Titel
Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849-1914)


Autor(en)
Hitzer, Bettina
Reihe
Industrielle Welt 70
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
446 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Ayaß, Fachbereich 4, Universität Kassel, Arbeitsstelle der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz)

Berlin – die Metropole. Hunderttausende mehr oder weniger mittellose Menschen strömten im 19. Jahrhundert in die größte Stadt Deutschlands. Viele blieben, andere reisten weiter. Diese (Zu)wanderer, meist recht junge Frauen und Männer, sind Thema der bei Ute Frevert an der Bielefelder Fakultät für Geschichtswissenschaft entstandenen Dissertation. Untersucht wird das spannungsreiche Verhältnis der in der Regel aus Brandenburg bzw. den östlichen Provinzen neu nach Berlin Gekommenen zu den unterschiedlichen Hilfsorganisationen des protestantischen Spektrums.

Die Quellenlage für die Studie war nicht einfach. Eine auch nur halbwegs geschlossene Überlieferung der zahlreichen Hilfevereine und deren Einrichtungen war selten vorhanden. Doch boten die verschiedenen Berliner Archive vielfältigen Ersatz, allen voran das Archiv und die Bibliothek des Diakonischen Werks. Eine wichtige nichtarchivalische Quelle waren die Jahresberichte der Vereine.

Mit viel Geschick zeichnet die Autorin die Erfahrungen der Zuwanderer nach. Sie lässt diese (und ihre Leser) am Bahnhof ankommen und taucht mit ihnen ein in die Großstadt mit ihren Verlockungen und Gefahren. So weit nur irgend möglich versucht Hitzer, die Lebenswelt der Zuwanderer zu schildern, was natürlich schwierig ist, denn Selbstzeugnisse sind rar und die übergroße Mehrzahl der einschlägigen Quellen sind aus der Sicht der (Laien-)Helfer geschrieben.

Die Berliner Bahnhöfe waren das Tor zwischen Land und Stadt. Hier machten die Zuwanderer ihre erste Großstadterfahrung, und bereits am Bahnhof setzte auch die protestantische Hilfstätigkeit ein. Hitzer schildert eingehend die Entstehung der Berliner Bahnhofsmission. Zielgruppe heutiger Bahnhofsmissionsarbeit sind alle Reisenden, doch das war ursprünglich ganz anders. Die Bahnhofsmission entstand bereits vor Gründung des Kaiserreichs als spezifisches Hilfeangebot für die an den vierteljährlichen „Ziehtagen“ ankommenden Dienstmädchen, die vor unseriösen Stellenvermittlern und noch Schlimmerem geschützt werden sollten. Man hielt die Dienstmädchen gerade im Augenblick des Übergangs vom geschützten Landleben in die Familie des neuen Arbeitgebers für überaus gefährdet. Die Frauen der Bahnhofsmission verteilten belehrende Handzettel, bisweilen fuhren sie sogar schon in den Zügen mit, um die Mädchen vom ersten bis zum letzten Moment ihrer Reise zu kontrollieren und zu schützen.

Daneben entstand bald ein Netz von Herbergen und (Ledigen-) Heimen für die angereisten Frauen und Männer, die diesen eine „Heimat“ bieten sollten. Für die Dienstmädchen schuf man mehrere Heime, in denen – vorübergehende – Stellungslosigkeit überbrückt werden konnte. Für Handwerksgesellen und Wanderarbeiter entstanden „Herbergen zur Heimat“. „Heimat“ – so die Autorin – war, irdisch und ewig zugleich, eine zentrale Kategorie der fürsorgerischen Tätigkeit der Inneren Mission (S. 401). Hitzer zeigt, wie schwer sich die protestantische Fürsorgetätigkeit tat, ein schlüssiges Erziehungsmodell zu finden. Man wollte durch strenge Hausordnungen erzieherisch wirksam werden und die Bewohner von den Zerstreuungen des Großstadtlebens fernhalten, aber gerade dies schreckte die Zuwanderer dann eher ab. Eingehend analysiert Hitzer das ambivalente Verhältnis der Inneren Mission zum großstädtischen Leben, das man einerseits als eine wesentliche Ursache der Entchristlichung der Massen sah, andererseits aber nicht allzu sehr ablehnen durfte, wollte man überhaupt Zugang zu den als vergnügungssüchtig eingeschätzten jungen Menschen finden. Umstritten blieb zudem, inwieweit der christliche Charakter der Heime den Bewohnern aufgezwungen werden sollte, etwa durch die Pflicht zur Teilnahme an Gottesdiensten.

