Cover
Titel
The War of the World. History's Age of Hatred


Autor(en)
Ferguson, Niall
Erschienen
London 2006: Penguin Books
Anzahl Seiten
746 S.
Preis
£ 25.-
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Thomas Kühne Strassler Family Center for Holocaust and Genocide Studies, Clarke University

Niall Ferguson ist einer der profiliertesten revisionistischen britischen Historiker der mittleren Generation. Seit einiger Zeit in Harvard lehrend, schafft er es, alle ein bis zwei Jahre ein dickes und meist glänzend geschriebenes Buch zu publizieren und nebenher noch regelmäßig in Talkshows aufzutreten und politische Kolumnen zu diversen Tageszeitungen beizusteuern. Der britische Journalist Peter Wilby hat Ferguson mit gutem Grund zum „derzeit praktisch einzigen wirklich lesenswerten Kolumnisten des rechten Lagers“1 erkoren, und das „Time Magazine“ rechnet ihn sogar unter die 100 einflussreichsten Persönlichkeiten auf der Welt. Dass ein solches Image und solche Popularität unter Fachkollegen Neid auslösen, braucht nicht zu verwundern.

Auch „The War of the World“ ist im massenmedialen Kontext entstanden – als Begleitbuch zu einer Serie im britischen Channel Four. Es ist ein populärwissenschaftliches Buch, das als solches beurteilt werden will. Es bietet keine originäre Quellenarbeit, sondern bezieht seine Qualität aus einer lebendigen Darstellung, die mit vielen, nicht immer bekannten Quellenzitaten gespeist ist, und aus der im großen und ganzen durchaus beeindruckenden Forschungssynthese. Aber es tritt auch mit dem wissenschaftlichen Anspruch auf eine originelle Erklärung auf.

Die Frage, die es zu beantworten sucht, ist eine oft gestellte: Warum war das 20. Jahrhundert das Blutigste der Geschichte? Warum kam es gerade im 20. Jahrhundert, im Zenit westlicher Modernität und Zivilisation, und ausgerechnet da, wo sie entstanden ist, in Europa, zu den grausamsten Formen und zur größten Verbreitung kriegerischer und genozidialer Gewalt? Die Antwort liegt im explosiven Gemisch von drei Faktoren: ethnische Konflikte, wirtschaftliche Unsicherheit und der Niedergang von Imperien. Der erste Faktor so universell verbreitet, dass er allein als Erklärung nicht ausreicht. Ethnische oder rassische Differenzwahrnehmung war lange vor dem 20. Jahrhundert Auslöser von Massakern und Barbarei. Im 20. Jahrhundert jedoch kam, besonders in dem Raum von Ostmitteleuropa bis zum Kaspischen Meer, etwas Neues hinzu. Weit fortgeschrittene Assimilationsprozesse wurden einerseits durch die Verbreitung genetischer Theorien über Rassenunterschiede, andererseits durch die politische Fragmentierung von Grenzlandgebieten mit gemischter Bevölkerung in Frage gestellt. Damit aus traditionellen Pogromen moderne Genozide und Politizide wurden, bedurfte es jedoch noch mehr. Lenins wie Schumpeters Beobachtungen zur sozialen Destruktivität des Kapitalismus aufgreifend, misst Ferguson wirtschaftlicher Unsicherheit und Verunsicherung große Bedeutung als Ursachen politischer, hier eben ethnisch-rassischer Turbulenzen zu. Wenn Absatzmärkte wegbrechen oder neue Zollschranken alte Handelsgebiete zerteilen, Entwurzlung, Verarmung, Arbeitslosigkeit und neue Konkurrenz drohen, braucht es Sündenböcke. Solchermaßen aufkommende Unzufriedenheit wurde jedoch lange Zeit durch staatliche Agenturen, Polizei oder Militär, in Schach gehalten oder zumindest begrenzt. Die großen Katastrophen brachen an, als während und im Gefolge des Ersten Weltkrieges die vier großen multiethnischen Imperien – das der Osmanen, der Habsburger, der Hohenzollern und der Romanoffs – kollabierten. Analog erklärt sich, Ferguson zufolge, massenhafte, extreme Gewalt auch in anderen Regionen der Erde: nämlich als Folge der Auflösung der Kolonialreiche, die der Autor zumal in Ostasien beleuchtet.

