P. Haustein u.a. (Hrsg.): Instrumentalisierung

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Titel
Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung. Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. 1945 bis heute


Herausgeber
Haustein, Petra; Kaminsky, Annette; Knigge, Volkhard;
Erschienen
Göttingen 2006: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
309 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Bade, Berlin

Der Sammelband stellt die Ergebnisse einer im Juni 2005 von der Gedenkstätte Buchenwald und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur veranstalteten Tagung vor. 1 In 14 Aufsätzen wird die wechselvolle Geschichte der gesellschaftlichen Wahrnehmung der sowjetischen Speziallager von 1945 bis heute entfaltet. Laut Klappentext handelt es sich um ein „Plädoyer für einen differenzierten, forschungsgestützten Umgang mit diesem komplexen Thema“. Um es vorwegzunehmen: Dieser Anspruch wird überzeugend erfüllt.

Nach dem Ende der DDR begann zunächst die politische, dann die wissenschaftliche Aufarbeitung eines Themas, das im Osten beschwiegen und im Westen im Laufe der Jahrzehnte vergessen worden war: die Geschichte der sowjetischen Speziallager an der Schnittstelle von alliierter Entnazifizierung und stalinistischer Herrschaftsdurchsetzung. Ab 1990 ist eine hoch emotionalisierte, in abgeschwächter Form bis heute andauernde öffentliche Debatte um die historische Deutung dieser Lager geführt worden. Dass einige Speziallager auf dem früheren Gelände nationalsozialistischer Konzentrationslager errichtet wurden, machte die Diskussion noch vielschichtiger: Die so genannte „doppelte Vergangenheit“ zeigt, dass die Auseinandersetzung um die Speziallager immer auch eine Debatte um die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit war und ist. Kern der Auseinandersetzung waren gegensätzliche Deutungen von Charakter und Funktion der Lager: Während die eine Seite behauptete, in den Speziallagern seien ausschließlich NS- und Kriegsverbrecher inhaftiert gewesen, hat es nach Meinung der anderen Seite kaum Nationalsozialisten in den Lagern gegeben, da es der sowjetischen Besatzungsmacht vor allem um die Ausschaltung jeglicher Opposition gegangen sei; die Verhaftungen seien völlig willkürlich gewesen. Mittlerweile hat die Geschichtswissenschaft beide Seiten in ihrer Ausschließlichkeit widerlegt – unter anderem insofern, als man von einem Funktionswandel der Speziallager zwischen 1945 und 1950 ausgeht.2

Das Buch schlägt einen Bogen von der publizistischen Betrachtung der Speziallager seit ihrer Einrichtung bis hin zu den Perspektiven der Gedenkstättenarbeit in der Zukunft. Einige übergreifende Aufsätze durchbrechen dabei die Chronologie. Zunächst wird die publizistische und filmische Wahrnehmung der Speziallager thematisiert (Wolfram von Scheliha, Wolfgang Buschfort, Karl Wilhelm Fricke, Günter Agde). Dabei nehmen die Autoren die unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema in den 1940er und 1950er-Jahren in Ost und West in den Blick. In einem zweiten Schritt beschäftigen sich die Autoren mit der (west)deutschen Erinnerungspolitik, die in Bezug zur Erinnerung an die Speziallager gesetzt wird (Norbert Frei, Christian Schneider, Alexander von Plato). Dabei geht es um die verdrängte Erinnerung an die Speziallager sowie um die Entstehung der Konkurrenzen zwischen Opfern der NS-Diktatur und der sowjetischen Speziallager. Danach werden aktuelle Entwicklungen und Kontroversen um die Erinnerung an die Speziallager aufgegriffen und unter verschiedenen Aspekten diskutiert (Bettina Greiner, Petra Haustein, Annette Kaminsky, Ines Reich). Schließlich präsentieren Gedenkstättenexperten eine Bilanz der bisherigen wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte der Speziallager (Bodo Ritscher) sowie Perspektiven für die europäischen und deutschen Erinnerungskulturen (Bernd Faulenbach, Volkhard Knigge).

Einige Aspekte wiederholen sich in verschiedenen Beiträgen. Dies muss nicht unbedingt als Redundanz interpretiert werden, da es auch zeigt, dass die Autoren aufeinander Bezug nehmen, statt lediglich ihre Beiträge im Sammelband hintereinander zu gruppieren. Besonders der generationengeschichtliche Ansatz erscheint für die Freilegung der Erinnerungsschichten recht viel versprechend und taucht in unterschiedlicher Ausprägung auf. Christian Schneider versucht in seinem Beitrag zu erklären, warum die (westdeutsche) Generation der „68er“ – zu der er sich selbst zählt – der Speziallagerthematik teilweise wenig aufgeschlossen ist. Er argumentiert, diese Generation habe sich im Holocaust ein „Generationsobjekt“ gesucht (S. 89) und neige daher zu Misstrauen gegenüber ehemaligen Häftlingen der Speziallager. Allerdings überspitzt er bisweilen etwas – beispielsweise wenn er sagt, für die „68er-Generation“ sei „die Singularitätsthese letztlich die Projektion des erschlichenen Leidensmonopols der Nachgeborenen auf die Geschichte. Entfiele sie, würde die zweite Generation ihren Identitätskern einbüßen.“ (S. 98) An anderer Stelle spricht er von einer „hysterischen Identifikation mit den Ermordeten“ (S. 94) – dies alles klingt dann doch ein wenig selbstmitleidig. Letztendlich spielen die Speziallager-Überlebenden, für die Schneider eigentlich um Empathie werben will, bei ihm kaum mehr eine Rolle.

