W. Lisner: "Hüterinnen der Nation"

Cover
Titel
"Hüterinnen der Nation". Hebammen im Nationalsozialismus


Autor(en)
Lisner, Wiebke
Reihe
Geschichte und Geschlechter, 50
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Campus Verlag
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Evelyn Zegenhagen, Washington, DC

Die Auseinandersetzung mit der Rolle von Frauen im Dritten Reich ist in den letzten Jahren zunehmend sachlicher erfolgt – dem Schlagabtausch des „Historikerinnenstreits“ sind eine Vielzahl von Arbeiten gefolgt, die das diffizile Agieren von Frauen unter den politischen und pragmatischen Sachzwängen und Handlungsspielräumen des nationalsozialistischen Staates diskursiv analysieren. Wiebke Lisners 2004 an der Universität Hannover verfasste und von Adelheid von Saldern und Barbara Duden betreute Dissertation, die jetzt in der Reihe „Geschichte und Geschlechter“ veröffentlicht wurde, ist ein weiteres Beispiel für diese sachliche, faktenbasierte Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit sowie mit der Beteiligung von Frauen am nationalsozialistischen Regime. Angesichts des Stellenwertes, der der Geburtenpolitik im Nationalsozialismus beigemessen wurde, erschließt das Buch durchaus ein prägnantes Kapitel der Geschichte des Dritten Reiches.

Lisners Arbeit ist nicht die erste Aufarbeitung der Geschichte von Geburtshelferinnen. Seit dem Jahr 2000 erschienen zahlreiche Publikationen zur Geschichte des deutschen Hebammenwesens.1 Ihre Studie beschränkt sich jedoch auf den lippischen Raum, was zum einen die gründliche Auswertung des umfangreich vorhandenen archivalischen Materials ermöglicht, zum anderen den Untersuchungsgegenstand von der Makro- auf die Mikroebene bewegt und so beeindruckende Detailaufnahmen gestattet.

Mit der Wahl des Zeitrahmens von 1918 bis 1945, den Lisner gleich im ersten Kapitel politisch analysiert, ist bereits eine wesentliche Aussage formuliert: Professionalisierungsdebatten, Rollendefinitionen, finanzielle und Statusprobleme, die die Existenz der Hebammen prägten, waren bereits lange vor 1933 angelegt. Dies trifft auch auf die mehr oder minder geglückten Lösungsansätze zu, um niedergelassene und angestellte Hebammen in die Gesundheitspolitik zu integrieren, ihr Wirken zu regulieren und zu kontrollieren. Auch änderte sich mit dem Jahr 1933 die rechtliche Situation der Hebammen nicht schlagartig. Lisner vollzieht die Entwicklung in allen Teilschritten nach – vom preußischen Hebammengesetz vom 1. April 1923 über das Reichshebammengesetz vom 1. September 1938 mit seinen Durchführungsverordnungen bis zur Dienstordnung von 1943 mit ihren Ausführungsbestimmungen. Überzeugend lässt sich so die zunehmende Professionalisierung und politische Vereinnahmung der Hebammen nachweisen: die Aufwertung der Hebammentätigkeit vom Gewerbe zum Beruf einschließlich einer Berufsorganisation in der 1933 entstehenden Reichshebammenschaft, eine europaweit einzigartige finanzielle und rechtliche Absicherung, die Verbesserung der Aus- und Weiterbildung und die Rationalisierung der Tätigkeit, aber ebenso die immer intensivere Einbeziehung der Geburtshelferinnen in die nationalsozialistische Geburtenpolitik. Der Schwerpunkt der Hebammentätigkeit richtete sich zunehmend von der individuellen zur „Volkspflege“, von der im ländlichen Sozialgefüge angesiedelten Hebamme zur Hebamme als steriler bevölkerungspolitischer Propagandistin und Multiplikatorin von „Erb- und Rassepflege-Ideen“. Eingebunden in das System der nationalsozialistischen Gesundheitspflege, kooperierten und konkurrierten Hebammen mit der NS-Volkswohlfahrt, angestellten und niedergelassenen Ärzten, Gemeindeschwestern, Krankenschwestern und Fürsorgerinnen. Sie operierten hier in einem komplexen polykratischen System, in dem nicht selten die entbrannten Machtkämpfe zu Ungunsten der Hebammen endeten – so wenn zu Ende der 1930er-Jahre die NSV-„Hilfsstellen für Mutter und Kind“ die Hebammen aus der Säuglingsfürsorge ausschlossen und letztere aus dem Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens in das parteiamtliche Gesundheitswesen überführten.

