G. Bock (Hrsg.): Genozid und Geschlecht

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Titel
Genozid und Geschlecht. Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem


Herausgeber
Bock, Gisela
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karin Orth, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Der von Gisela Bock herausgegebene und eingeleitete Sammelband „Genozid und Geschlecht. Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem“ geht auf eine von ihr organisierte Tagung zurück, die im Oktober 2003 am Friedrich-Meinecke-Institut (FMI) der Freien Universität Berlin im Rahmen des Forschungsprojektes „Victims, victimizers and survivors: a multidisciplinary research on Jewish women in the concentration camp of Ravensbrück and their environment“ stattgefunden hat. Der Band zeichnet sich zunächst durch die internationale Zusammensetzung der Autor/innen sowie durch den interdisziplinären Ansatz aus: Die Beiträger/innen stammen aus Deutschland, England, Israel, Irland und der Tschechischen Republik; sie vertreten die Geschichts-, Literatur- und Politikwissenschaft sowie die Soziologie. Sechs Autor/innen stellen Forschungsergebnisse vor, die sie im Rahmen des oben genannten Projektes erarbeitet haben, und drei Autor/innen fassen die Ergebnisse bereits publizierter oder bald erscheinender Monographien zusammen.

Der Band führt zwei Forschungsstränge zusammen, die in den letzten rund 20 Jahren große Fortschritte verzeichnen konnten: die Geschlechterforschung und die NS-Forschung. Lange Zeit bestanden, zumindest in der Bundesrepublik, zwischen beiden Richtungen wenig oder keine Verbindungen. Denn die Geschlechtergeschichte entstammt ursprünglich der feministisch inspirierten Frauengeschichtsschreibung, die vor allem außerhalb der universitären Geschichtswissenschaft entwickelt wurde und an diese geradezu apodiktisch die Forderung herantrug, dass die theoretischen und methodischen Ansätze der Frauengeschichte in jeder historischen Untersuchung verbindlich anzuwenden seien. Studien, die in jenem Umfeld selbst entstanden, blieben manchesmal der eigenen Ideologie verhaftet, fast immer aber wurden sie von der etablierten Zunft ignoriert. Die universitäre bundesdeutsche Geschichtswissenschaft wies die Forderungen der Frauengeschichte im Wesentlichen zurück, eben weil hier ein Paradigmenwechsel gefordert wurde, den man so nicht mittragen konnte oder wollte.
Erst allmählich wichen die Grabenkriege einer Annäherung, bedingt durch die Professionalisierung der Frauen- zur Geschlechtergeschichte einerseits und durch ein Umdenken innerhalb der universitären Geschichtswissenschaft nach dem „cultural turn“ andererseits. Dieser ermöglichte die Wahrnehmung und Wertschätzung der methodischen Innovation und der empirischen Erträge der Geschlechtergeschichte. Im vorliegenden Sammelband ist von all dem nichts zu lesen. Wie selbstverständlich benutzen die Autor/innen vielmehr das theoretisch-methodische Instrumentarium der Geschlechtergeschichte als eine Analysekategorie unter anderen, um ihren Forschungsgegenstand zu untersuchen. Zentrale Fragen der Geschlechtergeschichte und ebenso der NS-Geschichte können nun gleichsam ohne ideologischen Filter gestellt und untersucht werden – zum Nutzen der Geschlechtergeschichte wie der NS-Geschichte gleichermaßen.

Der Tagungsband präsentiert Antworten auf die für die NS-Forschung wie für die Geschlechterforschung zentrale Frage nach den Leidenserfahrungen jüdischer Frauen im Nationalsozialismus. Diese Frage wurde vor mehr als 20 Jahren erstmals im Rahmen einer Tagung gestellt, 1983 in New York. Es ging damals wie heute darum, das Lager und die Lagererfahrung geschlechtsspezifisch zu untersuchen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass auch oder gerade unter den Bedingungen der „absoluten Macht“ (Wolfgang Sofsky) Geschlecht ebenso wie Religion oder Alter einen entscheidenden Einfluss auf die Haft- bzw. Sterbebedingungen haben konnte. Schwangere (jüdische) Frauen hatten, um dies an einem Beispiel deutlich zu machen, so gut wie keine Chance, das Lager zu überleben.

