H. Lehmann (Hrsg.): Transatlantische Religionsgeschichte

Titel
Transatlantische Religionsgeschichte. 18. bis 20. Jahrhundert


Herausgeber
Lehmann, Hartmut
Erschienen
Göttingen 2006: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
167 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beate Althammer, SFB 600/ Teilprojekt B4, Universität Trier

Hartmut Lehmann gehört seit langem zu den produktivsten deutschen Vertretern einer Religionsgeschichte, die sich jenseits der Kirchen- und Dogmengeschichte mit der Bedeutung religiöser Vorstellungen und Verhaltensweisen befasst. Dabei hat er eine national, aber auch eurozentrisch verengte Perspektive immer wieder zu überwinden gesucht und nach der Entwicklung des Religiösen in der modernen Welt insgesamt gefragt. Besonders der Vergleich zwischen den USA und Europa hat es ihm angetan: Wie kommt es, dass trotz der gemeinsamen Zugehörigkeit zur industrialisierten ‚westlichen Welt’ Kirche und Religion gegenwärtig in den USA eine ungleich größere Rolle spielen als in Europa? Handelt es sich nur um eine Phasenverschiebung, um kleinere Varianten innerhalb eines gleichgerichteten Modernisierungsprozesses? Oder haben Alte und Neue Welt im Bereich des Religiösen schon von Beginn weg, also seit Gründung der amerikanischen Kolonien, getrennte Wege eingeschlagen? Diese Fragen bildeten auch den Ausgangspunkt eines Kolloquiums, das Lehmann im September 2005 am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen veranstaltete und dessen Beiträge nun vorliegen. Es war zugleich eine Abschiedsveranstaltung für Lehmann, der nach seiner Emeritierung als Direktor des Instituts ausgeschieden ist.

Der schmale Tagungsband umfasst sechs in Zweiergruppen gebündelte Aufsätze, dazu zwei Kommentare sowie ein Nachwort des Herausgebers, das den dritten Kommentar des vor der Drucklegung verstorbenen William R. Hutchison resümiert.

Die ersten beiden Aufsätze befassen sich mit dem religiösen Transfer im 18. Jahrhundert. Hermann Wellenreuther plädiert für eine transatlantische Religionsgeschichte, die nicht nur die europäischen Wurzeln religiöser Bewegungen in der Neuen Welt, sondern auch die kommunikativen Austauschbeziehungen zwischen Glaubensbrüdern diesseits und jenseits des Atlantiks berücksichtigt. Diese kommunikativen Netzwerke, die vorwiegend vom Klerus getragen wurden, verhinderten allerdings nicht eine abweichende Entwicklung der amerikanischen Kirchengemeinden: Infolge eines chronischen Pfarrermangels hatte der Klerus hier eine schwächere Stellung, die Laien spielten eine aktivere Rolle als in den europäischen Mutterkirchen, was auch die relativ gering ausgeprägte konfessionelle Abgrenzung zwischen den diversen (protestantischen) Glaubensgemeinschaften erkläre. Wellenreuther postuliert, dass ein Ausgangspunkt für die religiöse Auseinanderentwicklung von Alter und Neuer Welt in dieser andersgearteten Struktur der Kirchengemeinden lag.

Der Literaturwissenschaftler Hans-Jürgen Schrader wendet sich einem spezifischen Fall unter den zahlreichen religiösen Splittergruppen in den amerikanischen Kolonien zu, nämlich der radikalpietistisch-täuferischen Gemeinschaft von Ephrata. Schrader thematisiert die deutsche Herkunft ihres Gründers Conrad Beissel, die heterogenen Einflüsse, die in seine Lehre eingingen, sowie sein poetisches Werk. Weniger deutlich wird hingegen, wie diese klösterlich lebende Gemeinschaft mit ihrer amerikanischen Umwelt interagierte. Wie Kaspar von Greyerz in seinem Kommentar anmerkt, erscheinen die Kolonien als Ort, der im Gegensatz zu Europa solche religiös-sozialen Experimente zuließ, wobei genauer nach den Ursachen dieser relativen Toleranz zu fragen wäre. Die von Wellenreuther angesprochene Tendenz zu einer stärker transkonfessionell ausgerichteten Frömmigkeit könnte, so Greyerz, ein Erklärungsansatz sein.

Während die Beiträge zum 18. Jahrhundert auf die Neue Welt fokussieren, handeln die zum 19. Jahrhundert primär von Deutschland. Die Theologin Ruth Albrecht stellt aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive Leben und Wirken der Adeline Gräfin Schimmelmann vor, einer norddeutschen lutherischen Adeligen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert zur Aufsehen erregenden Erweckungspredigerin wurde. Von transatlantischer Relevanz ist das Fallbeispiel insofern, als einerseits die Evangelisationsmethoden der deutschen Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts von angelsächsischen Vorbildern beeinflusst waren, andererseits Schimmelmann eine längere Reise nach Nordamerika unternahm, wo weibliche Prediger weniger singulär waren und auf deutlich weniger Widerstände stießen als in ihrer deutschen Heimat.

