S. van de Kerkhof: Von der Friedens-zur Kriegswirtschaft

Titel
Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft. Unternehmensstrategien der deutschen Eisen- und Stahlindustrie vom Kaiserreich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges


Autor(en)
van de Kerkhof, Stefanie
Reihe
Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 15
Erschienen
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roman Rossfeld, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Während zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte des Nationalsozialismus gerade in den letzten Jahren eine Anzahl wichtiger Studien erschienen ist – erinnert sei hier nur an die umfangreichen Arbeiten zur Deutschen Bank, der Dresdner Bank oder Volkswagen1 – sind vergleichbare Arbeiten zum Ersten Weltkrieg immer noch Mangelware. Die 2003 an der Universität zu Köln entstandene Dissertation von Stefanie van de Kerkhof zu den Unternehmensstrategien der deutschen Eisen- und Stahlindustrie vom Kaiserreich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges stellt eine der wenigen Ausnahmen dar. Die Untersuchung einer der größten und kriegswichtigen Branchen der deutschen Wirtschaft von 1870 - 1918 ist nicht zuletzt auch deshalb interessant, weil die Erfahrungen und Probleme im Ersten Weltkrieg auch Einfluss auf die Organisation der Kriegswirtschaft und Demobilmachung im Zweiten Weltkrieg hatten.

Ausgehend von einer begriffsgeschichtlichen Diskussion der strategischen Unternehmensführung und der Vorstellung verschiedener Konzepte des „strategischen Managements“, in der auf die enge Verbindung des militärischen und wirtschaftswissenschaftlichen Strategiebegriffs verwiesen wird, geht van de Kerkhof der Frage nach, „welche Unternehmensstrategien in dieser kriegswirtschaftlich enorm bedeutenden Branche von individuellen und institutionellen Akteuren verfolgt wurden, um verschiedene lang- und mittelfristige Ziele zu realisieren“ (S. 13) und ob „ein Wechsel der normativen Unternehmensstrategien nach dem Kriegsbeginn im August 1914 vorgenommen wurde“ (S. 68). Wie also veränderten sich die Unternehmensstrategien in einer Zeit großer Unsicherheit und zunehmender staatlicher Eingriffe, und war eine strategische Planung im Krieg überhaupt noch möglich, oder beschränkten sich die Unternehmen auf kurzfristige Maßnahmen, ein an die jeweilige Situation angepasstes „muddling through“? Zur Beantwortung dieser Fragen werden anhand von Einzelakteuren und deren Netzwerken die „jeweiligen Interessenlagen, Handlungsspielräume und möglichen Strategien“ (S. 15) von Unternehmern und Managern der deutschen Eisen- und Stahlindustrie von 1870 - 1918 untersucht. Die Arbeit basiert dabei im Wesentlichen auf den Quellenbeständen verschiedener staatlicher Archive, den Unternehmensarchiven von Mannesmann, Krupp und Thyssen, Artikeln aus der Zeitschrift „Stahl und Eisen“ sowie Denkschriften, Aufsätzen, Briefen und Nachlässen bekannter Unternehmer.

Am Beispiel der vier um 1914 größten Montanregionen (Rheinland-Westfalen, dem Saarland, Oberschlesien und der grenzüberschreitenden Minetteregion Elsass-Lothringen-Luxemburg) sowie mehrerer größerer und kleinerer Unternehmen – hauptsächlich jedoch am Beispiel von Krupp, Thyssen, der Vereinigten Königs- und Laurahütte sowie der Gutehoffnungshütte – werden zunächst für das Kaiserreich und danach für die Kriegswirtschaft fünf für die Unternehmen zentrale Strategien und ihre Veränderungen durch den Krieg untersucht. Im Fokus stehen dabei die schon vor dem Krieg wichtigen und miteinander verschränkten Bereiche Wachstum, Internationalisierung, Beschaffung, Absatz und verschiedene Rahmenordnungsstrategien (das heißt die Rolle einzelner Akteure und Verbände).2

