M. Kaplan u.a. (Hrsg.): Jüdische Welten

Cover
Titel
Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart


Herausgeber
Kaplan, Marion; Meyer, Beate
Reihe
Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 27
Erschienen
Göttingen 2005: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
492 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kurt Schilde, Fachbereich 2, Universität Siegen

Monika Richarz ist eine Pionierin der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung. Die 1937 in Berlin geborene Tochter von Mitläufern des NS-Regimes – so ihre eigene Charakterisierung im Rückblick – pflegte ihren Gesprächspartnern und -partnerinnen gern zu erklären, dass die jüdische Geschichte weit mehr umfasst als "Auschwitz" – eben jüdische Welten. So erforscht sie die Lebens-, Wohn- und Arbeitsbedingungen von Juden und Jüdinnen auf dem Lande. In ihrer 1969 abgeschlossenen Dissertation "Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe" untersucht sie die Anfänge des jüdischen Bemühens um Integration in die Mehrheitsgesellschaft (1678-1848). Sie nimmt an Frauen- und Pfingstuniversitäten teil und lebt in einer Wohngemeinschaft. "Die Sozialisation in der Kommunikations- und Vernetzungskultur der alternativen Bewegungen und insbesondere der Frauenbewegung prägte Monika Richarz' weiteres berufliches Leben stark." (S. 14) Sie ist eine international anerkannte Wissenschaftlerin, was Beate Meyer in "Statt einer Laudatio" der ihr gewidmeten Festschrift kompetent beschreibt. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen gehört weiterhin das dreibändige "Jüdische Leben in Deutschland" (1976-1982), ediert nach der Memoirensammlung des Leo Baeck Institute in New York. Sie leitet zehn Jahre die 1959 gegründete Bibliothek zur Geschichte des Judentums "Germania Judaica" in Köln, ist Gastdozentin an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg und an der Universität in Zürich. Seit 1993 leitet sie das Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg und wird an der Universität Hamburg zur Professorin ernannt. Nun befindet sich Monika Richarz im "forschenden Ruhestand".

In ihrem Leben – als Studentin, Forscherin, Institutsdirektorin – ist sie vielen Menschen begegnet und hat diese beeinflusst. Mit der Festschrift geben sie ihren Dank kund. Die deutsch- und englischsprachigen Beiträge ihrer Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde haben Beate Meyer und Marion Kaplan (New York) "ihren Themen" zugeordnet.

Zu "Juden auf dem Lande" schreiben Steven M. Lovenstein (Changing housing conditions in 19th Century), Robert Liberles (18th Century Dispute between Rural and Urban Jews") und Stefi Jersch-Wenzel (jüdische Landwirte um 1800 in Ostpreußen). Dann geht es um "Weiblichkeit und Männlichkeit" mit Texten von Deborah Herz (Jewish Masculinity in the Era of Napoleon), Marion Kaplan (Courtship of Hendele and Jochanan 1803) und Andreas Brähmer (Jüdische Frauen im preußischen Schulwesen). Ihre Nachfolgerin als Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden Stefanie Schüler-Springorum untersucht die Geschlechterbeziehungen in der deutsch-jüdischen Jugendbewegung am Beispiel des ‚Deutsch-jüdischen Wanderbundes Kameraden’. Nur hier wurde die ‚Mädelfrage’ ausgiebig diskutiert, allerdings "zunächst nur unter den Jungen" (S. 140). Es bildeten sich Mädchengruppen, von denen es 1928 bereits 49 gibt. Ihnen stehen 96 Jungen- und 15 gemischte Gruppen gegenüber. Nach der Auflösung der ‚Kameraden’ formieren sich drei Richtungen: das männerbündische ‚Schwarze Fähnlein’, die sich bewusst dem Judentum zuwendenden ‚Werkleute’ und die eine sozialistische Gesellschaftsutopie vertretende ‚Freie Deutsch-Jüdische Jugend’. Hier wurde ein relativ hohes Maß an Gleichberechtigung praktiziert, was sich an selbstsicheren, aktiven und engagierten Mädchen zeigte – ein historisches Novum vor 1933.

In der Rubrik "Biographische Miniaturen" sind Texte von Robert Jütte (Moses Mendelssohn), Daniel Jütte/Anat Feinberg (Edmund Singer, Violinvirtuose), Michael A. Meyer (Heinrich Zirndorf, Rabbiner), Hermann Simon (N.O. Body, d.i. der als Mädchen aufgewachsene Karl M. Baer), Konrad Kwiet (Bully Salem Schott, Boxer) und Avraham Barkai (Otto Busse, ‚Gerechter’) versammelt. Es schließt sich das Thema "Der Holocaust und seine Folgen" an: Mitchell G. Ash untersucht "Learning from Persecution", Walter Bacharach den Holocaust aus Opfersicht, Henry Friedländer "Extra-legal Decisions" in Nazi Germany, Atina Grossmann "Jewish Identity and Memory in Occupied Berlin" und Ina Lorenz die Geschichte eines Heims für jüdische Waisen in Hamburg-Blankenese (1946-1948).

Im letzten Abschnitt werden "Erinnerungskultur und Historiographie" thematisiert. Hier stellt Frank Bajohr die Hamburger Volkssänger ‚Gebrüder Wolf’ vor, deren Couplet "An de Eck steiht'n Jung mit'n Tüdelband" unter den populären plattdeutschen Liedern in der Hansestadt bis heute den Spitzenplatz einnimmt. Aber so bekannt der Song ist, so wenig ist über die Ursprünge des Liedes und die Geschichte seines Verfassers bekannt: Ludwig Isaac (1867-1955) trat mit seinen Brüdern Leopold und James seit 1895 als ‚Wolf-Trio’ und ab 1906 nur noch mit Leopold Isaac (1869-1926) als ‚Gebrüder Wolf’ auf. Er nahm 1924 den Künstlernamen als Familiennamen an. Die Wolfs waren deutsch-national und sangen, was bei ihrem Publikum gut ankam – auch von ‚Schacherjuden’ und ‚Börsenjuden’. In der NS-Zeit musste Ludwig Wolf aus seiner Wohnung in ein Haus für ‚privilegierte Mischehen’ umziehen – zu diesem Zeitpunkt waren seine Geschwister und zahlreiche weitere Familienangehörige bereits deportiert und ermordet. Bajohr kommt abschließend zu der Feststellung, dass die "spezifische Tragik", als deutsche Nationalisten ausgerechnet durch die national-sozialistische Bewegung ausgegrenzt und verfolgt worden zu sein, nach 1945 "schlichtweg unterschlagen" (S. 394) wird. Diese "dezenten Aussparungen" sind der Regelfall des öffentlichen Umgangs mit der deutsch-jüdischen Vergangenheit.

Die weiteren Beiträge stammen von Yfaat Weiss (Identität und Wahrnehmung), Sabine Offe (über eine Ausstellung mit deutsch-jüdischer Geschichte), Sibylle Quack (die neuen Cora-Berliner-, Gertrud-Kolmar- und Hannah-Arendt-Strassen in Berlin), Arnold Paucker (Historiographie of Jewish Self-Defense and Resistance) und Shulamith Volkov (Double Perspective of Jews and Germans in the History of National Socialism).

In dem Band ist die Crème de la Crème des "Exotenfachs deutsch-jüdische Geschichte" (S. 15) versammelt. Die 25 Aufsätze bieten reichhaltige und interessante Einblicke in "Jüdische Welten", knüpfen an die Forschungen von Monika Richarz an und geben vielfältige Anstöße für weitere Forschungen. Was kann von einer Festschrift für eine Historikerin mehr verlangt werden?

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