Lucian Hölscher entwirft eine knappe Skizze des religiösen Lebens im Deutschland des 19. Jahrhunderts, wobei er das schon früher gezeichnete Bild einer „religiösen Entzweiung“ wieder aufgreift. 1 Diese Entzweiung führt er zwar unter anderem auf die besondere konfessionelle Gemengelage in Deutschland zurück, meint damit aber doch etwas anderes als eine Polarisierung zwischen Katholiken und Protestanten. Vielmehr betont er gerade die mangelnde Bindungskraft der großen Kirchengesellschaften, ihre Aufsplitterung in immer neue religiöse Gruppen und weltanschauliche Vereinigungen. Für den Protestantismus mag dieses Bild zutreffen, für den Katholizismus überzeugt es weniger. Aber auch hinsichtlich des Protestantismus kann man, wie Ulrich Gäbler in seinem Kommentar, fragen, warum Hölscher die „Entzweiung“ dermaßen negativ konnotiert, statt einfach von einer Diversifikation der religiösen Landschaft zu sprechen. Die Antwort ist wohl, dass er hier einen Grund für die fatale Anziehungskraft von politisch aufgeladenen Weltanschauungsbewegungen sieht. Hölscher setzt denn auch, zu Recht, Entkirchlichung nicht mit Säkularisierung gleich. Allerdings tendiert er zum gegenteiligen Extrem, praktisch jede kollektive Werthaltung als „religiös“ respektive „zivilreligiös“ zu qualifizieren. Ob eine so weite Dehnung des Begriffs des Religiösen zweckdienlich ist, erscheint doch etwas fraglich.

Die Beiträge zum 20. Jahrhundert, beide in englischer Sprache verfasst, greifen am explizitesten die Leitfrage nach Reichweite und Ursachen der europäisch-nordamerikanischen Unterschiede in Sachen Religion auf. Hugh McLeod relativiert diese Unterschiede zunächst, sie seien eher gradueller als qualitativer Natur, und betont, dass die beträchtlichen – regionalen, sozialen, ethnischen – Disparitäten auch innerhalb der USA respektive Europas zu beachten seien. Die religiöse Praxis großstädtischer Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts hat McLeod in einer früheren vergleichenden Studie zu New York, London und Berlin eingehend analysiert, auf deren Ergebnisse er hier zurückgreift. 2 Sie zeigen, dass die höhere kirchliche Observanz in New York größtenteils auf die Katholiken zurückzuführen ist, während sich unter den Protestanten ganz ähnliche Entkirchlichungstendenzen wie in den europäischen Städten zeigten. Für die jüngste Zeit, seit den 1970er-Jahren, konstatiert allerdings auch McLeod eine Auseinanderentwicklung, deren auffälligste Erscheinung der wachsende Einfluss des evangelikalen Protestantismus in den USA ist.

Hartmut Lehman schließlich handelt ebenfalls von dieser Auseinanderentwicklung in der jüngsten Zeit, indem er einige neuere sozialwissenschaftliche Erklärungsangebote, insbesondere die Studie von Pippa Norris und Ronald Inglehart diskutiert. 3 Diese führen Unterschiede in der Ausprägung von Religiosität unter anderem auf Grade von sozialer Sicherheit zurück: Demnach hätten die europäischen Wohlfahrtsstaaten die Säkularisierung vorangetrieben, während die größere ökonomische Verletzlichkeit der Amerikaner infolge einer Kultur der individuellen Selbstverantwortung sie Rückhalt in der Religion suchen lasse. Lehmann setzt auseinander, warum er diese These für zwar partiell überzeugend, aber dennoch für ergänzungsbedürftig hält. Er schließt mit dem Ausblick, dass sich die Bedingungen in Europa in mancher Hinsicht gegenwärtig zu verändern schienen, so dass die Säkularisierung sich längerfristig als bloße Episode erweisen könnte.

Vor zu weitreichenden Erwartungen angesichts des generalisierenden Titels warnt Hartmut Lehmann gleich selbst in seinem knappen Vorwort: Das Kolloquium habe die aufgeworfenen Fragen nicht systematisch ausleuchten, sondern nur einige exemplarische Fälle erörtern können. Insgesamt hinterlässt der Band denn auch einen etwas disparaten und zugleich schlagseitigen Eindruck: Abgesehen von der geographischen Beschränkung auf die (späteren) Vereinigten Staaten und Europa, im wesentlichen Deutschland, steht das protestantische Christentum ganz im Vordergrund, und zwar der Protestantismus der Weißen. Die nicht-europäischstämmige Bevölkerung der USA kommt nur in den Beiträgen zum 20. Jahrhundert am Rande vor. Der Katholizismus wird, außer von McLeod, stiefmütterlich behandelt. Die nicht-christlichen Religionen kommen so gut wie gar nicht zur Sprache. Damit bleibt auch die brisante Thematik des Umgangs mit den Konfliktpotentialen in multireligiösen Gesellschaften weitgehend außen vor. Wer sich vom Titel aber nicht zu viel verspricht, findet in dem sorgfältig edierten Band anregende Einblicke in einzelne Aspekte der transatlantischen Religionsgeschichte.

Anmerkungen
1 Hölscher, Lucian, Die religiöse Entzweiung. Entwurf zu einer Geschichte der Frömmigkeit im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 93 (1995), S. 9-25; ders., Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005.
2 McLeod, Hugh, Piety and Poverty. Working Class Religion in Berlin, London and New York, 1870-1914, New York 1996.
3 Norris, Pippa; Inglehart, Ronald, Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide, New York 2004.