Van de Kerkhof konstatiert zunächst einen schon vor dem Ersten Weltkrieg – und für die Beurteilung der Unternehmensstrategien in der Kriegswirtschaft wichtigen – reifen Markt in der Eisen- und Stahlindustrie, der durch steigende Überkapazitäten, hohe Fixkosten, sinkende Verkaufspreise und hohe Austrittsbarrieren durch kapitalintensive technologische Innovationen geprägt war. Diese Marktsituation spielte gemäß van de Kerkhof weitgehend unabhängig von Krieg und Frieden eine entscheidende Rolle für die Ausbildung von Unternehmensstrategien. Ohne hier auf die Details zur Entwicklung der einzelnen Strategien einzugehen, kommt sie entgegen der Vorstellung eines «organisierten Kapitalismus» zum Schluss, dass die Kriegswirtschaft angesichts zahlreicher Akteure und unterschiedlicher Interessen vor allem durch das „polykratische Chaos“ (S. 234) der Bewirtschaftung geprägt gewesen sei. Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft (bzw. zahlreichen Interessenverbänden) beschreibt sie als „pluralistischen Korporatismus“ mit entsprechenden Handlungsspielräumen für die Unternehmen. Insgesamt kommt van de Kerkhof zum Ergebnis, dass die verschiedenen Unternehmensstrategien im gesamten Untersuchungszeitraum durch große Kontinuität geprägt gewesen seien und die Kriegswirtschaft trotz Großprojekten wie dem Hindenburg-Programm oder dem Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst nur teilweise Einfluss auf die Marktmechanismen und Preise hatte. Alle Strategien waren auch im Krieg auf die Gewinnung von Wettbewerbsvorteilen und die Steigerung der Gewinne ausgerichtet, und die Expansionstendenzen der Vorkriegszeit setzten sich nicht nur bei Krupp auch in der Kriegszeit fort, zum Teil allerdings in veränderter, staatlich stärker gelenkter Form (und der Beteiligung an Annexionen). Von einem freien Markt konnte gemäß van de Kerkhof angesichts zahlreicher Marktabsprachen durch die Eisen- und Stahlkartelle schon vor dem Ersten Weltkrieg keine Rede mehr sein. Interessant – und den Ergebnissen der Arbeiten von Achim Hopbach und Regina Roth entsprechend – ist aber auch das kaum oder nur teilweise von Patriotismus geprägte, ausgesprochen pragmatische Verhalten der Unternehmer im Krieg. Staatliche Interessen wurden „nur im Falle von gleichgearteten eigenen Zielen“ (S. 415) verfolgt, und die Unternehmen planten schon früh für den „Krieg nach dem Krieg“ (S. 417) und waren sich bewusst, dass die langfristige strategische Planung über den Krieg hinausgehen musste.3

Insgesamt legt van de Kerkhof eine klar strukturierte, detailreiche Studie zur deutschen Eisen- und Stahlindustrie von 1870 - 1918 vor, deren Leistung insbesondere in der Betonung von Pfadabhängigkeiten im Übergang von der Friedens- zur Kriegswirtschaft liegt. Angesichts der fortschreitenden Rohstoffknappheit und Mangelwirtschaft sowie der schon durch die Blockade der Alliierten deutlich veränderten Absatzmärkte überzeugt die von van de Kerkhof betonte Kontinuität der Entwicklung allerdings nicht an allen Stellen. Vielen Unternehmen war darüber hinaus vermutlich schon während oder zumindest gegen Ende des Krieges klar, dass sich die wirtschaftliche Lage angesichts geopolitischer Umwälzungen, neuer Grenzen und Marktverschiebungen nach dem Krieg noch einmal deutlich verändern würde. Es muss deshalb auch die Anschlussfrage gestellt werden, inwieweit nach dem Krieg (erneut) eine Zäsur in den Unternehmensstrategien eintrat und für eine Beurteilung des unternehmerischen Verhaltens im Krieg auch die Jahre bis zur Überwindung der Hyperinflation und der Stabilisierung der deutschen Wirtschaft stärker mit einbezogen werden müssten. Interessant wäre es auch, parallel zu den fünf untersuchten Strategien gerade in der Eisen- und Stahlindustrie noch mehr über die Produkt- und Technologieentwicklung, die Bedeutung von Forschung und Entwicklung und das Verhältnis von Krieg und Innovationsdynamik zu erfahren. In anderen Branchen – wie zum Beispiel der chemischen Industrie – wurden gerade im Krieg große Fortschritte erzielt. 4 Für die Leser/innen wäre es auch hilfreich gewesen, wenn die zahlreichen Diagramme jeweils den gesamten Untersuchungszeitraum (und nicht nur die Kriegs- oder Vorkriegsjahre) umfasst hätten. Über diese Arbeit hinausgehend stellt sich schließlich die Frage, inwieweit andere (im Vergleich noch deutlich schlechter untersuchte) Branchen stärker von staatlichen Maßnahmen tangiert wurden als diese für den Kriegsverlauf und damit auch die Politik wichtige Industrie. Ein über die Eisen- und Stahlindustrie hinausgehender Vergleich mit weniger kriegswichtigen Branchen und kleineren Unternehmen würde – nicht nur mit Blick auf die Strategiebildung – vielleicht zu anderen Ergebnissen gelangen.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu exemplarisch: Gall, Lothar et al., Die Deutsche Bank: 1870–1995, Frankfurt am Main 1995; Mommsen, Hans; Grieger, Manfred, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996 sowie Henke, Klaus-Dietmar (Hg.), Die Dresdner Bank im Dritten Reich, München 2006.
2 Explizit nicht thematisiert wird der bereits von Christian Kleinschmidt in seiner Dissertation untersuchte Bereich der Rationalisierung von Unternehmen im Krieg. Vgl. dazu: Kleinschmidt, Christian, Rationalisierung als Unternehmensstrategie. Die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebietes zwischen Jahrhundertwende und Weltwirtschaftskrise, Essen 1993.
3 Vgl. dazu: Hopbach, Achim, Unternehmer im Ersten Weltkrieg. Einstellungen und Verhalten württembergischer Industrieller im „Großen Krieg“, Leinfelden-Echterdingen 1998 und: Roth, Regina, Staat und Wirtschaft im Ersten Weltkrieg. Kriegsgesellschaften als kriegswirtschaftliche Steuerungsinstrumente, Berlin 1997.
4 Zur chemischen Industrie vgl. exemplarisch: Johnson, Jeffrey Allan, Von Oppau nach Leuna: Die Ammoniaksynthese und der Krieg (1912–1918), in: Abelshauser, Werner (Hg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002, S. 158–188 .

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