Die Metropole Berlin galt vielen in der Inneren Mission Tätigen als Magnet, der zur Entwurzelung gerade religiös wie moralisch ungefestigter Menschen beitrug, die dann den Gefahren der Großstadt ungeschützt ausgeliefert wären. Allerdings trugen die Beteiligten nicht unwesentlich dazu bei, diese Gefahren tüchtig zu übertreiben. Es entstand ein maßlos übertriebenes öffentliches Hysteriebild eines dunklen Untergrunds mit internationalen Mädchenhändlern, wohlorganisierten Zuhälterringen und geheimen Bettlerorganisationen. Auf der anderen Seite schätzte man paternalistisch die Selbsthilfekräfte der Zugereisten notorisch als äußerst gering ein. Den jungen Frauen drohte in dieser Sicht ohne Hilfe fast zwangsläufig das Absinken in die Prostitution, den jungen Männern Obdachlosigkeit und Kriminalität.

Das von der protestantischen Kirche in Berlin entwickelte „Netz der Liebe“ war keineswegs zentral organisiert. Es bestanden eine Vielzahl von formal selbständigen Organisationen. Letztlich wird in der Studie die Geschichte einer ganzen Reihe von protestantischen Berliner Vereinen und Institutionen aufgearbeitet, die jeweils ihre eigene Konzeption bzw. Zielgruppe hatten. Hitzer beschreibt unter anderem die Bahnhofsmission und die Dienstmädchenherbergen, aber auch die Organisationen und Heime für „gefallene Mädchen“. Hinsichtlich der Obdachlosen und „Wanderer“ schildert sie die Tätigkeit der Herbergsvereine und die Entstehung der außerhalb Berlins liegenden Arbeiterkolonie Hoffnungstal. Hinzu kommt die jugendbezogene Tätigkeit der Mädchen- und Jünglingsvereine und des CVJMs. Der Berliner Stadtmission ist ein langes Kapitel gewidmet.

An vielen Stellen der Studie wird deutlich, wie begrenzt der „Zugriff“ der verschiedenen Vereine auf das jeweilige Klientel war. Der weitaus größte Teil der Zuwanderer pfiff auf die bevormundende Betreuung missionierender Damen und Herren. Insbesondere gelang es den Hilfevereinen kaum, Fabrikarbeiter und Fabrikarbeiterinnen zu erreichen. Dies war besonders schmerzlich, da man gerade hier die politisch wie religiös größten Gefährdungen vermutete. Die Einrichtungen der Inneren Mission scheinen wohl in erster Linie für diejenigen attraktiv gewesen zu sein, die der Kirche ohnehin nahestanden.

Insgesamt hat Bettina Hitzer eine spannende, gut lesbare Studie vorgelegt, die für die Forschung über die Geschichte der freien Wohlfahrtspflege, insbesondere der Inneren Mission und der protestantischen Jugendarbeit, aber auch für die Stadtgeschichte Berlins wichtige Impulse setzt.

Leider verfügt das Buch weder über ein Sach- noch über ein Personenregister. Da in der Studie Aktivisten und Förderer der verschiedenen Wohlfahrtsorganisationen dutzendfach erwähnt werden, wäre insbesondere ein Personenregister angemessen gewesen.