Die Verknüpfung dieser drei Faktoren – Kultur, Wirtschaft und Politik – gelingt Ferguson besonders für die Zeit um den Ersten Weltkrieg herum auf eindringliche und überzeugende Weise. Die erste Hälfte des Buches – zwei von vier Hauptteilen – beschäftigt sich damit. Der Rest des Buches flacht dagegen deutlich ab. Die zweite Hälfte der Darstellung behandelt die totalen Kriege und Völkermorde Deutschlands, der Sowjetunion und der Japans in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Zweifelsfrei setzten sich dabei Obsessionen rassisch-ethnischer Vermischung fort, und ebenso waren alle drei Herrschaftssysteme von wirtschaftlicher Unsicherheit geprägt. Aber die Erklärungsformel vom niedergehenden Imperium greift zu kurz. Im Gegenteil – wirkungsmächtig wurde nun die Utopie, die große Vision von nationaler Blüte, von kollektiver Macht und wirtschaftlichem Glanz, die nur durch rassisch-ethnische Homogenität erreicht werden könne. Es ist dieser dezidiert „positive“, das heißt utopische Impetus, der sowohl dem nationalsozialistischen wie dem stalinistischen wie auch dem japanischen Terror gegen die „Anderen“ seine Schubkraft verliehen hat. Eric Weitz’ glänzender und viel beachteter Aufriss der Genozide des 20. Jahrhunderts als einer Geschichte der Utopien von Rasse und Nation ist bei Ferguson nicht einmal im Literaturverzeichnis erwähnt.2

Ferguson verliert in der zweiten Hälfte des Buches, die doch die Kulmination der Barbarei im 20. Jahrhundert behandelt, seinen eigenen multiperspektivischen Ansatz aus den Augen. Die Darstellung gerinnt auf weite Strecken zu einem mehr schlecht als recht verbundenen Referat von Grausamkeiten, im Grunde aber ist ihr Thema gar nicht mehr die kriegerische und genozidiale Gewalt, sondern die Frage, wie sie hätte verhindert, und die These, dass sie hätte verhindert werden können. Drei Kapitel (Nr. 8-10, von insgesamt 16) analysieren in der Mitte des Buches in globaler, auch Ostasien einbeziehender Perspektive die letztlich fatale Appeasementpolitik der 1930er-Jahre. Ferguson bucht sie auf das Konto der Briten und generell auf die Uneinigkeit der Westmächte und die ökonomische Kurzsichtigkeit im Gefolge der Weltwirtschaftskrise. Der Erzählduktus folgt hier ganz dem Stil der klassischen Diplomatiegeschichte, die jede überlieferte Politikeräußerung zitiert und noch mal paraphrasiert, so redundant sie auch sein mag, um zu belegen, wie zumal die verantwortlichen britischen Politiker vor der Notwendigkeit der rechtzeitigen militärischen Intervention gegen Hitlers Deutschland die Augen verschlossen haben. An einer Selle schwenkt die Erzählung denn auch vom nüchternen Präteritum ins moralische Präsens und beantwortet die Kernfrage des Buches, die der Untertitel der deutschen Übersetzung weitaus klarer als die englische Originalausgabe artikuliert: „Was ging schief im 20. Jahrhundert?“ 3 Das „Worst-Case-Szenario“ – ein Angriff der Achsenmächte gegen das britische Empire – „wurde von den meisten Entscheidungsträgern verdrängt, was eine grobe Fahrlässigkeit darstellte, denn Politiker sind gegenüber den Menschen, die sie repräsentieren, moralisch verpflichtet, regelmäßig über die schlimmste mögliche Entwicklung nachzudenken, deren Wahrscheinlichkeit und Kosten zu bestimmen und dann entsprechende Vorsorge zu treffen, dass sie nicht eintritt. Dies haben sowohl Baldwin als auch Chamberlain versäumt – was angesichts ihrer persönlichen Erfahrungen in der Wirtschaft eine Ironie darstellt: Eine ganze ‚Nation von Krämern’ lehnte es ab, sich gegen eine Gefahr abzusichern, die ebenso groß wie wahrscheinlich war.“ (S. 436 in der deutschen, S. 333f. in der englischen Ausgabe.)

