: La vieille Europe et les nouveaux mondes. Pour une histoire des relations atlantiques. Stuttgart 2005 : Jan Thorbecke Verlag, ISBN 3-7995-7285-6 56 S. € 9,00

: Atlantic History. Concept and Contours. Cambridge 2005 : Harvard University Press, ISBN 0-674-01688-2 150 S. € 17,50

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Haußer, Universität Hamburg

In einem Kommentar zum vorletzten Historikertag in Kiel wusste der in Kalifornien lehrende Mediävist Patrick J. Geary überwiegend Gutes von der deutschen Geschichtswissenschaft zu berichten. Allerdings monierte Geary den begrenzten Gesichtskreis deutscher Historiker/innen, die auch dort, wo sie den nationalen Rahmen überschreiten, sich kaum vom europäischen Kontinent oder ihrer deutschlandzentrierten Sichtweise lösen könnten. Dieser provinzielle Blick der deutschen Geschichtswissenschaft halte die wenigen Historiker/innen, die kundig über außereuropäische Räume und damit über den größten Teil der Welt Auskunft geben können, immer noch in einem Außenseiterdasein. Geary erinnerte an die Notwendigkeit, sich auch von historischer Seite der Welt zu öffnen und er schloss süffisant mit der Bemerkung, dass diese Welt weitaus größer sei als das Baltikum, auf dem der räumliche Schwerpunkt des Historikertages lag.

Wer ein solches Urteil liest, könnte meinen, es habe sich wenig getan zwischen dem letzten Historikertag und jenem, auf dem Christian Meier vor fast zwei Jahrzehnten in seiner Eröffnungsrede die Zunft dazu aufgefordert hatte, aus der „Provinz des Historikers“ herauszutreten. Dabei haben in der Absicht, dieser Aufforderung nachzukommen, in den letzten Jahren doch zahlreiche Ansätze das Interesse deutscher Historiker gefunden. Vergleichende und Transfergeschichte, ‚histoire croisée’, ‚post-colonial studies’ und verwickelte Geschichten (‚entangled histories’), Internationale und Transnationale Geschichte bis hin zum gesamten Erdkreis in Gestalt von Weltgeschichte oder besser gleich planetarisch gesichteter Globaldeutungen – wer an der immer wieder deklamierten Entgrenzung der Geschichtswissenschaft mitwirken will, der kann auf ein breites Arsenal neuer und weniger neuer theoretischer Angebote zurückgreifen. Gemeinsam haben all diese Ansätze jedoch neben dem Wunsch, sich über den nationalstaatlichen Deutungshorizont hinauszubewegen, auch den Umstand, dass sie nur sporadisch ihre Umsetzung in konkrete Forschungsarbeit gefunden haben. Auch formulieren dabei selbst die Anspruchsvolleren unter diesen Konzepten mehr oder weniger starke Thesen über transnationale Zusammenhänge, vielfach weiterhin die Nation als wichtigste Bezugsgröße beibehaltend. Ihre eigene Überprüfung haben diese Konzepte bislang nur selten veranlasst. Nur in wenigen Fällen vermögen sie sich auf Arbeiten zu berufen, in denen sich theoretischer Rahmen und empirischer Befund aneinander abarbeiten. Vielmehr beschränkt sich der Elan, nationale Grenzen historiografisch zu überwinden, oftmals noch darauf, Ansätze zu postulieren und Modelle gegeneinander aufzuwiegen, anstatt sich mit materialgesättigter Sachkunde an deren Überprüfung zu machen und damit wissenschaftlicher Auseinandersetzung allererst zu erschließen.

Dies gilt nicht für die Atlantische Geschichte. Allein deshalb sind die hier zu besprechenden Arbeiten Bernard Bailyns und Wolfgang Reinhards über die gemeinsame Geschichte Afrikas, Europas und der beiden Amerikas zu begrüßen. In Deutschland bislang kaum wahrgenommen, kann die Atlantische Geschichte selbst auf eine lange Vergangenheit zurück blicken, in der sie als konzeptioneller Rahmen für die vielfältigen, beide Seiten des Ozeans überspannenden Zusammenhänge breite Anerkennung gefunden hat. Beigetragen hat hierzu nicht zuletzt jene randständige Geschichtsforschung, die bei der Beschäftigung mit außereuropäischen Regionen sowohl die Stärken als auch die Mängel überkommener Konzepte wie Übersee-, Expansions- oder Kolonialgeschichte herausgearbeitet hat. So hat vor allem in jüngerer Zeit die Atlantische Geschichte einen starken Aufschwung erlebt, der sich durch zahlreiche Veranstaltungen, die Etablierung als akademisches Forschungs- und Lehrfach vor allem im angelsächsischen Raum oder eine immer größer werdende Zahl von Arbeiten, die den Atlantik im Titel führen, ebenso bemerkbar gemacht hat wie etwa durch weiterführende Vorschläge zur Unterteilung des Konzeptes in eine circum-, trans- und cisatlantische Geschichte.

