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Titel
Im Schatten der Apartheid. Frauen-Rechtsorganisationen und geschlechtsspezifische Gewalt in Südafrika


Autor(en)
Schäfer, Rita
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susan Arndt, Institut für England- und Amerikastudien, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Historische Zäsuren verleiten, sofern sie von den Beteiligten überhaupt als solche anerkannt werden, zuweilen dazu, die Langzeitwirkungen des offensichtlich soeben zu Ende gegangenen Abschnitts zu übersehen und ihre Wirkmächtigkeit für die Zukunft zu unterschätzen. Die jüngere Geschichte hält dafür einige besonders prägnante Beispiele bereit. Der komplizierte Übergang Südafrikas von der Apartheid-Diktatur zur sich formierenden demokratischen Gesellschaft ist dafür besonders exemplarisch. Noch im Juni 1988, als Zehntausende im Londoner Wembley-Stadion und Hunderte Millionen an den Fernsehgeräten in aller Welt mit zahlreichen Rockstars den 70. Geburtstag des eingesperrten Nelson Mandela feierten und die damals fast unbekannte Tracy Chapman mit ihrem symbolträchtigen „Talkin’ bout a revolution“ der Veranstaltung den Stempel aufdrückte, noch im Juni 1988 glaubte kaum jemand hoffen zu dürfen, dass Mandelas Leidenszeit und die Diktatur in Südafrika bald vorüber sein würden. Doch nur wenige Monate später, im Februar 1990, war es soweit: Nelson Mandela wurde aus dem Gefängnis entlassen und Südafrikas Apartheidgeschichte neigte sich dem Ende zu. Auch wenn seinerzeit kaum zu übersehen war, dass Südafrikas Transformationsprozess mit zahlreichen Problemen begleitet sein würde, so herrschten doch Zuversicht und Optimismus. Weltweit wurde zudem die Einsetzung der Wahrheits- und Versöhnungskommission unter Leitung von Bischof Desmond Tutu als Signal und Chance gewürdigt, dass die aus der jüngsten Vergangenheit herrührenden tiefen Wunden in der südafrikanischen Gesellschaft vernarben und auch heilen könnten. Es ging nicht um Rache, sondern um Recht, Gerechtigkeit, Rehabilitierung, die Würde der Opfer. Bischof Tutu brachte es in die kurze Formel: „Keine Zukunft ohne Versöhnung“, denn Versöhnung sei unteilbar.

Mit großer globaler Aufmerksamkeit ist in Südafrika „Wahrheit“ und „Versöhnung“ gesucht worden. Schon bald jedoch kamen Zweifel auf, ob dieser Weg erfolgreich beschritten werden könne. Das hing nicht nur mit den beschränkten Möglichkeiten der Kommission zusammen. Auch der Rassismus in der südafrikanischen Gesellschaft blieb diskursiv und strukturell präsent, die so verursachen tiefen Risse erscheinen zum Teil unüberbrückbar.

Südafrikas rasanter Vormarsch in die absolute Spitzengruppe der weltweiten Kriminalitätsstatistiken war dafür eines der sichtbarsten Anzeichen. Gerade jene, die nicht im engeren Sinne als Südafrika-Spezialisten und -Spezialistinnen anzusprechen sind, konnten sich diese Entwicklung nur mit herkömmlichen politologischen, ökonomischen oder soziologischen Theorien erklären. Die Studie von Rita Schäfer bietet nun hingegen über diese Theorien hinaus Erklärungsangebote, die historisch tief, gesellschaftlich breit und theoretisch interdisziplinär verkoppelt sind.

Das Buch von Rita Schäfer hat geschlechtsspezifische Gewaltformen und deren Legitimationsmuster zum Gegenstand. Dabei untersucht sie, wie der Umgang mit Gewalt von Staat und Gesellschaft in Südafrika betrieben, sanktioniert, gerechtfertigt, bekämpft oder gefördert wird. Ihr Hauptaugenmerk richtet sie auf sexuelle Gewalt gegenüber Frauen, wobei sie diese Gewalt nicht als triebhaft, sondern als machtbezogen analysiert.

Neben einer instruktiven Einleitung, einem konzisen Forschungsüberblick (die verarbeitete Literatur umfasst allein 150 Druckseiten!) und einer gelungenen zusammenfassenden Schlussbetrachtung gliedert sich das Buch in vier Hauptteile. Im ersten Teil zeichnet die Autorin Geschlechterhierarchien und geschlechtsspezifische Gewalt in der südafrikanischen Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zum Ende der Apartheid-Diktatur nach. Im zweiten Abschnitt vertieft sie die allgemeinen historischen Erkenntnisse, in dem sie Geschlechterhierarchien und geschlechtsspezifische Gewalt in unterschiedlichen sozialen, kulturellen und religiösen Kontexten untersucht. Im Folgenden analysiert sie das komplexe Verhältnis von Gesetzeslage und Rechtsrealität. Im abschließenden Teil stellt sie unterschiedliche Frauenorganisationen und deren politische, gesellschaftliche und juristische Tätigkeitsfelder vor.