Die Kapitel über die Appeasementpolitik lesen sich auf weite Strecken wie eine Parabel auf die gegenwärtige Konfrontation zwischen den westlichen Demokratien und der islamistischen Bewegung im Nahen Osten. Ferguson hat in anderen Büchern und bei anderen Gelegenheiten nachdrücklich für eine interventionistische Außenpolitik der USA als legitimer Nachfolgerin des britischen „Liberal Empire“ argumentiert, er hat 2003 die Invasion der USA im Irak befürwortet, sich 2004 allerdings gegen Bushs Wiederwahl ausgesprochen 4 – und ist im übrigen hinreichend professioneller Historiker, um zu wissen, dass sich aus der Geschichte keine direkten Handlungsanweisungen für die Gegenwart gewinnen lassen und daher auch eine simple Parallele zwischen der Außenpolitik der Westmächte der 1930er-Jahre und heute obsolet ist. Solche Schlussfolgerungen bleiben den Leser/innen überlassen (oder auch nicht).

Den Beginn des „Zeitalters des Hasses“ datiert Ferguson in das Jahr 1904, nicht weil da das deutsche Militär in Deutsch-Südwestafrika den Stamm der Herero auslöschte (diesem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts widmet Ferguson erstaunlich wenig Aufmerksamkeit), sondern weil Japan den ersten Schlag gegen die Vorherrschaft der Europäer in Asien führte. Das andere Eckdatum der Darstellung ist der Koreakrieg, dessen Ende 1953 die globale Dimension des Kalten Krieges zementierte. Das „Zeitalter des Hasses“ und der Völkermorde war damit längst nicht beendet, aber es wäre sicher legitim und sinnvoll gewesen, das Buch hier enden zu lassen. Stattdessen folgt ein kurzer Nachklapp, der im Schnelldurchgang die gescheiterten Interventionen der USA in Lateinamerika, den Aufstieg Chinas und schließlich die genozidialen Kriege im ehemaligen Jugoslawien abhandelt. Damit kann das Buch den Anspruch einlösen, das ganze 20. Jahrhundert ins Blickfeld zu nehmen. Vor allem aber kann es so noch ein populäres Szenarium anheften: das vom säkularen Niedergang des Westens und dem Aufstieg Asiens. Die angesichts der Ausgangsthese vom fatalen Ineinanderwirken von ethnischem Konflikt, wirtschaftlicher Unsicherheit und niedergehen Imperien sich aufdrängende Frage, was der Niedergang des Westens und damit des amerikanischen Empires im Hinblick auf ethnische Konflikte, aber auch etwa die Entgrenzung militärischer Gewalt bedeutet, wird nicht mehr diskutiert. Man darf auf das nächste Buch dieses Autors gespannt sein. Er zählt, trotz aller Einwände, zu den anregendsten politisierenden Historikern. Schade, dass es so wenige davon gibt.

Anmerkungen:
1 >http://www.newstatesman.com/200603200005< (14. Januar 2007).
2 Weitz, Eric D., A Century of Genocide. Utopias of Race and Nation, Princeton 2003.
3 Ferguson, Niall, Krieg der Welt. Was ging schief im 20. Jahrhundert? Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt und Klaus Binder, Berlin 2006.
4 >http://www.opinionjournal.com/extra/?id=110005540< (14. Januar 2007).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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