: Hitler und die Deutschen. . München 2006 : Wilhelm Fink Verlag, ISBN 3-7705-3865-X € 29,90

: Hitler war's!. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Berlin 2005 : Aufbau Verlag, ISBN 3-351-02601-3 438 S. € 24,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Kaluza, Studienkolleg der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin

„Hitler ist tot, doch der Hitlerismus lebt weiter.“ – Dies ist der gemeinsame Kern zweier sehr unterschiedlicher Bücher, die sich, im Abstand von zwanzig bzw. sechzig Jahren mit dem „Hitlerismus“ auseinandersetzen, also der geschichtspolitisch und sozialpsychologisch motivierten These, für den „Zivilisationsbruch“ und die Verbrechen der Deutschen seien Hitler und eine kleine Gruppe von Fanatikern mehr oder weniger allein verantwortlich.

Eric Voegelins Buch basiert auf Vorlesungen, die er als Ordinarius für Politikwissenschaften im Sommersemester 1964 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München gehalten hat. Es ist eine fulminante Abrechnung sowohl mit der Geisteshaltung der Deutschen, die den Nationalsozialismus ermöglicht hat, als auch mit der Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, die so weitergelebt hat, als seien die zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reiches“ ein Spuk gewesen, der, so schnell er über Deutschland kam, so schnell auch wieder verschwand. Hannes Heers 2005 erschienenes Buch setzt sich mit den Wiedergängern des „Hitlerismus“ auseinander, die, man glaubt es kaum, nach dem Beginn der historischen, politischen und juristischen Aufarbeitung in den 1960er-Jahren, vor allem in personae Joachim Fest und Guido Knopp ein erstaunliches, multimediales Comeback feierten.

Voegelin ist ein konservativer Politikwissenschaftler, für den Werte und Ordnungen unabhängig vom historischen Kontext Geltung beanspruchen. Sein Ziel ist, die ‚conditio humana’ freizulegen, die gleichzeitig aufzeigt, wie der Nationalsozialismus in Deutschland möglich wurde und wie er hätte verhindert werden können. Er argumentiert normativ und kategorisch, es gibt nur ein klares Entweder-Oder. Da ihn die Sinnhaftigkeit unserer Existenz und unseres Handelns interessiert, sieht er das Betreiben von Zeitgeschichte in den 1960er-Jahren als ein empirisch-positivistisches Feigenblatt, das dazu dient, Vergangenheit gerade nicht zu bewältigen. Heer dagegen, der Zeithistoriker, politisch eher links stehend, hält Werte für interessegeleitet, und Ordnungen interessieren ihn nicht. Er betreibt Zeitgeschichte mal essayistisch, mal empirisch, durchforstet Literatur, Film und Archive, um seine Kontrahenten des „Hitlerismus“ zu überführen und Belege für dessen Unhaltbarkeit zu erbringen. Seine Begrifflichkeit ist deskriptiv, er interpretiert eher als dass er kategorisiert, für ihn gilt auch ein Mehr-Oder-Weniger.

Wie Subtexte durchziehen beide Bücher biografische Kränkungen. Voegelin emigrierte 1938 aus Wien in die USA und brach mit Vater und Schwester, die er nie mehr wiedersah, weil sie den Nationalsozialismus unterstützt hatten.1 Heer war treibende Kraft der ersten Ausstellung über die „Verbrechen der Wehrmacht“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die zurückgezogen und neu konzipiert wurde, was ihn seine Anstellung kostete. Voegelin schreibt aus einer etablierten Position als Wissenschaftler, Heer ist der Außenseiter. Beide klären auf und setzen sich mit dem bildungsbürgerlichen Establishment auseinander. Voegelins Buch ist bitterer, es ist durchaus von Rechthaberei und Arroganz durchzogen. Heers Buch ist, trotz aller Polemik, im Ton und in den Schlussfolgerungen moderater.