Etwa die Hälfte der Aufsätze des Sammelbandes legt den Schwerpunkt auf die Rekonstruktion eines bestimmten Aspektes der (sehr verschiedenen) Lagererfahrungen von jüdischen weiblichen Häftlingen. Diese resultierten nicht zuletzt aus den höchst unterschiedlichen Lagertypen wie KZ-Stammlager (Beitrag Linde Apel über das KZ Ravensbrück), KZ-Außenlager (Beitrag Irmgard Seidel über die Frauenaußenlager des KZ Buchenwald sowie Beitrag Hans Ellger über diejenigen des KZ Neuengamme), Ghettolager (Beitrag Anna Hájková über Theresienstadt) oder Vernichtungslager (Beitrag Na´ama Shik über Auschwitz-Birkenau). Die zweite Hälfte der Aufsätze stellt die Zeugnisse der überlebenden jüdischen Frauen selbst in den Mittelpunkt der Analyse. Hier werden bislang unbekannte oder unbeachtete Quellen interpretiert (Beiträge Jane Caplan, Ronit Lentin, Christa Schikorra, Sabine Kittel, Anna Herzog/Adi Efrat) oder nach der Repräsentation bestimmter Aspekte der Lagererfahrung (Beitrag Constanze Jaiser über Sexualität und Gewalt; Beitrag Hanna Herzog/Adi Efrat über die Solidargruppe der griechisch-jüdischen Frauen des „Kanadakommandos“; Beitrag Irith Dublon-Knebel über die Erinnerungen jüdischer Frauen an die Aufseherin Danz) bzw. der weiblichen Erfahrung in Auschwitz-Birkenau (Beitrag Na´ama Shik) gefragt.

Die Beiträge tragen eine Fülle neuer Informationen zur Verfolgungssituation jüdischer Frauen zusammen. Zwei Aspekte bleiben unberücksichtigt. Zum einen werden diejenigen NS-Lager nicht untersucht, in denen die meisten Juden gefangenen gehalten und ermordet wurden. Zu nennen sind insbesondere die Vernichtungsstätten der Aktion Reinhardt wie Treblinka oder Sobibor, die zahlreichen Ghettos, Zwangsarbeits- und Arbeitserziehungslager in den besetzten Gebieten im Osten, die KZ Majdanek, Riga-Kaiserwald, Kaunas, Vaivara und Plaszow. In Anbetracht des Titels – Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem – hätte man jedoch erwartet, dass insbesondere diejenigen Lagertypen untersucht werden, in denen die Mehrzahl der Juden inhaftiert waren und getötet wurden. Zum zweiten fehlt eine vergleichende Perspektive, die die Erfahrungen von weiblichen Gefangenen mit denen der männlichen in Beziehung setzt. Sind die für sich genommen interessanten (wenn auch nicht immer neuen) Befunde spezifisch nur für weibliche Gefangene oder nicht auch für männliche Häftlinge anzutreffen? – so etwa die Existenz von sozialen Netzwerken über lange Zeiträume (S. 91f.), das Erleiden sexueller Gewalt durch SS und Mithäftlinge (S. 130f.) oder der Versuch der Überlebenden, das erlittene Trauma durch eine stark familiäre Orientierung zu mildern (S. 236f., 254). Zudem: Sind die niedrigen Sterberaten in den Frauenaußenlagern des KZ Neuengamme tatsächlich vorwiegend durch die Sozialisation der weiblichen Insassen zu erklären (S. 176f., 181)? Diese Fragen werden letztendlich nur durch Studien zu beantworten sein, welche die Verfolgungserfahrungen von Männern und Frauen systematisch vergleichen. Die Beiträge des Sammelbandes liefern dazu einen wichtigen Baustein, indem sie die lange Zeit ausgeblendeten Erfahrungen der weiblichen Gefangenen detail- und kenntnisreich rekonstruieren.

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