Die anderen Autoren zeichnen sich glücklicherweise nicht durch Hysterie aus, sondern durch Differenziertheit. Dies gilt für die sehr lesenswerten Beiträge von Autorinnen und Autoren der jüngeren Generation (von Scheliha, Buschfort, Greiner, Haustein, Reich). Von Scheliha zeigt durch seine Analysen der Presseberichterstattung, dass bis zum Mauerbau in der westdeutschen Presse – vor allem in West-Berlin – tatsächlich recht häufig über die Speziallager berichtet wurde. Allerdings wurden die Lager in der öffentlichen Auseinandersetzung häufig politisch für den Kalten Krieg instrumentalisiert.3 Haustein interviewte Vertreter verschiedener Opferverbände sowie Gedenkstättenexperten, um deren Haltungen in den Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nachzuvollziehen.4 Dabei kann sie belegen, wie sehr die unterschiedlichen Grundüberzeugungen und Ziele der Überlebenden und der Gedenkstättenexperten einen wirklichen Konsens über die angemessene Erinnerung erschweren. Man müsse daher akzeptieren, dass es weiterhin einen gewissen Dissens geben werde. Greiner dagegen untersucht Selbstzeugnisse von Speziallager-Opfern und stellt dabei fest, dass diese oft durch Erzähl-Bilder geprägt sind, die aus Erzählungen von NS-Opfern bekannt sind. Sicher ist es richtig, dass manche Betroffene gezwungen sind, Erinnerungen in eine Form zu übersetzen, die von den Rezipienten auch verstanden wird (S. 132). Mit Blick auf Hausteins Erkenntnisse über die zugrunde liegenden Wertvorstellungen wäre aber einzuwenden, dass es – zumindest für die Erinnerungskultur – eben doch einen Unterschied macht, ob die Verwendung dieser „Wechselrahmen“ bewusst oder unbewusst geschieht.

Schließlich werden noch die Gedenkstätten angesprochen, für deren Arbeit Ritscher eine „wirkungsvolle Koordination“ vorschlägt (S. 189). Dem ist voll und ganz zuzustimmen, obgleich etwa der unterschiedliche Grad der Forschungs- und Vermittlungsarbeit dies zunächst noch verhindert. In ihrer „vergleichenden Betrachtung“ der bisherigen Speziallagerausstellungen ruft Annette Kaminsky in Erinnerung, dass alle Gedenkstätten zur Vorbereitung dieser Ausstellungen erst selbst einen Forschungsstand erarbeiten mussten. Im Vergleich sei spürbar, dass „die Sicherheit bei den Formulierungen über den Charakter der Lager“ zunehme, je später die Ausstellungen konzipiert worden seien (S. 162). Insgesamt betont Kaminsky eher die Gemeinsamkeiten der Ausstellungen als die Unterschiede. Deutlicher wird Volkhard Knigge in seinem Beitrag „Zweifacher Schmerz“. Für ihn liegt die „eigentliche Herausforderung der Erinnerung an die Speziallager […] im Umgang mit dem Fußvolk nationalsozialistischer Funktionsträger, ohne das der Nationalsozialismus als System nicht hätte funktionieren können“ (S. 259). Dabei will er nicht darauf hinaus, dass die Speziallager-Opfer fortwährend ihre eigene Rolle während des Nationalsozialismus reflektieren sollen. Gemeint ist vielmehr, dass in einer Gedenkstättenarbeit, die ihre kritische und aufklärerische Seite ernst nehmen will, weder verharmlost noch nivelliert noch „falsche Analogien“ gezogen werden dürften. Anders formuliert: „Die Würdigung der Opfer in ihrem Opferdasein und ihrer Leiderfahrung ist nicht auf die Ausblendung von Geschichte angewiesen.“ (S. 263) Knigges Plädoyer ist somit als Quintessenz des gesamten Buches zu verstehen: Konkretion, Mehrschichtigkeit und Ambivalenz sollten „nicht als Last, sondern als Herausforderung und Chance“ begriffen werden (S. 264).

Anmerkungen:
1 Siehe das Programm unter: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=4072>.
2 Vgl. z.B.: Jeske, Natalja; Morré, Jörg, Die Inhaftierung von Tribunalverurteilten in der SBZ, in: Hilger, Andreas; Schmeitzner, Mike; Schmidt, Ute (Hrsg.), Sowjetische Militärtribunale. Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945-1955, Bd. 2, Köln 2003, S. 601-661.
3 Vgl. auch: Scheliha, Wolfram von, Sackgasse Totalitarismus. Die Forderung nach einem Gedenken an die sowjetischen Speziallager im Zeichen des Totalitarismus führt ins gedenkpolitische Abseits, in: Deutschland Archiv 39 (2006), S. 283-290.
4 Vgl. dazu die Dissertation: Haustein, Petra, Geschichte im Dissens. Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR, Leipzig 2006.

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