Rita Schäfers Studie, die auf mehreren Feldforschungen basiert, seziert anhand der Geschlechterverhältnisse eine Gesellschaft, deren erschreckende Verbrechensstatistik, gerade auch was sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen anbelangt, nicht auf einfache Nenner zurückzuführen ist. Demzufolge argumentiert die Autorin vielschichtig, sozial, historisch und kulturell differenziert und gerät so niemals in den Verdacht zu pauschalisieren. Kolonialistische Theorien und Praktiken, kulturell verwurzelte Tradierungen und die spätere Praxis der Apartheid-Diktatur bildeten, so die Autorin, eine Geschlechterhierarchie heraus, die Südafrikas Gesellschaft immer noch prägt. Der Staatsrassismus bis zum Fall des Apartheid-Regimes beförderte sexuelle Gewalt in einem unglaublichen Ausmaß, aber diese Gewalt war auch schon zuvor offen existent und ist erst recht nicht seit dem Fall des Regimes verschwunden.

Rita Schäfer versucht nicht, dieses Phänomen mit theoretischen Entwürfen klein zu machen. Vielmehr liegt die Stärke ihrer gewissenhaften Untersuchung gerade darin, dem Verhältnis von Macht und Gewalt empirisch in den Mikrokosmen der Gesellschaft nachzuspüren. Dabei liest sie nicht nur die Geschichte Südafrikas seit dem 18. Jahrhundert neu, sie zeigt auch anschaulich, warum es Frauen im Widerstand gegen Diktaturen doppelt schwer haben. Sie müssen sich nicht nur gegen die Staatsdiktatur wehren und werden von dieser dafür verfolgt, gefoltert, sexuell gedemütigt und ermordet, sie müssen sich zugleich gegen die Gewalt und die Hegemonialbestrebungen „ihrer“ Männer zu wehren suchen. Im Hinblick auf den politisch übermächtigen Staatsgegner unterbleibt zumeist aus ganz lebenspraktischen Erwägungen die zweite Linie des Widerstandes, sofern diese überhaupt in den Blick genommen wird. Denn nicht nur viele Männer, auch viele Frauen nehmen sexuelle Gewalt als „naturgegeben“ hin. Rita Schäfer führt dafür zahlreiche, bedrückende Beispiele an, die nicht nur zuweilen das Lesen des Buches zur seelischen Last angesichts der unfassbaren Qualen werden lassen, sie machen zugleich vorschnelle weiße, westliche Urteile über das Verhalten dieser Frauen eigentlich unmöglich.

Neben diesen vielfältigen Beispielen geschlechtsspezifischer Gewalt, die Schäfer nicht voyeuristisch darbietet, sondern überzeugend zu systematisieren weiß, und neben der Darstellung von Aktivitäten der heterogenen Frauenrechtsbewegung ist an Rita Schäfers Buch auch die kurze, aber überzeugende Auseinandersetzung mit der Wahrheits- und Versöhnungskommission hervorzuheben. Denn in dieser Kommissionsarbeit bündelte sich auch das historische Gewordensein der Geschlechterhierarchien und geschlechtsspezifischen Gewalt in Südafrika. Obwohl sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen zum traurigen Diktaturalltag zählten, nahmen sie in den Anhörungen der Kommission nur eine kaum wahrnehmbare Randposition ein. Die Männer, ob weiß oder schwarz, wollten davon nichts hören. Die einen, weil sie sexuelle Gewalt nicht als Verbrechen ansehen, sondern als notwendige Begleiterscheinung im politischen Kampf und als „naturgegebene“ Bürde im Verhältnis von Frauen und Männern. Die anderen, weil sie sich auf die „Rechtstradition“ und Rechtspraxis Südafrikas berufen oder weil sie nicht erneut „machtvoll“ gedemütigt werden wollen, auch wenn es gar nicht um sie, sondern um ihre Frauen geht. Und genau in diesem Kontext konnten sich auch nur wenige Frauen entschließen, ihr Schweigen zu brechen. Denn ihr Sprechen über erfahrene sexuelle Demütigungen und Verbrechen zog nur erneute Demütigungen und Ächtungen nach sich.

Auch wenn sich die Republik Südafrika seit einigen Jahren bemüht, juristisch der sexuellen Gewalt beizukommen, die Rechtspraxis, die Aufklärungspraxis oder die gesellschaftliche Aufmerksamkeit haben sich kaum verändert. Sexuelle Gewalt ist in Südafrika ein Massenphänomen. Die Verbrechensstatistiken lassen, wenn überhaupt, nur eine Hoffnung: Zwar steigen die absoluten Zahlen eher, als dass sie abfallen würden. Doch dies bedeutet nicht zwangsweise, dass die Gewaltspirale – ob nun in der Familie, auf dem Campus oder in der Armensiedlung – tatsächlich auch weiter signifikant ansteigen würde. Denn es wäre durchaus denkbar, dass die steigende Zahl gemeldeter Verbrechen darauf zurückzuführen ist, dass es mehr und mehr Frauen wagen, erlittene Übergriffe und Verbrechen auch anzuzeigen. Dies zumindest wäre ein Hoffnungsquell für die Zukunft der südafrikanischen Gesellschaft.

Insgesamt hat Rita Schäfer ein eindrucksvolles, theoretisch wie empirisch überzeugendes Buch vorgelegt, dem über enge Fächergrenzen hinweg eine breite Rezeption zu wünschen ist. Es ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie historische und gegenwärtige Probleme interdependent analysiert und dargestellt werden können.

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