben nach Emanzipation von der Schutz- und Supermacht USA.

Derartige Bestrebungen waren bereits während der Großen Koalition im Gange und verstärkten sich in der Zeit der sozialliberalen Koalition vor dem Hintergrund der neuen Deutschland- und Ostpolitik. Zwar stand außer Frage, dass diese Politik nie ohne die Zustimmung der USA möglich und erfolgreich sein könne, und so wurden die entsprechenden Personen bzw. Stellen in den USA regelmäßig über den Fortgang der Verhandlungen mit der Sowjetunion, Polen usw. informiert. Doch wurden die jeweiligen Schritte nicht einzeln vorher abgesprochen. Aus dem einstigen Juniorpartner wollte ein möglichst gleichberechtigter Partner werden – was überwiegend auch gelang. Mit den persönlichen Beziehungen zwischen Nixon und Brandt sowie Kissinger und Bahr war es allerdings nicht besonders gut bestellt.

Wiegrefe macht für die 1970er-Jahre weitere asymmetrische Entwicklungen aus, die das bilaterale Verhältnis zwischen den USA und der Bundesrepublik belasteten: etwa die Ölpreisschocks von 1973 und 1979, die in den USA nachhaltigere negative Auswirkungen hatten als in der Bundesrepublik. Auch die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen auf dem Gebiet des Exportes hatten eine andere Prioritätensetzung der beiden Staaten zur Folge. Hinzu kamen innenpolitische Problemlagen, die in den USA als Auswirkung des Vietnamkrieges zu gesellschaftspolitischen „Umschichtungen“ führten – besonders im Hinblick auf die Parteienpräferenzen und Wählerkonstellationen. In der Bundesrepublik war die zweite Hälfte der 1970er-Jahre hingegen durch Pessimismus, Angst und Verunsicherung gekennzeichnet, besonders wegen der terroristischen Aktivitäten der RAF. Diese Situation führte auch dazu, dass die Bundesregierung bereit war, ihre politischen Haltungen vergleichsweise kurzfristig zu überdenken und gegebenenfalls zu korrigieren. Dies stieß beim amerikanischen Bündnispartner auf Unverständnis und ließ den Eindruck von Unzuverlässigkeit aufkommen – wie sich am Beispiel der Neutronenbombe und des NATO-Doppelbeschlusses zu bestätigen schien. Außerdem kam das Wiederaufleben eines in der Bundesrepublik latent vorhandenen Antiamerikanismus in den USA nicht besonders gut an.

Ein weiteres Problemfeld sieht Wiegrefe im Selbstverständnis der Bundesregierung: Das im Bundestagswahlkampf der SPD im Jahr 1976 propagierte Motto vom „Modell Deutschland“ sollte zum Programm werden. Aus den Erfolgen auf wirtschaftlichem Gebiet sowie bei der Entspannungspolitik leitete man eine Allgemeingültigkeit für ganz Europa ab – was in den USA zunehmend irritiert zur Kenntnis genommen wurde. Nicht selten kam es auch zu Missverständnissen, weil die US-Regierung über die innenpolitischen Verhältnisse in der Bundesrepublik unzureichend informiert war oder die Informationen falsch einordnete.

Vor dem Hintergrund dieser Problemlagen interpretiert Wiegrefe die Krise seit 1977 als Höhepunkt einer längeren Entwicklungsphase – und eben nicht als „Betriebsunfall“. Diese Feststellung, die zunächst wenig überraschend erscheint, ist bisher in der Forschung nie so dezidiert vertreten worden, was der Autor darauf zurückführt, dass „die deutsch-amerikanischen Beziehungen in den Nachkriegsjahrzehnten bis heute […] verklärt“ würden (S. 393). Wie von einem Journalisten nicht anders zu erwarten, ist das Buch außerordentlich gut lesbar und spannend geschrieben. Methodisch lässt sich allerdings nichts Neues entdecken: Hier bewegt sich Wiegrefe auf den ausgetretenen Pfaden der traditionellen Politikgeschichte, obwohl sein Thema für Vertiefungen in Richtung Wahrnehmungs-, Mentalitäts-, Kommunikations- und Mediengeschichte viele Möglichkeiten geboten hätte. Dennoch handelt es sich um ein wichtiges Buch für die Geschichte und Gegenwart der deutsch-amerikanischen Beziehungen.

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