Eines der Kernkapitel von Lisners Arbeit beschreibt das ambivalente Doppelmandat der Hebammen als „Vertraute der Frauen – Vertraute des Staates“. Faktenreich und gründlich hat Lisner hier den Hintergrund von 58 der insgesamt 1010 Hebammen recherchiert, die 1933 im lippischen Raum niedergelassen waren. Sie belegt damit die These von der in der NS-Ära vor sich gehenden „Politisierung der Medizin und Medikalisierung der Gesellschaft“ (S. 36), die auch den Hebammenberuf einschloss. Diese biografische Aufarbeitung erweist sich als eine der großen Stärken der Arbeit: Nicht nur wird das Sample der für das Buch analysierten Hebammen nach einer Vielzahl von Kriterien statistisch ausgewertet. Klug ausgewählte Beispielbiografien verdeutlichen auch einprägsam die Veränderungen, die der Hebammenstand im Dritten Reich erfuhr. In diesem Kontext gelingen Lisner eindrucksvolle Schlussfolgerungen, so auf S. 224: „Hitler erklärte das Geburtsbett zum Schlachtfeld der Frau, wodurch er Geburten und Mütter mit den heroisierten Schlachten der Soldaten gleichsetzte. In diesem Bild bleibend, erhielt die Hebamme nun den Status eines Offiziers, dessen Aufgabe es war, die ‚Geburtsschlacht’ zu leiten und den ‚Soldat Gebärende’ zu befehligen. Die Vorstellung, ‚Mutter der Mütter’ und ‚Offizier im Geburtskrieg’ zu sein, wertete Hebammen analog zur Mutterschaft ideell auf, sie gewannen an sozialem Prestige.“

Nur selten allerdings richtet sich der analytische Blick von der Seite juristischer Verordnungen, propagandistischer Verlautbarungen und administrativer Richtlinien auf die aktuellen Akteurinnen. Lisner kann in ihr beachtlich reichhaltiges Quellenverzeichnis nur drei Interviews mit Hebammen aufnehmen, zwei Interviews mit Angehörigen von Hebammen und eine weitere semi-autobiografische Quelle. Für subjektive Sichtweisen der Akteurinnen bleibt so kein Raum: Wie verstanden sich Hebammen selbst im Machtgefüge der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, wie wirkten sich die genderbezogenen Aspekte ihrer Arbeit und Bewertung aus (immerhin dürfen erst ab 1985 in Deutschland auch Männer Hebammen werden)? Geschlechterhierarchien und die individuelle subjektive Interaktion von Hebammen mit anderen Instanzen im nationalsozialistischen Gesundheitswesen fehlen ebenso wie Aussagen zum Selbstverständnis der Geburtshelferinnen, das nur ansatzweise rekonstruiert werden kann.