Ausgehend von der wachsenden Aufmerksamkeit, welche das Arbeitsgebiet in den letzten Jahren auf sich gezogen hat, zeichnet Bernard Bailyn dessen Karriere im ersten Teil seines Buches nach. Den wichtigsten Einfluss auf die Entstehung der Atlantischen Geschichte erkennt Bailyn dabei in den politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, vor allem in der Herausbildung des Ost-West-Gegensatzes im Gefolge des Zweiten Weltkrieges. Dieser Entstehungszusammenhang trat im Laufe der Zeit jedoch zunehmend in den Hintergrund und wurde als konzeptioneller Rahmen rasch auf der Grundlage einer breiten Quellenbasis mit vielen Einzelstudien aufgefüllt, wobei hierzu besonders die Wirtschafts- und Sozialgeschichte beitrugen. So gehören transatlantische Handelsbeziehungen und Wanderungsbewegungen, ob freiwillig oder erzwungen, immer noch zu den herausragenden Themen der Atlantischen Geschichte. Diese Themen nehmen dann auch einigen Platz ein bei der Darstellung der gemeinsamen atlantischen Vergangenheit im zweiten Teil des Buches. Und mag man sich dabei auch in manchem noch an die ‚Western Civillization‘-Kurse nordamerikanischer Hochschulen erinnert fühlen, so unterschlägt der Autor doch keineswegs die von Gewalt und Zerstörung bestimmten Momente des Atlantiks und steht auch mit der Absage an die Annahme einer historischen Ausnahmestellung der USA fest auf dem von ihm beschriebenen gesamtatlantischen Grund.

Es wäre allein aufgrund seiner Form – ursprünglich ein Festvortrag, der im Deutschen Historischen Institut in Paris anlässlich der Verleihung des Preises ‚Guillaume Fichet-Octave Simon‘ gehalten wurde – unangemessen, den Essay von Wolfgang Reinhard an Bailyns souveräner Zusammenschau der Disziplin zu messen. Wenn eine ausführliche, wissenschaftliche Darstellung von dieser Rede, die nun auf etwas mehr als 30 kleinformatigen, großzügig bedruckten Seiten in schriftlicher Form vorliegt, nicht erwartet werden darf, so sollen für die Einschätzung der Reinhardschen Arbeit einige Anmerkungen genügen.

Allein die Fähigkeit, das Konzept einer die Grenzen des Nationalen übersteigenden bzw. unterlaufenden Atlantischen Geschichte sowie die wechselseitige Durchdringung und Verdichtung in ihren vielfältigen Formen in wenigen Sätzen vorzustellen, verdient Respekt. Die Akteure und ihr Zusammenspiel werden benannt ohne darüber hinaus die Strukturen, welche das transatlantische Ganze prägten, zu vernachlässigen. Die verschiedenen Dimensionen wie Kaufmannsnetzwerke sephardischer Juden gehören ebenso dazu wie der so genannte ‚Black Atlantik’, der mit der Sklaverei als zentralem Thema zu den klassischen und besterforschten Gebieten der Atlantischen Geschichte gehört. Reinhard dehnt dabei die herkömmliche zeitliche Begrenzung der Atlantischen Geschichte vom Spätmittelalter bis in das frühe 19. Jahrhundert hinaus und zeigt damit, dass, was das Zeitalter der Nationalstaaten angeht, diese auch in der historischen Forschung, um es einfach auszudrücken, nicht der Weisheit letzter Schluss zu sein brauchen. Besonders verdienstvoll ist, dass Reinhard stärker als Bailyn auf den Stellenwert eines iberischen Atlantik hinweist, dessen Erforschung lange Zeit nicht seiner historischen Bedeutung angemessen war und der sich erst neuerdings anschickt, aus dem Schatten des angelsächsischen hervorzutreten.

Der Wert von Reinhards Arbeit sollte dennoch nicht überschätzt werden. Ohne selbst Forschungen zur Atlantischen Geschichte vorweisen zu können, stützt sich der Autor neben eigenen Arbeiten zur europäischen Kolonial- und Expansionsgeschichte auf Literatur, deren Verzeichnis angesichts des Gesamtumfanges freilich nur knapp ausfallen kann. Dennoch hätte man bei einem Vortrag in Frankreich und in französischer Sprache einen Verweis auf Braudel und sein Mittelmeerwerk, einem herausragenden konzeptionellen Wegbereiter der Atlantischen Geschichte noch vor Godechot und Palmer, erwartet. Überdies finden gerade bei einem Autor, der die Bedeutung des iberischen Atlantiks zurecht unterstreicht, weder ältere Klassiker wie das vielbändige Werk der Chaunus zum spanischen Amerikahandel oder Frédéric Mauros entsprechende Arbeit zu Portugal Erwähnung, noch die Fortsetzung solcher Ansätze in jüngerer Zeit mit der Einbeziehung Afrikas in den Südatlantik z. B. durch den an der Sorbonne lehrenden Brasilianer Alencastro. Mögen solche Unterschlagungen noch lässlich erscheinen, werden sie doch von anderen Mängeln inhaltlicher Art begleitet.

