R. Engelmann u.a. (Hrsg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat

Cover
Titel
Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953


Herausgeber
Engelmann, Roger; Kowalczuk, Ilko-Sascha
Reihe
Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik 27
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
478 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Wilke, Forschungsverbund SED-Staat

Der vorliegende Tagungsband zum Anlass des 50. Jubiläums des 17. Juni 1953 behandelt viele Aspekte des Aufstandes: das Ereignis selbst, seine internationale Dimension, die Krise des MfS und anderer DDR-Sicherheitsapparate, die soziale und regionale Dimension des Aufstandes und schließlich seine sich wandelnde Bedeutung in der Erinnerungskultur der Deutschen. Eine Lücke wird durch die Aufzählung bereits deutlich; die Führungskrise der SED, die in Blick auf den Generalsekretär Walter Ulbricht durch den „Neuen Kurs“ aus Moskau ausgelöst wurde, ist kein eigenständiges Thema. Sie wird von Gerhard Wettig in Zusammenhang mit der sowjetischen Führungskrise nach Stalins Tod und dem Kurswechsel in der Deutschlandpolitik behandelt. Nach Wettigs Urteil konnte Ulbricht nach dem 17. Juni den Machtkampf im Politbüro gewinnen, da er über die besseren Verbindungen zu entscheidenden Spitzenfunktionären der KPdSU verfügte und Erich Mielke ihm gefälschte Dokumente lieferte, um zu „beweisen“, dass Wilhelm Zaisser, der Minister für Staatssicherheit, den „Kapitalismus in der DDR wiederherstellen“ wollte.

In seiner historischen Ortsbestimmung des Volksaufstandes unterstreicht Gerhard A. Ritter, dass dieser in die Tradition der deutschen und europäischen Freiheitsbewegungen gehört. Er war eben nicht begrenzt auf die industriellen Zentren und die Arbeiterschaft, sondern ergriff auch das flache Land, wo sich die Bauern gegen die Zwangskollektivierung wehrten. Für Ritter sind die internationalen Auswirkungen des 17. Juni gravierend. Für die Sowjetunion hatte er eine doppelte Bedeutung. Erstens offenbarte die Krise die Schwäche der SED und beendete die Ambivalenz in der sowjetischen Deutschlandpolitik. Die DDR wurde nach dem 17. Juni als zweiter deutscher Teilstaat fest in den Ostblock eingebunden und ökonomisch und politisch stabilisiert. Zweitens stand der Volksaufstand am Anfang einer Kette von Freiheitsbewegungen in den sowjetischen Satellitenstaaten. Er sei der „Sturmvogel“ gewesen, der den Epochenwechsel 1989/90 ankündigte.

In den Vereinigten Staaten hatte im März 1952 Eisenhower die Präsidentenwahl, unter anderem mit einem Programm zur Befreiung der osteuropäischen Länder von der sowjetischen Herrschaft, gewonnen. Das entschlossene militärische Eingreifen der Sowjetunion zur Niederschlagung des Aufstandes ließ jedoch jeden Gedanken an eine direkte amerikanische Intervention, um ihre „Befreiungsmission“ zu erfüllen, auf eine Grenze stoßen: die Gefahr eines atomar geführten 3. Weltkrieges. Es blieb der Status quo im geteilten Europa und der Kalte Krieg zwischen Ost und West verlagerte sich auf die „Dritte Welt“, in der dann auch heiße Kriege geführt wurden.

Ritter fordert, den 17. Juni 1953 als Zeugnis „der Demokratie und des Freiheitswillens der Ostdeutschen“ stärker als zentrales Ereignis in der gemeinsamen deutschen Erinnerungskultur zu würdigen.