Doch nun zu den einzelnen Büchern. Voegelins Herangehensweise ähnelt der eines Fotografen. Er sammelt Momentaufnahmen, zunächst aus seiner Gegenwart, später auch aus der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Solche Momentaufnahmen beziehen sich etwa auf den Essay „Anatomie eines Diktators“ des bekannten Göttinger Mittelalterhistorikers Percy Ernst Schramm, auf die Stellung der evangelischen und katholischen Kirche zum Nationalsozialismus und auf die Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus in den Kriegsverbrecherprozessen. Diese Momentaufnahmen nimmt Voegelin mit in sein „Labor“ und taucht sie dort in eine Lösung, bestehend aus dem Kern der westlichen Zivilisation: Antike, Christentum und Aufklärung, ergänzt durch ein Politikverständnis, das am pragmatisch handelnden Menschen (Staat) und seiner Fähigkeit, Kompromisse zu schließen (Demokratie), orientiert ist, sowie an der Sprach- und Gesellschaftskritik der ihn prägenden österreichischen Literatur (Musil, Doderer, vor allem aber Karl Kraus). Heraus kommen Bilder vom Geisteszustand eines Volkes von seltener Klarheit und Schärfe.

An der Momentaufnahme zu Percy Ernst Schramms Hitler-Essay sollen die Stärken und Schwächen des Buches von Voegelin aufgezeigt werden. Der Essay Schramms wurde der deutschen Ausgabe von Hitlers „Tischgesprächen“ vorangestellt und erschien zudem als Vorabdruck in einer Spiegel-Serie. Voegelin seziert ihn sowie die Reaktion darauf in den Feuilletons und Leserbriefspalten der Presse. Dabei identifiziert er das so genannte „Buttermelcher-Syndrom“, benannt nach der Straße eines Leserbriefschreibers. Die Konklusion dieses in seiner Argumentation an einen Aristotelischen Syllogismus erinnernde „Buttermelcher-Syndrom“ lässt Voegelin im Verlaufe seiner Vorlesungen nicht mehr los. Es lautet: Wenn Hitler dumm und verbrecherisch war und von weiten Teilen der Bevölkerung gewählt und legitimiert wurde, dann müsse die Bevölkerung auch in weiten Teilen dumm und verbrecherisch gewesen sein. Das sei aber nicht möglich, denn wer bezeichne sich selbst gern als dumm und verbrecherisch? Also war Hitler es auch nicht.

Das Verwerfliche einer solchen Haltung leitet Voegelin aus einer Begrifflichkeit ab, die sich im Gegensatz zu Deutschland eher in den westlichen Demokratien durchgesetzt und bewahrt habe. Gebrandmarkt wird also ein ideengeschichtlich fixierter Sonderweg, der mit der Romantik und dem Deutschen Idealismus eingesetzt habe. Exemplarisch soll hier kurz die Ableitung zum Menschenbild referiert werden. Seit der klassischen Periode in Griechenland sei der Mensch das Wesen, das offen sei für Gottes Wort. Zwei Modi konstituierten das von Gott geprägte Menschsein: Vernunft und Geist. Übereinstimmung bestehe hier, dass der Mensch nicht aus sich selbst heraus existiere, sondern in einer bereits existierenden Welt. Diese Welt sei ein Mysterium, das von Gott geschaffen wurde, und der Mensch erfahre seine Würde durch die Teilhabe am Göttlichen, die Ebenbildlichkeit (Theomorphie). Aus diesem Menschenbild könnten bestimmte Primärtugenden hergeleitet werden. Voegelin bezieht sich hier auf Carl Amerys bekannte Analyse des deutschen „Anstandes“, der nur aus einem Strauß von Sekundärtugenden bestehe, die auf ein Ziel gerichtet sein müssen.

Eine Entgöttlichung, also ein Ausbrechen aus diesem Zusammenhang, führe logischerweise zu einer Entmenschlichung. Voegelin hält es für eine charakteristisch deutsche, aus der Romantik stammende Hybris, den Menschen für den Schöpfer der Welt zu halten. Dazu zitiert er Novalis: „Die Welt soll sein, wie ich es will“ (S. 86). Um das Versagen der Deutschen aufzuzeigen, beruft sich Voegelin auf Aristoteles, der drei Typen von Menschen unterschieden habe: 1. Menschen, die Autorität besäßen und sich von der Vernunft leiten ließen. 2. Menschen, die lernfähig seien. 3. Sklaven von Natur. Diese „Sklaven von Natur“, die in einer krisenhaften Situation nicht genug Vernunft besäßen, um auf Vernunftbegabte zu hören, finde man nicht nur in der Unterschicht, auch wenn Voegelin hierfür den Ausdruck „Gesindel“ vorschlägt. Weite Teile der deutschen Funktionseliten und des Bildungsbürgertums nach 1933 hätten zu einem solchen „Gesindel“ gehört. Spätestens nach der Machtergreifung und dem Ermächtigungsgesetz hätte man mit Voegelins Kronzeugen Karl Kraus erkennen müssen, was es mit dem Nationalsozialismus auf sich habe.