Zu diesen Mängeln gehört etwa die Behauptung vom raschen und weitgehenden Verschwinden der amerikanischen Ureinwohner. Zwar verringerte sich deren Zahl nach der Ankunft der Europäer. Von der durch Krieg, vor allem aber durch Krankheiten ausgelösten demografischen Katastrophe erholten sich die Indianer, zumal das Vordringen von Europäern und die Erschließung des Doppelkontinentes ein sich über Jahrhunderte hinziehender Prozess war. Die soziale Schichtung in Iberoamerika war auch ungleich feiner als Reinhard nahe legt, zumal für die gesellschaftliche Stellung neben ethnischen Unterscheidungen noch ganz andere Kriterien eine Rolle spielten. Bezeichnungen wie ‚criollo’ oder ‚indio’ etwa verloren ihre ethnische Bedeutung bald und wurden zu Begriffen mit vielerlei, sozialen und kulturellen wie wirtschaftlichen oder auch politischen Bedeutungsfacetten. Die Folge der iberischen Kolonisation in Amerika war eben nicht, wie Reinhard meint, eine bloß auf ethnischer Zugehörigkeit beruhende und klar abzugrenzende, streng hierarchisierte Gesellschaft innerhalb der sich eine indianische Identität allenfalls in marginaler Form habe erhalten können. Mag außerdem das "Amerika der Pflanzungen" zwischen Brasilien und den Südstaaten der USA dem Autor gerade mit Blick auf die dort lebenden afrikastämmigen Sklaven als eine "künstliche Welt" (S. 39) erscheinen, so vergessen solche Urteile das, was geradezu einen Grundzug der amerikanischen Geschichte ausmacht: mit der europäischen Landnahme in den beiden Amerikas ging eben auch die Entstehung neuer Bevölkerungen und damit ganz neuer historischer Gesellschaften einher.

Der Atlantik war eine europäische Schöpfung. Es mag daher natürlich erscheinen, wenn Reinhard, gerade als Expansions- und Kolonialhistoriker, sich vordringlich mit dem Wirken und den Wirkungen Europas in diesem Raum befasst. Die vielfältigen Rückwirkungen auf Europa durch einen Kontinent, dessen Entdeckung für die Europäer den Atlantik von der Grenze der bis dahin bekannten Welt bald zum Binnenmeer innerhalb eines neuen Raumhorizontes werden ließ, finden hingegen nur sporadisch Beachtung. Trotz des abschließenden Bekenntnisses Reinhards zu einer vielgesichtigen, gleichwohl gemeinsamen atlantischen Kultur zu Beginn des 21. Jahrhunderts bleiben die vielen, durchaus wirkungsmächtigen Zusammenhänge auf den verschiedensten Ebenen, anders als bei Bailyn für die Frühe Neuzeit, außen vor.

Diese und andere Mängel sollten gleichwohl nicht allzu hoch angesetzt werden, zeigen sie doch vor allem zwei Dinge. Erstens nämlich, dass Atlantische Geschichte nicht gegen oder über jenes Wissen hinweg betrieben werden kann, welches das Ergebnis einer zunehmenden Spezialisierung ist, die neben der Geschichtsforschung zu Europa oder Nordamerika schon längst auch diejenige zu Lateinamerika und Afrika kennzeichnet. Und sie zeigen zweitens, dass die Atlantische Geschichte sich über Europa allein nicht erschließen lässt. Wenngleich Europäer am Anfang des Atlantiks standen und oft die wichtigsten Akteure waren: über das Maß des Europäischen, über die Frage, inwiefern sich dieses in Rein- oder Mischform erhalten hat oder verschwunden ist, lässt sich die Atlantische Geschichte nicht schlagen.

Ihre Berechtigung haben sowohl der Essay von Reinhard wie auch Bailyns Arbeit in einem Raum, der, wie beide Autoren ganz zurecht betonen, am Anfang historischer Globalisierungsprozesse stand und dessen Erforschung in Form der Atlantischen Geschichte überdies als der empirisch und konzeptionell fortgeschrittenste Ansatz transnationaler Geschichtswissenschaft gelten darf. Für denjenigen, der sich mit diesem Arbeitsansatz vertraut machen will, bilden aufgrund Ihrer fundierten Sachkenntnis auch künftig Namen wie Bailyn oder Pietschmann, den auch Reinhard ausgiebig zitiert, die erste Anlaufstelle. Gleichwohl hätte auch Reinhards Schrift trotz verschiedener Schwächen einen Zweck erfüllt, wenn sie gerade durch ihre essayistische Form anregend wirkte für die weitere Auseinandersetzung mit der Atlantischen Geschichte. Denn nicht zuletzt hier tut sich auch für die deutsche Geschichtswissenschaft eine wichtige Möglichkeit auf, sich aus jener Beschränktheit und damit Rückständigkeit zu manövrieren, in der sie sich in mancherlei Hinsicht schon seit einiger Zeit befindet.

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