Seine Vorgeschichte und den Verlauf behandelt Karl Wilhelm Fricke. Die SED war nicht in der Lage, ihre Macht durch eigene Sicherheitskräfte gegen das Aufbegehren des Volkes zu behaupten. Thorsten Diedrich beantwortet die Frage, weshalb die SED-Führung die „getarnte Armee“, die Kasernierte Volkspolizei (KVP), nicht eingesetzt hat oder erst einsetzte, nachdem der von den Sowjets verhängte Ausnahmezustand die Erhebung erstickte hatte. Seine Befund lautet: Weder die Besatzungsmacht noch die SED-Führung hielten die KVP für politisch zuverlässig. Sie unterstand zudem der sowjetischen Besatzungsmacht und wurde nur dort herangezogen, wo die regionalen sowjetischen Militärkommandanturen den Einsatzbefehl erteilten.

Manfred Rexin erinnert an die Bedeutung des RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor), der mit seiner Berichterstattung über den Streik der Ostberliner Bauarbeiter am 16. Juni und ihren Forderungen den Volksaufstand in der DDR beförderte.

Eine kurze biografische Skizze von Helmut Müller Enbergs über den ersten Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, porträtiert das MfS als Hilfsorgan des sowjetischen Geheimdienstes in den „Terrorjahren“ der DDR. In ihnen war auch die politische Strafjustiz ein wesentliches Instrument zur Durchsetzung des Aufbaus des Sozialismus. Die Zahl der Strafgefangenen war bis 1953 auf ca. 67.000 Menschen angewachsen, so dass es am 17. Juni zur Stürmung von Gefängnissen und zur Befreiung von Gefangenen kam, dessen gelungenen und misslungenen Versuche Tobias Wunschik beschrieben hat.

Ilko-Sascha Kowalczuks Thema ist die politische Strafverfolgung in der DDR vor und nach dem 17. Juni. Sein Augenmerk gilt vor allem dem „Missbrauchspotential“ von Gesetzen und Rechtsprechungen für die Durchsetzung des diktatorischen Machtwillens der SED, den auch die ca. 15.000 Verhafteten während und nach dem 17. Juni zu spüren bekamen.

Arndt Bauerkämper und Burghard Ciesla behandeln in ihren Beiträgen das in der öffentlichen Wahrnehmung wenig beachtete Thema des Widerstandes gegen die Zwangskollektivierung im dörflich-agrarischen Milieu.

Welchen Platz hat der Juni-Aufstand in der kollektiven Erinnerung Deutschlands? Mit Beiträgen zu diesem Thema schließt der Band ab. Für das Verständnis der DDR-Geschichte nach 1953 ist vor allem der Beitrag von Bernd Eisenfeld hervorzuheben, der das doppelte Trauma des 17. Juni in der DDR beschreibt. Seine These: Über der kommunistischen Führung hing seit 1953 ein Damoklesschwert, welches sie mit dem Ausbau der Staatssicherheit, der Schließung der Grenzen und dem Bau der Mauer in Berlin bannen wollte.

Das Trauma der Bevölkerung war die Erfahrung der Vergeblichkeit aktiven Widerstands angesichts der sowjetischen Truppenpräsenz im Lande. Eisenfeld diskutiert auch das Problem, dass der 17. Juni von den Bürgerrechtlern in der DDR im Herbst 1989 nicht als positiver Bezugspunkt der eigenen Geschichte genutzt wurde – ganz im Gegensatz zu Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, in denen die Freiheitsbewegungen von 1956, 1968 und 1980/81 präsent waren. Lediglich Bärbel Bohley, die Jeanne d’Arc der friedlichen Revolution der DDR, lässt sich mit dem Satz zitieren, dass sie sich den Mut und die Entschlossenheit der Männer und Frauen des 17. Juni für die Auseinandersetzung des Jahres 1989 wünschte.

Die Beiträge dieses Sammelbandes behandeln, wie gezeigt, differenziert verschiedene Aspekte des Volksaufstandes von 1953. Sie präsentieren somit den aktuellen Forschungsstand zu diesem Thema. Darüber hinaus folgt die Konzeption des Sammelbandes einer begrüßenswerten politischen Intention, dieses Ereignis aus der Geschichte des deutschen Volkes in seiner großen Bedeutung für die Teilungsgeschichte zu würdigen, um seinen Rang in der Erinnerungskultur des Landes zu stärken.

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