L. Raphael (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft

Raphael, Lutz (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft 1. Von Edward Gibbon bis Marc Bloch. München 2006 : C.H. Beck Verlag, ISBN 3-406-54118-6 256 S. € 14,90

Raphael, Lutz (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft 2. Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis. München 2006 : C.H. Beck Verlag, ISBN 3-406-54104-6 284 S. € 14,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karel Hruza, Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Wissenschaftsgeschichtliche biografische Lexika „boomen“. Vor allem für die Geschichte des (deutschen) 20. Jahrhunderts liegen bereits etliche moderne Nachschlagewerke verschiedenster Art und Couleur vor. Sind „berühmte“ Personen zu Genüge abgehandelt, so ist das Erscheinen von Lexika zu enger gefassten Gruppen, im zu besprechenden Fall einer beruflich determinierten Auswahl, zu begrüßen, vor allem dann, wenn der Lexikon-Rahmen zu Gunsten längerer biografischer Skizzen verlassen wird. Hier sind zwei unterschiedlich angelegte Publikationen anzuzeigen 1, die beide nicht allein deutsche Wissenschaftler/in thematisieren und sich nur bei Leopold von Ranke, Jacob Burckhardt und Johan Huizinga überschneiden, weswegen ersterer unten als Beispiel gewählt wurde.

Lutz Raphael, ausgewiesener Wissenschaftshistoriker zur Geschichtsforschung 2, hat eine Auswahl von „Klassikern“ bearbeiten lassen: 27 internationale Fachvertreter, darunter (nur) eine Frau, deren Porträts im Buch chronologisch nach Geburtsjahr gereiht werden 3: Der Älteste wurde 1737, der Jüngste 1940 geboren, der überwiegende Teil entstammt den Jahrgängen zwischen 1870-1930. Fünf Personen waren bei Manuskriptabschluss noch am Leben. Porträtiert werden in Band 1: Edward Gibbon, Leopold von Ranke, Jules Michelet, Theodor Mommsen, Jacob Burckhardt, Karl Marx, Max Weber, Michael Ivanovich Rostovtzeff, Johan Huizinga, Charles Austin Beard, James Harvey Robinson, Marc Bloch; in Band 2: Fernand Braudel, Ernst E. Kantorowicz, Joseph Needham, Moses I. Finley, Franco Venturi, Eric Hobsbawm, Lawrence Stone, Georges Duby, Philip D. Curtin, Reinhart Koselleck, Edward P. Thompson, Michel Foucault, Natalie Zemon Davis, John G.A. Pocock, Quentin Skinner. Nicht nur „reine“ Historiker/in sind demnach vertreten, aber allen ist erheblicher thematischer oder methodischer Einfluss auf die Geschichtswissenschaft zuzuschreiben.

Jedem Porträtierten werden ca. 15-20 Seiten Text gewidmet, die nach „Leben“, „Werk“, „Wirkung“ und Hinweisen auf Werkausgaben und relevante Sekundärliteratur gegliedert sind. Obwohl nicht jede/r Autor/in diesem Schema zielstrebig folgte, führt diese Gliederung dazu, dass die einzelnen Personen auf einem gleichförmigen Raster behandelt werden und die innere Kohärenz der Sammlung gewahrt bleibt. Leider fehlen Fotografien bzw. bildliche Porträts, die den Personen ein Gesicht verliehen hätten (die wenigen Abbildungen auf den Bucheinbänden sind kein Ersatz). Als Autoren/in konnte Raphael namhafte Kollegen/in (Ute Daniel, Matthias Middell, Ulrich Muhlack, Otto Gerhard Oexle, Peter Schöttler und andere) gewinnen, die, da sie meistens über ihnen vertraute Materie schrieben, für ein hohes Niveau der Beiträge sorgten und in einigen Fällen gleich zwei Historiker/in (getrennt oder zusammen) abhandelten.