Die mangelnde Quellenüberlieferung macht sich auch bei einem anderen Kernkapitel der Arbeit bemerkbar, nämlich in den sachkundig und detailliert zusammengetragenen Aussagen zur Tätigkeit von Hebammen bei der Betreuung schwangerer Zwangsarbeiterinnen sowie in Heimen des „Lebensborns“, die nachdrücklich den Doppelcharakter nationalsozialistischer Geburtenpolitik belegen. Hier besteht noch ein immenser Forschungsbedarf. Dies trifft generell auf die unmittelbare Mitwirkung der Hebammen bei der Umsetzung der nationalsozialistischen „Erbpflege“ und „Rassenpolitik“ zu. Trotz Lisners gründlicher Recherchen lässt sich heute nicht mehr sicher erschließen, wie zuverlässig Hebammen ihrer Meldepflicht betreffs erbkranken Nachwuchses, missgebildeter Kinder und geplanter sowie umgesetzter Abtreibungen nachkamen. Zu eifrig scheinen die Hebammen ihre Pflicht als „Hüterinnen der Nation“ nicht gesehen zu haben, sondern sie verblieben in einer „Grauzone des Handelns“ (S. 330), die Lisner als – erstaunlich weiten – Handlungsspielraum der Akteurinnen nachweisen kann. Konkrete Daten sind jedoch nur noch ansatzweise zu rekonstruieren. Allerdings opponierten die Geburtshelferinnen auch nicht gegen staatliche Vorgaben zu Meldepflicht und Euthanasie, sondern nahmen, wie Lisner belegen kann, den Tod behinderter Kinder passiv hin. Die Ermordung „lebensunwerten Lebens“ war, wie Lisner in der eindrucksvollen Aussage einer Hebamme nachweisen kann (S. 274f.), kein Tabuthema, sondern wurde in „psychologischer Komplizenschaft“ (Kurt Nowak) akzeptiert.2

Und somit bleibt das Bild der Hebamme in mehrfacher Weise ambivalent: Lisner kann eindrücklich aufzeigen, dass Hebammen ihren Beitrag leisteten zum weiten „Spektrum vielfältig miteinander verquickter Handlungen, die alle zusammen die nationalsozialistische Diktatur Realität werden ließen.“3 Fachlich, rechtlich, politisch und ideell aufgewertet und mit einem neuen Selbstbewusstsein versehen, ließen sich Hebammen weitgehend für die Interessen des Staates instrumentalisieren und wurden zu „Akteurinnen bei der Umsetzung der Bevölkerungspolitik“ (S. 328). Ihrer im Dritten Reich erfahrenen wirtschaftlichen und rechtlichen Absicherung sowie sozialen und politischen Bedeutung sollten sie nach 1945 nicht einmal ansatzweise mehr nahe kommen. Lisners Buch weist diese Geschichte der Hebammen faktenreich, kritisch und lesenswert nach.

Anmerkungen:
1 Die jüngsten dieser Arbeiten aus den letzten Jahren sind: Bund Deutscher Hebammen e.V. (Hrsg.), Zwischen Bevormundung und beruflicher Autonomie. Die Geschichte des Bundes Deutscher Hebammen e.V., Karlsruhe 2006; Kehrbach, Antje/Tschernko, Monika, Zur Rolle der Berufsorganisation der Hebammen im Nationalsozialismus. Stellungnahme des Bundes Deutscher Hebammen e.V., Karlsruhe 2002; Peters, Anja, Der Geist von Alt-Rehse. Die Hebammenkurse an der Reichsärzteschule 1935-1941, Frankfurt am Main, 2005; Saurer-Forooghi, Fariba, Emma Rauschenbach (1870-1946). Ein Leben im Dienste des deutschen Hebammenwesens, Aachen 2004; Tiedemann, Kirsten, Hebammen im Dritten Reich. Über die Standesorganisation für Hebammen und ihre Berufspolitik, Frankfurt am Main 2001.
2 Nowak, Kurt, Widerstand, Zustimmung, Hinnahme. Das Verhalten der Bevölkerung zur „Euthanasie“, in: Frei, Norbert (Hrsg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 235-252, hier S. 248.
3 So Heinsohn, Kirsten; Vogel, Barbara; Weckel, Ulrike (Hrsg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt am Main 1997, S. 11.

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