An dieser Stelle kommt freilich das Kategorische und Undifferenzierte der Argumentation Voegelins zum Ausdruck, werden doch alle, die auf Hitler „hereingefallen“ sind, über einen Leisten geschlagen. Solche gradlinigen Schlussfolgerungen trüben die an sich gewinnbringende Lektüre. Auch sprachkritische Passagen im Stile Karl Kraus’ ermüden auf die Dauer eher als dass sie neue Einsichten vermitteln. Man fragt sich, welchen Ertrag es bringt, anderen Autoren eine mangelnde Beherrschung der deutschen Sprache vorzuwerfen oder einzelne Sätze aus Percy Ernst Schramms Essay im Hinblick auf verunglückte Metaphorik und falsche Relativanschlüsse auseinander zu nehmen.

Heers Buch wirkt gegenüber solch scharfen Abrechnungen beinahe „harmonisch“. Er beansprucht, sich mit den konstruierten Mythologien der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen, seien diese im klassischen Medium der Schrift oder in Bilderwelten zu finden. Heers Antipoden sind hier Filme wie „Der Untergang“ von Oliver Hirschbiegel und Bernd Eichinger, „Hitler – eine Karriere“ von Joachim Fest und die Fernsehdokumentationen von Guido Knopp, insbesondere die Staffel zu „Hitlers Helfer“. Im Medium der Schrift befasst sich Heer wiederum mit Joachim Fest als Publizist und Zeithistoriker und mit dem Institut für Zeitgeschichte in München als vermeintlichen „Retter“ der Wehrmacht. Unterbrochen werden die Kapitel des Buches von so genannten „Gegenreden“, die eine anders denkbare Sichtweise auf den Nationalsozialismus durchscheinen lassen. Diese insgesamt drei Gegenreden sind sehr unterschiedlich angelegt. Dietrich Bonhoeffers Analyse des Nationalsozialismus und der Rolle des Bürgertums folgt als weitere Gegenrede ein interessantes Kapitel über den „Boom“ des Familienromans in der deutschen Gegenwartsliteratur und dessen Sichtweise auf den Nationalsozialismus. Eine letzte Gegenrede schließt direkt an die Auseinandersetzungen um die erste Wehrmachtsausstellung an. Diese wurde vom Hamburger Institut für Sozialforschung zurückgezogen, weil einzelne Bilder von Kriegsverbrechen falsch zugeordnet wurden. Konkret ging es um die Wochen unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion, als deutsche Truppen, Einsatzgruppen und nationalistische Gruppen der Ukrainer in sowjetischen Gefängnissen Leichenberge entdeckten. Heer bemüht sich am Beispiel von Lvov (Lemberg), etwas mehr Klarheit in die Verantwortlichkeiten dieser äußerst komplizierten Situation zu bringen, indem er die Beteilung der Wehrmacht näher analysiert.