Raphael hat seine Auswahl überzeugend kommentiert und zeigt, dass es ihm nicht um das Aufstellen eines festen „Kanons“ geht und die Zeiten von „Ahnenkult“ vorbei sind: „sakrosankte Autoren“ haben ausgedient. Dazu hat/ haben die Historiker/in mit der Sichtung ihrer eigenen (Fach-)Vergangenheit beigetragen, wie auch in fast allen europäischen Ländern die jeweiligen Nationalhistoriografien im 20. Jahrhundert teilweise essentiellen Umbrüchen ausgesetzt waren und/oder diese heraufbeschworen haben, so dass es nur in wenigen Fällen zu einer dauerhaften Kanonbildung kam. Der „Klassiker“-Status kommt grundsätzlich einem Werk, das aus mehreren Büchern und Aufsätzen oder auch nur aus einem Buch bestehen kann, zu. Über das Werk wird sein/e Autor/in selbst zum „Klassiker“.

Die Klassikerauswahl, die Raphael nach Befragung von Kollegen traf, soll „ein konkretes Bild vom intellektuellen Horizont der aktuellen Geschichtswissenschaft“ entwerfen, „ein Plädoyer für die Einheit des Faches“ sein und als „Versuch, die Internationalität der modernen Geschichtswissenschaft darzustellen“, gelten. Die „Klassiker“ dokumentieren demnach die „moderne“ wissenschaftliche Geschichtsforschung Europas und Nordamerikas. Auswahlkriterien waren: 1) Eine „Präsenz“ des Werkes in der gegenwärtigen Fachdiskussion sollte gegeben sein. 2) „Impulse“ auf die Forschung sollten vom dem Werk ausgegangen sein. 3) „Das große Werk“, das sind „Bücher, in denen zusammen mit einem historischen Gegenstand (Thema, Epoche) zugleich auch ein historisches Forschungsproblem in mustergültiger Weise dargestellt wird“, sollte der/die Autor/in verfasst haben. 4) „Zeiterfahrungen“ sollten den Werken innewohnen, das heißt, dass die Historiker/in mit „ihren Zeitgenossen […] spezifische Erfahrungen und Zukunftserwartungen [teilten], aus deren Horizont sie wiederum ihre eigenen Fragen an die Geschichte richteten, neue Methoden und Konzepte zur Untersuchung der Vergangenheit ersannen“.

Dementsprechend wurden innovative und „gute“, mehr oder (seltener) weniger breit rezipierte Historiker/in aufgenommen, von denen nur sechs noch keine monografische Biografie erhalten haben. Die Forschung wird daher von ihrer positiven und „fortschrittlichen“ Seite beleuchtet, es fehlen die Irrwege, auf denen so mancher, dennoch (zeitweise) zum „Klassiker“ gewordene Historiker/in gewandelt ist. Ein Beispiel für einen Irrläufer mit großer Ausstrahlung wäre etwa der Österreicher Heinrich Srbik mit seiner „gesamtdeutschen Geschichtsbetrachtung“. Raphaels Auswahl ist insgesamt repräsentativ und dabei interessant, vor allem auch unter dem Aspekt, dass eine jeden befriedigende Auswahl kaum zu verwirklichen ist. Denn natürlich können etliche „Klassiker“ vermisst werden, ich nenne nur – aus der Sicht des Mediävisten – František Palacký, Theodor von Sickel, Otto Brunner oder Arno Borst.

An den Porträts ist hervorzuheben, dass es den/der Autoren/in überzeugend gelungen ist, „ihre“ Historiker/in in deren damalige Lebenswelten einzubetten und die Zeitgebundenheit ihrer Werke und ihre Wirkung aufzuzeigen. Das kann erfreulicherweise so weit gehen, dass die Interpretation und Beschreibung eines Buches ebensoviel über damalige Zeitumstände und den/die Autor/in auszusagen vermögen wie über das eigentliche Buchthema. Eine Herausforderung war sicher die Darstellung bzw. Bewertung der „Wirkung“. Zum einen, weil diese Bewertung sehr vom eigenen Standort im Fach abhängt, zum anderen aber, weil die oben genannten Auswahlkriterien zur „Wirkungsmessung“ nicht ohne weiteres qualitativ und quantitativ festzumachen sind. In der Diskussion schwebend ist etwa der Einfluss Michel Foucaults. Zwar wurde und wird er von vielen Historikern gelesen bzw. „rezipiert“, ob jedoch seine „Verwendung“ immer glückt bzw. wie weit sein Einfluss in den Texten der Historiker/in wirklich reicht, ist eine schwer zu beantwortende Frage, die den/die Autor/in des Foucault-Beitrages Norbert Finzsch zu der Feststellung brachte, „dass Foucault seine Wirkung in den herkömmlichen Bereichen der Geschichtswissenschaft eher ex negativo entfaltet“.

Leopold von Ranke (1795–1886) wird auf 26 Seiten eindrücklich von Ulrich Muhlack porträtiert. Über Rankes Karriereweg kann aus heutiger Sicht gestaunt werden, Können und Beharrlichkeit haben sich damals jedenfalls noch ausgezahlt und mündeten in ein riesiges Œuvre und am Lebensende in eine erfolgreiche „Selbstmonumentalisierung“. Selbstverständlich wird Rankes „berühmtester Methodensatz, der Historiker habe lediglich zu sagen […] ‚wie es eigentlich gewesen’ war“, schlüssig unter dem Aspekt der „Objektivität“ erklärt: „Wenn Ranke […] wissen wollte, ‚wie es eigentlich gewesen’, verharrte er ganz im Umkreis der historischen Phänomene selbst; sie sollten möglichst präzise so erfasst werden, wie sie sich dem Historiker darboten. Es handelte sich also um eine radikale Historisierung der Objektivitätsforderung […]“ Mit seinen zahlreichen Maßnahmen initiierte Ranke einen Professionalisierungsschub der deutschen Geschichtswissenschaft: „Das Rankesche Seminar konnte sich so als Pflanzstätte der modernen quellenkritischen Geschichtsforschung etablieren.“ Thematisch brachte Ranke mit der Geschichte von „Staaten“ und „des europäischen Staatensystems“ jahrzehntelang bestehende Paradigmata in die Forschung ein und wurde so auch zu einem „Europa-Historiker“, was Muhlack aber nicht problematisiert. Ins Lehrbuch der heutigen Historikerausbildung gehört als Vorbild auch geschrieben, dass Ranke großen Wert auf die literarische Stilisierung der Darstellung Wert legte. Irgendwie „drauf Losschreiben“, wie heute oft praktiziert, war ihm unvorstellbar. Anzumerken bleibt, dass der/die Autor/in des ansonsten sehr überzeugenden Artikels etwas mehr über private Aspekte hätte mitteilen können, um nicht nur den Gelehrten, sondern auch den Menschen Ranke „vorzustellen“, der immerhin „als eine der Großen Portalfiguren der modernen Geschichtswissenschaft“ zu gelten hat.

Mit den „Klassikern“, die über ein Personenregister erschließbar sind, ist eine sehr empfehlenswerte Porträtsammlung entstanden, die die Leser/innen durch verschiedene Phasen der Geschichtsforschung der vergangenen 250 Jahre führen und ihnen nicht nur Themen, Thesen und Bücher vorstellen, sondern auch die dahinter stehenden Historiker/in als Menschen Revue passieren lässt.

Anmerkungen:
1 Fast gleichzeitig mit der besprochenen Publikation ist erschienen: Duchhardt, Heinz; Morawiec, Małgorzata; Schmale, Wolfgang; Schulze, Winfried (Hrsg.), Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch Bd. 1, Göttingen 2006.
2 Zu empfehlen etwa: Die Erben von Bloch und Febvre, Stuttgart 1994; Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003.
3 S. 11 listet Raphael allerdings nur 23 Porträtierte auf („Die hier präsentierte Auswahl von Historikern umfaßt […]“), um danach von 26 Porträtierten („25 Männer und eine Frau“) zu sprechen.

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