Auch wenn die Teile des Buches, die sich mit Film und Fernsehen beschäftigen, sich als die Schwächeren des Buches erweisen, zeigen sie doch, wie stark die Deutungshoheit über den Nationalsozialismus heute multimedial umkämpft ist. Bei der Entlarvung dieser Geschichtsbilder werden freilich Probleme der Herangehensweise Heers deutlich. Statt einer film- oder fernsehwissenschaftlich orientierten Sequenzanalyse – immerhin ist Heer im Klappentext durch seine „Arbeit als Dramaturg und Filmregisseur“ ausgewiesen – werden Bilderfolgen beschrieben und hinlänglich bekannte Aussagen der Produzenten referiert – Voegelins exemplarische Detailanalysen sind hier den zusammenfassenden Beschreibungen Heers deutlich überlegen. So verkennt Heer beispielsweise die Verfremdungseffekte in Fests Hitlerfilm, die dadurch entstehen, dass montierte Originalaufnahmen mit einem im Heideggerschen Duktus entrückt raunenden Kommentar aus dem Off unterlegt werden. Der Film, vom Standpunkt des Historikers aus betrachtet durchaus banal und inhaltlich problematisch, gewinnt so eine eigentümliche ästhetische Qualität, die, wäre Fest konsequenter gewesen, seinen Film in die Nähe des Experimentalfilms gerückt hätte. „Der Untergang“ wählt demgegenüber den umgekehrten Weg. Als Melodram eines verdichteten Ausschnitts konzipiert, das seine Figuren allzu ernst nimmt, versucht er sich seinem Gegenstand möglichst authentisch und ohne Verfremdungen zu nähern. Heer verkennt dies, wenn er den Figuren mit der Messlatte des Historikers Geschichtslosigkeit attestiert und dem Film vorwirft, den Nationalsozialismus als Tragödie zu inszenieren. Voegelin dagegen hat in einer seiner begrifflichen Ableitungen zur „Dummheit“ überzeugend nachgewiesen, dass die Verarbeitungsform des Nationalsozialismus nicht die Tragödie, sondern die Burleske sei. Heer entgehen deshalb die vielen ungewollt komischen und grotesken Elemente dieses Films, so etwa in Bruno Ganz’ Hitlerdarstellung.

Stärker greift die Kritik Heers im Medium der Schrift. Insbesondere die Seiten über das Verhältnis von Joachim Fest zu Albert Speer sind eine aufregende Lektüre. Die beiden kannten sich seit Ende der 1960er-Jahre persönlich, als Fest Speer bei der Abfassung seiner Erinnerungen zur Hand ging. Schon damals ließ sich Speer in einem zweifelhaften Licht darstellen, weil es bereits Hinweise auf eine stärkere Beteiligung Speers an den Naziverbrechen gab, die Autobiografie jedoch über den Kenntnisstand des Nürnberger Prozesses nicht hinausging. Als neue, erdrückende Belege für Speers Beteiligung auftauchten, geriet Fests Bild vom „Künstler-Techniker“, der zwar Hitlers Komplize wurde, aber bis zuletzt „seine persönliche Integrität gewahrt habe“ (S. 78), ins Wanken. Statt sein Bild von Speer zu revidieren, der Fehler inzwischen selbst eingestand, ging Fest in die Vorwärtsverteidigung und polemisierte gegen seine Kritiker. Für Voegelin wäre das ein klarer Fall von „intelligenter Dummheit“, denn es mangelte Fest demnach nicht an Verstand, sondern an Geist.

Eine weitere Auseinandersetzung führt Heer mit dem Institut für Zeitgeschichte in München. Hierbei geht es um sein Spezialgebiet: die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Christoph Hartmann hatte in einem längeren Aufsatz eine neue, auf einer räumlichen Unterscheidung (Gefechtszone, rückwärtiges Armeegebiet, rückwärtiges Heeresgebiet, Zivilverwaltung) und auf das Jahr 1943 beruhende Entlastungsstrategie für die Wehrmacht im Ostkrieg dargelegt. Wenn Heer diese Argumentation Punkt für Punkt widerlegt und am Beispiel der Heeresgruppe Mitte deren Verstrickung in Kriegsverbrechen aufzeigt, spüren die Leser/innen sofort, dass er hier in seinem Element ist.

Ein Fazit: Drückt sich in diesen beiden kontroversen Büchern, denen man einen Leser/innenkreis wünscht, der über professionell mit der Geschichte Befasste hinausgeht, die viel beschworene unbewältigte Vergangenheit aus? Um noch einmal eine der erhellenden Unterscheidungen Voegelins zu bemühen: Nein, denn eine unbewältigte Vergangenheit gibt es nicht, nur unbewältigte Gegenwart. Misstrauen und Wachsamkeit sind gegenüber denjenigen, die den „Hitlerismus“ wieder hoffähig machen wollen, angebracht. Hier spielt das politisch unbedarfte deutsche Bildungsbürgertum wieder mit dem Feuer.

Anmerkung:
1 Diese Information ist der sehr instruktiven Editions- und Veröffentlichungsgeschichte entnommen, die der Herausgeber und Voegelin-Assistent Manfred von Hennigsen dem Buch voranstellt.

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